Kitabı oku: «Crescendo bis Fortissimo», sayfa 4

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4. Lieber Besuch

Clarissa sitzt mit dem kleinen Oliver auf dem Boden und hilft ihm beim Bau einer Burg, die aus hölzernen Bauklötzen entstehen soll. Mit diebischem Lachen und lautem Freudengeschrei bringt Oliver von Zeit zu Zeit eine Wand zum Einsturz, indem er sehr geschickt einen Baustein mit dem kleinen Zeigefinger aus ihr herausdrückt.

Clarissa schüttelt dabei mit gespieltem Bedauern den Kopf, was die Belustigung und die Freudenausrufe des Buben noch steigert. Ab und zu steht Clarissa auf und geht in das Nebenzimmer, um nach der kleinen Elisabeth zu sehen, die sanft in ihrer Wiege schläft.

Das sich stets wiederholende Spiel mit ihrem Sohn vermag jedoch nicht, die ernsthaften Sorgen aus Clarissas Gedanken zu vertreiben. Ununterbrochen muss sie an das vor dem Bücherregal in Heikos Arbeitszimmer kniende Hausmädchen denken – und an die auf dem Boden liegende Bücherliste. Was hat das zu bedeuten? Werden sie bespitzelt? Weshalb? Von wem?

Wie oft hat sie Heiko schon gewarnt, er solle sich endlich dieser politischen Bücher entledigen. Wie kann man nur verhindern, dass diese Liste außer Haus gelangt? Wenn bloß Heiko rasch nach Hause kommt, denkt sie, damit wir beraten können, was nun zu tun ist!

In diesem Moment läutet die elektrische Klingel an der Haustür. Rasch erhebt sich Clarissa, sagt ihrem Sohn ein eiliges „Spiel nur weiter, Oliver, Mami kommt gleich wieder!“ und läuft geschwind die Treppe hinunter, um noch vor dem Hausmädchen an der Tür zu sein.

„Lassen Sie nur, Silke, ich gehe schon!“, ruft sie dem verwunderten Mädchen im Vorbeigehen zu, das sich, von der Waschküche kommend und seine Hände in der Schürze trocknend, gerade auf den Weg zur Haustür begeben wollte, um den Besuch hereinzulassen.

Mit großer Erleichterung erkennt Clarissa auf den matten Glasscheiben die Umrisse einer vertrauten Männergestalt. Ungeduldig öffnete sie die Haustür. „Oh, Papa!“, ruft Clarissa freudig und fällt mit Tränen in den Augen ihrem Vater in die offenen Arme. „Wie schön, dass du gerade jetzt gekommen bist!“

Äußerst überrascht von der Heftigkeit dieser Begrüßung umarmt Hans-Peter von Steinberg liebevoll seine Tochter.

„Komm doch herein, lass uns ins Wohnzimmer gehen. Trinkst du mit mir eine Tasse Tee?“ Sie hilft ihrem Vater aus dem Mantel und weist, ohne auf seine Antwort zu warten, Silke an: „Sie sind doch sicher bald fertig mit dem Waschen, Silke. Bitte bereiten Sie danach den Tee und servieren Sie ihn im Wohnzimmer.“

„Guten Tag, Herr von Steinberg. – Ich gehe sofort in die Küche, Frau Keller, und setze das Wasser für den Tee auf.“ „Guten Tag, Silke.“

Vater und Tochter gehen Arm in Arm durch die Diele in das Wohnzimmer.

„Wie geht es dir, mein Kind?“, fragt Hans-Peter mit besorgter Stimme. „Du hast doch etwas. Was ist los?“

Im Gehen nähert Clarissa ihr Gesicht dem ihres Vaters, lehnt sich an seine Schulter und flüstert ihm leise ins Ohr: „Nicht jetzt, Papa, nachher!“

Während es sich Hans-Peter in einem der großen Sessel gemütlich macht, setzt sich Clarissa auf das Sofa. Mit einem Mal spürt sie die Kälte im Raum. Sie steht auf und geht an den Kamin. „Es ist kühl hier. Ich zünde uns ein paar Holzscheite an.“ Sie entnimmt drei kleine weiße Alkoholpastillen aus einer Blechschachtel und legt sie unter das im Kamin gestapelte Holz. Von einem brennenden Streichholz springt rasch die Flamme auf die Pastillen über. Bald fängt auch das trockene Holz an zu brennen und rasch verbreitet sich wohlige Wärme im Wohnzimmer.

Um den Papa zu beruhigen, dem eine große Unruhe ins Gesicht geschrieben steht, macht Clarissa beschwichtigende Gesten, während sie die Zeit mit belangloser Konversation vertreibt.

Nachdem Silke mit dem Tablett hereingekommen ist und den Tee serviert hat, bittet Clarissa sie, nach oben zu gehen und auf die Kinder aufzupassen. Nach einigen Augenblicken schleicht sie sich vorsichtig hinaus, um sich zu vergewissern, dass die Deern tatsächlich in das obere Stockwerk gegangen ist. Als sie wieder ins Wohnzimmer zurückkehrt, setzt sie sich auf die Sessellehne neben ihren Papa. Sehr leise erzählt sie ihm, wie sie Silke bei der heimlichen Auflistung der Bücher beobachtet habe.

Tiefe Sorgenfalten durchziehen Hans-Peters Stirn beim Zuhören. „Ach, mein Kind, gerade deswegen wollte ich heute mit euch sprechen.“ Und er erzählt Clarissa ausführlich von dem, was an diesem Morgen Friedrich Winkler widerfahren ist, und auch von seinem darauf folgenden Gespräch mit Clarissas Mutter.

Clarissa ist entsetzt. „Papa, das ist ja schrecklich! Was sollen wir nur tun? Ich weiß einfach nicht weiter. Ich habe solche Angst um Heiko. Er ist sowieso schon sehr wütend über dieses verwünschte Reichsbürgergesetz. Wie soll er nur die Herkunft seines Vaters nachweisen? Und jetzt werden wir auch noch im eigenen Haus bespitzelt. Was soll bloß aus uns werden?“

„Nun beruhige dich erst einmal, mein Kind. Nur keine Panik. Mit Angst im Herzen kann das Gehirn nicht kühl denken.“ Aber in seinem Inneren muss sich auch Hans-Peter eingestehen, dass er vollkommen ratlos ist.

In diesem Moment klingelt es wieder an der Haustür. Clarissa blickt verdutzt auf die Standuhr. Wie auf Befehl schlägt diese halb vier. Wer kann das sein? Um diese Zeit?

Clarissa springt auf und eilt an die Haustür. Die zwei weiblichen Umrisse auf den Glasscheiben sind ihr nicht geläufig. Oder doch?

Als sich die Tür öffnet, sehen sich die drei Frauen für einen Augenblick erstaunt und zunächst wortlos an. Dann fallen sie sich in die Arme.

„Gesche und Gesine. Welche Überraschung! Wie schön, euch nach so langer Zeit wiederzusehen! Kommt herein, kommt herein, der Papa ist auch gerade da.“

Während die beiden Besucherinnen ihre Mäntel ablegen, blickt Clarissa die Treppe hoch und sieht die oben stehende Silke, die gerade die kleine Elisabeth im Arm hält.

„Silke, bringen Sie bitte die Kinder herunter und machen Sie doch für meine beiden Freundinnen noch etwas Tee! – Kommt herein, ihr Lieben, kommt herