Kitabı oku: «Das Konzerthaus», sayfa 6

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II. Kalenderwoche 50/51 2015

Kapitel 1

Wilma

„Was für ein atemberaubender Ausblick“, schwärmte Anne Fliege-Schulz und setzte sich mit einem eleganten Hüftschwung an einen der an dem bodentiefen Fenster stehenden Tische der Skyline Bar „20up“. Von ihrer Stadt verzaubert, schaute sie auf die Elbe, den alten Elbtunnel, die Landungsbrücken und die vielen Lichter des Hafens, an denen sie sich nicht sattsehen konnte. Fliege-Schulz nahm die Hand ihres Mannes und küsste sie. Lars Schulz war Brillenträger, Rechtsanwalt und einer dieser Advokaten, die sich wichtiger nahmen als ihr Mandat. Damit war ihn betreffend eigentlich schon alles gesagt. Sein Blick schweifte durch die Bar, die sich ihm in vielen bunt beleuchteten Flaschen präsentierte.

Er zog seine Hand zurück und konfrontierte seine Frau. „Anne, ich weiß, du betrügst mich!“

Fliege-Schulz griff nach ihrer Handtasche und versuchte, Zeit zu gewinnen. Genau das hatte sie immer befürchtet, und ausgerechnet jetzt war sie nicht vorbereitet. Eine Hitzewelle stieg in ihr hoch und schien ihren Schädel zum Kochen zu bringen.

„Wie kommst du darauf?“, stammelte sie seinem Blick ausweichend und kramte in ihrer Handtasche.

„Du fickst mit diesem Architekten, diesem Albert Berend. Und komm erst gar nicht auf die Idee, alles zu bestreiten.“

„Schatz, ich könnte dich niemals betrügen!“

Schulz bückte sich, griff zu seiner kleinen Aktentasche und zog knisternd einen braunen DIN-A4-Umschlag hervor. Wortlos legte er ihn auf den Tisch. Als sich ihre Blicke trafen, zog er seine rechte Augenbraue derart in die Höhe, als wollte er die Torbögen der Alsterarkarden nachzeichnen.

„Hör auf zu leugnen“, herrschte er sie an, und seine Stimme war so schneidend wie ein frisch gewetztes Messer. „Ich lass mir keine Hörner aufsetzen, und ganz bestimmt nicht von dir. Wirf einen Blick in den Umschlag und lass uns lieber darüber reden, wann du unser Haus verlässt. Sonntag bist du verschwunden. Du hast also ein paar Tage, um deine Sachen zu packen. Das dürfte reichen.“

Fliege-Schulz schluckte. Nun sind meine Befürchtungen eingetreten, dachte sie verzweifelt und starrte auf den Umschlag. Sie fürchtete sich vor dem, was sie sehen könnte.

Nacktbilder? Andere kompromittierende Situationen? In ihrem Kopf kreiste alles durcheinander. Eine Trennung wollte sie auf keinen Fall, schon gar nicht nach dem Streit mit Albert. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Reiß dich zusammen, dachte sie und versuchte, die Situation zu beherrschen.

Schweigend saßen sie sich eine Weile gegenüber, bis Fliege-Schulz den braunen, verschlossenen Umschlag in die Hand nahm. Sie zögerte einen Moment, riss ihn auf, griff hinein und zog die Hochglanzbilder heraus. Dabei vermied sie es, ihren Mann anzuschauen, und hoffte, möglichst gelassen auszusehen. Sie spürte seinen durchdringenden, intensiven Blick und bereute zum ersten Mal ihren Sprung auf die andere Seite. Ihr Mann prüfte ihre Gesichtsregungen eingehend, aber er konnte sie nicht lesen. In ihren zitternden Händen hielt sie die Bilder, auf denen sie glücklich turtelnd mit Albert in einem Café saß und Weißwein trank.

Bestreiten ist sinnlos, überlegte sie kurz und kommentierte die Bilder mit trockener Stimme. „Das war am Tag der PUA-Sitzung. Da habe ich Melzer und Berend vernommen. Ich möchte dich nicht weiter anlügen, ja, ich habe dich betrogen, aber ich habe die Affäre bereits beendet“, taktierte sie. „Ich liebe dich, und ich begreife nicht, warum ich mich auf Albert eingelassen habe. Ich war allein, du hattest so wenig Zeit für mich, warst nur mit deinen Mandanten beschäftigt. Er hat mir das Gefühl gegeben, jemand Besonderes zu sein ...“

Sie schaute ihn an, um zu sehen, ob ihre Erklärungsversuche Eindruck erwecken würden, aber die Eiseskälte in seinen Augen ließ sie frösteln.

„Ach, hör auf!“, unterbrach er sie mit erhobener Stimme. „Ich bin also dafür verantwortlich? Ist es das, was du mir sagen willst? Ich bin fassungslos. Anne, du ziehst bis Sonntag aus. Das ist mein letztes Wort.“

„Das Haus gehört auch mir“, widersprach sie ihm mit demonstrativ gedämpfter Stimme. „Ich bleibe und werde für unsere Liebe kämpfen. Und bitte schrei nicht so laut, die anderen Gäste drehen sich schon um.“

„Hörst du dir eigentlich selber zu? Mein Gott, was redest du für einen klischeehaften Scheiß. ‚Ich kämpfe für unsere Liebe‘“, äffte er sie nach und wackelte dabei mit dem Kopf hin und her. „Unsere Ehe ist zu Ende“, stellte er fest.

„Wie lange geht das denn schon mit euch oder muss ich sagen‚ ging es mit euch?“, fragte er zynisch.

Fliege-Schulz schwieg. Jetzt durfte sie nichts Falsches sagen, immerhin wusste sie nicht, wie lange er sie schon überwacht hatte. Im Moment würde sie ihn nicht erreichen, das begriff sie. Ein anderer Zeitpunkt war für ihr Vorhaben sicher geeigneter. Bleib gelassen, dachte sie.

„Lass uns nach Hause fahren und erst einmal alles sacken lassen“, versuchte sie ihm auszuweichen.

„Du wirst ausziehen, so oder so“, parierte Schulz, erhob sich und winkte nach dem Kellner, während er seine Börse aus der Hose zog.

***

Schrilles Klingeln durchdrang am Mittwochmorgen eine mit einem schwarzen Samtvorhang abgedunkelte Wohnung am Stadtrand von Hamburg. Es roch nach verbrauchter, stickiger Luft, in die sich der Duft von Lavendel, Urin, Mottenkugeln und alter, verwelkter Haut mischte. Die ahnungslose Bewohnerin schnarchte mit geöffnetem Mund im Schaukelstuhl und ahnte nicht, dass sie heute noch eine wichtige Nachricht erhalten würde.

Es klingelte erneut. Ein Schlüssel drehte sich im Zylinder, und die sich öffnende Tür der im Dachgeschoss gelegenen Wohnung knarrte. Eine Frau von Mitte vierzig betrat die Stube, ging mit zügigen Schritten auf die ehemalige Gemeindeschwester Wilma Hönschemeier zu und rüttelte so fest an ihrem Oberarm, dass diese erschrocken hochfuhr. Sie schaute verwirrt umher, drehte ihren Kopf und sah die Frau mit großen Augen an.

„Was machen Sie hier? Wer sind Sie? Ich rufe die Polizei! Verschwinden Sie!“, keuchte sie.

„Mann, du bescheuertes dummes Weib, ich bin es, Magdalena. Deinen Arsch darf ich putzen, aber erkennen tust du mich nicht?“, herrschte sie die erschrockene Alte mit polnischem Akzent an. Wilma Hönschemeier fing gellend an zu schreien, doch das Klatschen der Ohrfeige und der Schmerz ließen die Greisin verstummen.

„Wenn du nicht ruhig bist, knall ich dir noch eine“, schüchterte Magdalena die verängstigte Rentnerin ein. Sie warf einen Briefumschlag auf den Schoß der Alten und spottete: „Hier, von deinem Verehrer. Deine Lupe bring ich dir.“

Während die dicke Polin in einer uralten, dunkelbraunen Kommode kramte, über der ein riesiges, erdrückendes Kreuz hing, beruhigte sich Wilma Hönschemeier und murmelte Bibelverse vor sich hin.

„Sei froh, dass ich für deine tägliche Pflege so gut bezahlt werde, sonst würde ich dich hier verrecken lassen“, verhöhnte die Polin das alte Weib, warf ihr die Lupe auf den Schoß und verließ pfeifend den Raum. Sie ging in ihr Zimmer nebenan, schenkte sich zufrieden ein Glas Mariacron Weinbrand ein, öffnete eine Jumbotüte Kartoffelchips und griff gierig hinein. Sie schaltete ihren Computer an, setzte die Kopfhörer auf und richtete sich für einen langen Serienmarathon bei Netflix ein. Seitdem der Streaming-Anbieter auch in Deutschland online war, schaute sie kein Fernsehen mehr, sondern tauchte über Stunden in die Serienwelt ein von „Bloodline“ und Co.

Im Nebenzimmer strich sich Wilma Hönschemeier über ihre weißen Haare, welche sie nur noch mithilfe der dicken Polin zu einem Knoten binden konnte. Ihr eingefallenes, runzeliges Gesicht vergrößerte optisch ihre rund geratene Nase. Sie stand auf, ordnete ihr schwarzes, hochgeschlossenes Kleid mit den winzigen weißen Punkten und dem weißen Kragen, das ihr über die Oberschenkel gerutscht war und die dunkelbraunen Stützstrümpfe zum Vorschein brachte. Sie griff zu dem am Schaukelstuhl lehnenden alten Gehstock, humpelte an den kleinen, runden Tisch und ließ sich, immer noch müde, auf den mit Brokat gepolsterten Jugendstilsessel fallen. Die Greisin hielt andächtig den Brief in ihrer zittrigen, mit Altersflecken übersäten Hand. Obwohl ihre Augen von dunklen Ringen gerahmt waren, leuchteten sie beim Anblick des Kuverts. In ihrem durch tiefe Furchen gezeichneten Gesicht, welche sowohl horizontal als auch vertikal verliefen und dem Fell eines chinesischen Faltenhundes glichen, lag ein Lächeln, als sie den Brief öffnete und mit ihrer Lupe las.

Meine geliebte Wilma,

Die Schuldigen werden nun Gott ein Stück näherkommen, so wie du es mich gelehrt hast.

„Denn das Leben des Fleisches ist im Blut und ich habe es euch für den Altar gegeben. Denn das Blut ist es, das durch Leben Versöhnung erwirkt. Im Blut war die Seele und Gott beansprucht die Seele.

3. Mose. 17/11.

Karsten.

Der Alten liefen die Tränen herab und verfingen sich an einem langen Kinnhaar. Sie wischte sie mit ihrer knöchernen Hand ab, erhob sich und stützte sich dabei auf die Lehne ihres Stuhles. Schlurfend ging sie einige Schritte in ihren karierten Filzpantoffeln zum Altar, kniete nieder und betete mit leiser Stimme ihr alltägliches Gebet.

„Gegrüßet seist du, Maria.

Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat,

Jesus, der für uns gegeißelt worden ist,

Jesus, der für uns mit Dornen gekrönt worden ist,

Jesus, der für uns das schwere Kreuz getragen hat,

Jesus, der für uns als Menschenopfer gekreuzigt worden ist …“

Die alte Frau brach zusammen und konnte ihren Vers nicht mehr zu Ende sprechen. Sie stürzte zu Boden und riss dabei die auf dem Altar stehende Madonna mit, die am Boden laut scheppernd zerschlug.

Nebenan kreischte die dicke Polin vor Lachen, aber Wilma Hönschemeier konnte sie nicht mehr hören.

Kapitel 2

„Junge Deerns“

Dröhnend und mit quietschenden Reifen setzte Mittwochmittag der Airbus 320 Family auf der Landebahn des Sylter Flughafens auf. Gernot Melzer fühlte den Hüftgurt, der ihn während des Landevorganges einschnürte. Seinen Arm stützte er gegen den Vordersitz und neigte sich zu seiner Sitznachbarin.

„Alles gut bei dir, Sabine?“ Er nahm ihre Hand und tätschelte sie, zog sie aber bei der ersten Berührung angewidert wieder zurück. Sabine Spindt hatte klatschnasse Hände, sie hasste das Fliegen. Und Melzer hasste glitschige, warme Hände.

Als sie zu Fuß über das Rollfeld liefen, war nur das rhythmische Rollen der Gepäckstücke auf dem grauen Beton zu hören. Jedes Mal, wenn Gernot Melzer den Flieger verließ und das Rollfeld betrat, erfreute er sich an den blauen, maritimen Dachschindeln des Flughafentowers, die sich heute von dem azurblauen Himmel kaum abhoben. Er schloss die Augen, atmete tief durch seine kaum merklich zuckenden Nasenflügel und hielt für einen kurzen Moment den Atem an. „Man kann das Salzwasser förmlich schmecken“, flüsterte er und befeuchtete seine Unterlippen. Heute war ein perfekter Tag, um für die Eröffnung des von ihm neu erbauten Ferienhauses für das Kinderheim „Junge Deerns“ gefeiert zu werden. Sein Gesicht verfinsterte sich, als er daran dachte, dass er dort seinem derzeitigen Feind Nummer eins, Albert Berend, begegnen würde. Die Anhörung vor dem PUA kam ihm erneut in den Sinn. Diese bescheuerte Vorsitzende wird mich noch kennenlernen. Nicht mit mir. Was ich geschaffen habe, lass ich mir von niemandem zerstören. Schon gar nicht von dieser platinblonden Hässlette, die, wie Melzer am Tag der Anhörung nicht entgangen war, viel zu enge Schuhe getragen hatte, demzufolge ihre Füße seitlich aus den Pumps gequollen waren. Melzer musste sich unwillkürlich schütteln. Heute ging es Gott sei Dank nur um ihn und sein Werk, welches er auf Sylt errichtet hatte. Gut, er hatte soziales Engagement heucheln müssen, aber das war ihm egal, weil es seinem Fortkommen genutzt hatte. Die Sozialduselei war ihm überaus gut gelungen, und Sabine an seiner Seite komplettierte das Theater. Dass er sie nur benutzte, würde sie eh nie bemerken. Dazu war er einfach zu geschickt und seine Anziehungskraft auf sie zu übermächtig. Ein stolzes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, er strich sich durchs Haar und legte seinen Arm um Sabines Schulter.

„Komm, wir müssen uns sputen, um dreizehn Uhr müssen wir in Munkmarsch sein.“

Er stutzte, denn ihr Körper versteifte sich.

„Ist irgendetwas, du bist so still?“

„Es ist nichts, ich habe nur etwas Kopfschmerzen.“

Aus traurigen Augen blickte Sabine Gernot an. Etwas bedrückte sie, aber sie schwieg und stieg in das Taxi, welches beide zu dem neu erbauten Ferienhaus brachte. Es lag etwas abseits der Hauptstraße, und ein kurviger Weg schlängelte sich direkt zu dem idyllisch gelegenen roten Reetdachhaus.

Auf der großen Terrasse waren Wärmelampen und viele mit einer weißen Husse versehene Stehtische aufgestellt. Die geladenen Gäste standen um die Tische und nippten am Sekt oder an dem passend zur Jahreszeit ausgeschenkten Glühwein, der aus den blauen Keramikbechern und Warmhaltetöpfen dampfte. Es roch nach Nelken, und aus der Lautsprecherbox erklang das obligatorische „I’m drea­ming of a white Christmas“. Geschäftig trugen die jungen Serviceangestellten in schwarzer Kleidung mit gestärkter Schürze und Turnschuhen die Tabletts hin und her und versorgten die fröhlich plaudernde Feiergesellschaft. Die nach und nach eintrudelnde Presse und die Fotografen positionierten sich ebenfalls für das Eröffnungsereignis. Peter Hemmlos vom Hamburger Tagesblatt erholte sich bei diesem Pressetermin von seinen am Sonntag geschossenen Fotos. Aus den Händen gerissen hatten sie ihm seine Bilder von dem geschächteten Sohn des Architekten.

Auf der über tausend Quadratmeter großen Wiese war ein Rednerpult mit einem Mikrofon und einer Lautsprecherbox aufgebaut. Ein großes Plakat mit der Aufschrift Eröffnung des Ferienhauses der Jungen Deerns informierte über den Anlass der Veranstaltung. Die Hamburger Bürgermeisterin trug einen eleganten hellgrauen Wollmantel und einen beigefarbenen Anzug und plauderte mit dem Sylter Bürgermeister, als Albert Berend ihr zuwinkte.

Sie nickte kaum sichtbar mit dem Kopf und ging auf ihn zu, da sie wegen des von Berend für sie entworfenen Wintergartens in ihrer Eigentumswohnung noch einige Fragen hatte. Berend kam wie gerufen. Aber vorher wollte sie kondolieren, das wäre sonst kein guter Stil.

„Herr Berend, zuallererst möchte ich Ihnen mein Beileid aussprechen. Was für ein schrecklicher Mord! Welch grausame Tat! Wozu Menschen fähig sein können ... Ich habe es in der Zeitung gelesen.“

Berend schwieg und schaute auf die Spitzen seiner glänzenden Lackschuhe. Der Tod bereitete ihm Unbehagen, und über ihn wollte er nicht sprechen, wohl aber über sein Leben.

„Ja, vielen Dank.“

Ohne eine Überleitungspause kam er gleich zum Thema.

„Ich muss mit Ihnen in einer pikanten Angelegenheit sprechen und darf auf Ihre Diskretion hoffen?“

Auf ihre Antwort wartete er nicht, als hätte sie keine Bedeutung, und sprach weiter: „Der Senator überschreitet seine Kompetenzen. Sie müssen eingreifen und die Angelegenheit im Sinne eines gesetzeskonformen Verfahrens regeln!“

Mit einer Hand nahm sie schwungvoll das letzte Glas Orangensaft vom Tablett und wandte sich Berend wieder zu.

„Ich verstehe nicht, was ist passiert?“

„Der Senator ist an Anne Fliege-Schulz herangetreten, die Vorsitzende des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses, wie Sie sicher wissen. Er hat auf die Berichterstattung zu meinem Nachteil einzuwirken versucht und hat Druck auf die Vorsitzende ausgeübt. Mit Verlaub, Frau Bürgermeisterin, das ist ein Skandal, und ich bin zutiefst beunruhigt.“

„Sie sehen mich entsetzt, aber was erwarten Sie von mir?“

„Na, dass Sie auf die Einhaltung eines fairen Verfahrens hinwirken. Sprechen Sie mit ihm. Rufen Sie ihn zur Ordnung! Das soll Ihr Schaden nicht sein ...“, kam er gleich auf den Punkt.

„Herr Berend, wie soll ich das verstehen? Kann es sein, dass Sie jetzt gerade Einfluss auf mich nehmen wollen? Und überhaupt, woher wissen Sie all das?“

Berend schaute sie an, krampfhaft auf der Suche nach einer plausiblen Erklärung.

„Sagen wir, von einer gut unterrichteten Quelle.“ Er beobachtete die Bürgermeisterin, wie sie unterdessen ihr Kinn nach unten schob, wodurch sich ihr speckiges Gesicht einen weiteren Ring erarbeitete.

Die Bürgermeisterin war über die Vorgehensweise ihres Senators im Bilde, hatte aber nicht die Absicht, dieses Wissen mit Berend zu teilen. Sie blickte mit eingefrorenem Gesichtsausdruck über Berends Schulter hinweg, wo sie erleichtert Gernot Melzer entdeckte, bei dem sich Sabine Spindt untergehakt hatte. Knirschend stolperten die beiden Ehrengäste über die großen, weißen Kieselsteine. Während Berend und Melzer sich gegenseitig keines Blickes würdigten, hob die Bürgermeisterin winkend ihren Arm, dankbar für die Unterbrechung des unangenehmen Gesprächs.

„Da ist ja die Seele der ,Jungen Deerns!‘“, rief sie Sabine Spindt überdreht zu.

Sabine Spindt hatte den Zuruf der Bürgermeisterin nicht gehört und fragte sich gedankenversunken, ob sie dem Anlass entsprechend angezogen war. Einerseits fand sie, dass ihre schlanke Figur durch das dunkelblaue, schmal geschnittene Etuikleid vorteilhaft zur Geltung gebracht wurde. Irgendjemand, bedauerlicherweise nicht Gernot, hatte sogar mal zu ihr gesagt, dass ihr die Farbe Dunkelblau besonders stehen würde, weil sie ihren grauen Augen einen blauen Schimmer verleihen würde. Gleichwohl hatte sie das Gefühl, Gernot nie zufriedenstellen zu können. Sie strich sich gedankenversunken ihre langen, brünetten Haare aus dem Gesicht, während sie über den heutigen Morgen sann, als sie vor dem Spiegel gestanden und Gernot gefragt hatte, wie sie ihm gefallen würde und welche Schuhe er besser fände.

„Du siehst elegant und modern aus, für deine Verhältnisse jedenfalls“, hatte er geantwortet. Sabine zog ihre Mundwinkel nach unten. Ja, so war er, Gernot schaffte es immer wieder, in ein scheinbares Kompliment eine Gemeinheit einzubauen.

Nun riss die Bürgermeisterin sie doch aus ihren Gedanken und streckte ihr zur Begrüßung die Hand entgegen. Sabine streifte ihre royalblauen Lederhandschuhe ab, an denen noch das Preisschild hing, und reichte der Bürgermeisterin ihre warme Hand.

„Sie haben so viel Gutes erreicht für die Kinder, und jetzt ist Ihr Herzensprojekt endlich fertig. Die Mädchen der ,Jungen Deerns‘ können auf Sylt Urlaub machen. Dank der großzügigen Spende des Bauunternehmers Melzer.“ Endlich ließ sie Sabines Hand wieder los, die sie während der Begrüßung die ganze Zeit geschüttelt hatte. Mit ihrer lauten, schrillen Stimme übertönte sie alle umliegenden Gespräche, was Sabine rätseln ließ, ob die Bürgermeisterin schlecht hören könne.

Die Bürgermeisterin lächelte nun in Melzers Richtung und stöckelte zum Rednerpult.

„Liebe Gäste, verehrter Herr Bürgermeister, Frau Spindt und Herr Melzer. Ich bin so froh, dass wir heute endlich die Einweihung des von der Firma Melzer gebauten Ferienhauses feiern dürfen.“

Sie machte eine kurze Pause, blinzelte in die Sonne und blickte nachdenklich in die Runde. „Die traurigen und erschütternden Geschichten und Skandale der letzten Jahre beschatteten den guten Ruf unseres Hamburger Kinderheims. Dank seiner neuen Heimleiterin Frau Spindt und des Bauunternehmers Melzer konnten die Vorgänge indes schonungslos aufgeklärt werden. Die Misshandlungen der damaligen Erzieher und die äußerst fragwürdigen Strafaktionen haben Hamburg den Atem anhalten lassen. Es war eine sehr betrübliche Zeit im letzten Jahr.“

Sie unterbrach sich erneut, und dann lächelte sie.

„Dies ist nun vergangen, und wir schauen nach vorne ...“

Hoffnung klang in ihrer Stimme, die nur noch verhalten an Sabines Ohr drang, welche immer tiefer in ihren Gedanken versank.

Sie konnte ihre Kränkungen und Ängste nicht länger ignorieren. Immer wieder ging Gernot in den Puff, und immer versprach er ihr, dass er damit aufhören würde.

Verstohlen riss sie das Preisschild von ihren Handschuhen ab, welches sie gerade erst entdeckt hatte. Er würde nie damit aufhören, da war sie sich sicher. Es musste Schluss damit sein, dass sie seinen Beteuerungen immer wieder Glauben schenkte. Vor einigen Tagen hatte sie sich wieder vor dem Puff versteckt und dort verharrt, bis sie Gernot, dem Pförtner zunickend, die Treppen zum Club hochgehen und erst nach Stunden wieder herauskommen sah. Es war wie ein Fausthieb in die Magengrube. Sie hielt es einfach nicht mehr aus. Aufhören sollte er damit. Endlich aufhören.

Sie betrachtete den Mann, in den sie sich vor einem Jahr unsterblich verliebt hatte. Sie beobachtete ihn, wie er sich durch seine nach hinten gegelten Haare strich und der Laudatio lauschte. Sie mochte diese jungenhafte Angewohnheit.

Vor einem Jahr hatte er sie einfach angesprochen, als sie im Vorgarten des Kinderheimes in Wandsbek stand und mit einer Erzieherin in einem Streitgespräch war. Melzers Baufirma befand sich direkt neben dem Kinderheim, und er war auf den Streit aufmerksam geworden.

Damals erzählte ihr eines der Mädchen im Vertrauen, dass eben jene Erzieherin mit Essensentzug und nächtlichem Sportdrill als Strafmaßnahmen arbeiten würde. Als sie ihre Mitarbeiterin entsetzt zur Rede stellte, stritt diese es noch nicht einmal ab. Sabine wusste nicht, was sie damals schlimmer empfand: dass sie an der Einstellung der Erzieherin maßgeblich beteiligt war oder die Gleichgültigkeit, mit der die Mitarbeiterin ihre Entdeckung und ihre Kündigung hinnahm. Irgendwann in dieser Situation sprach Melzer sie an, und Sabine bat ihn ins Büro, wo er sich ohne Umschweife erkundigte, wie er oder das Unternehmen Melzer dem Kinderheim helfen könne. Anfänglich dachte sie noch, er benötige für die Galerie und für seine Agenda ein Spendenprojekt. Aber dann und wann hielt er beim Abschied für einen längeren Moment ihre Hand, und sie hatte den Eindruck, dass er sich auch für sie interessieren würde. Es dauerte nicht lange, und sie verliebte sich in ihn, und gemeinsam verwandten sie viel Zeit darauf, den Skandal über die fragwürdigen Erziehungsmethoden aufzuklären.

Trotzdem fragte sie sich immer wieder, was Gernot an ihr fand. Sie war weder auffallend hübsch noch herausragend intelligent oder besonders humorvoll. Sie war einfach nur durchschnittlich.

Das abgerissene Preisschild ihrer Handschuhe behielt sie während der gesamten Eröffnungsfeier in der linken Hand und warf es erst in einen der Aschenbecher auf den Stehtischen, als das Event zu Ende ging.

In der „Sansibar“ ließen Sabine Spindt und Gernot Melzer den Abend ausklingen, wo sie all ihren Mut zusammennahm und gleich zur Sache kam.

„Ich habe dich gesehen, im ,Flow‘. Du warst schon wieder im Puff, und mich rührst du nicht an.“

Sie schaute ihn unumwunden an.

„Gernot, was mach ich denn falsch?“

„Du machst nichts falsch. Ich hab eben einfach keine Lust auf dich. Deine Beine sind nicht glatt rasiert, und auch sonst könntest du schlanker sein. Du turnst mich einfach nicht an, aber das zwischen uns ist wichtig, nicht der Sex ...“

„Was muss ich denn tun?“

Ihre Stimme klang erst weinerlich und zaghaft, aber dann atmete sie einmal tief durch und rief kraftvoll aus: „Was die Nutten können, kann ich auch!“

Sie schaute ihn an und hoffte, irgendetwas in seinem Blick zu finden, was sie beruhigen könnte, aber sie fand nichts. Im Gegenteil, er begann sie auszulachen.

„Da überschätzt du dich etwas, Sabine.“

Seine Augen wurden schmal, und er klang verächtlich.

„Ach verdammt, Sabine, ich kann es nicht mehr hören, ehrlich. So wie es ist, ist es gut. Mach es doch nicht so kompliziert. Außerdem steht es dir nicht zu, mir hinterherzuspionieren!“

„Glaubst du, ich bin stolz darauf? Meinst du, ich fühle mich wohl dabei, mir anzuschauen, wie du mit anderen Frauen im Pool sitzt und Sekt säufst?“

Gernot beugte sich nach vorne und stützte seine Hand auf den Tisch, während er seine Zunge unter seine Oberlippe schob.

„Warst du im ,Flow‘?“ Seine Stimme überschlug sich leicht.

„Nein, natürlich nicht, das stell ich mir nur so vor. Kannst du denn nicht verstehen, wie sehr mich das kränkt? Wie das für mich ist?“

Inständig hoffte Sabine, dass Gernot Verständnis für sie haben, er sich ändern würde. Aber wie?

„Ich sehne mich danach, Sex mit dir zu haben, deine Nähe und deinen Körper zu spüren. Du hast immer andere Ausreden. Seitdem wir zusammen sind, hatten wir nicht ein einziges Mal Sex. Ich bin dieses ,Hänsel und Gretel‘-Dasein leid, weißt du das? Wieso bist du überhaupt mit mir zusammen? Du könntest so viele Frauen haben!“ Jetzt fing sie bitterlich an zu weinen, und die Tränen rollten an ihren Wangen herunter.

Gernot holte unbeholfen ein Tempo aus seiner Tasche und wollte ihr leicht gerötetes Gesicht trocknen, aber sie wich zurück.

„Sabine, du hast recht, ich könnte viele Frauen haben, an Angeboten mangelt es mir nicht.“ Hierbei kräuselte er stolz seinen Mund, als würde er gerade die infrage kommenden Damen Revue passieren lassen und darüber grübeln, ob er es sich doch noch anders überlegen sollte. „Aber unsere gemeinsame Arbeit für die gefallenen Mädchen bedeutet mir sehr viel. Ich möchte das nicht aufgeben.“

Er hielt ihr das Taschentuch entgegen und war sichtlich gerührt von seinem sozialen Engagement und seinem an den Tag gelegten Einfühlungsvermögen. Sabine reagierte nicht.

„Darf ich noch etwas Wein bringen oder einen Digestif?“, unterbrach der Kellner das bedrückende Schweigen.

„Nein danke, wir möchten zahlen!“, entgegnete Sabine und suchte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch.

Im Hotelbett drehte sich Sabine resigniert auf die Seite, auf die sie sich immer drehte, und ließ heimlich ihre Tränen laufen, während Gernot, in seinem Handy lesend, Sabine am Kopf kraulte, als wäre sie eine zugelaufene Katze.

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
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ISBN:
9783827184115
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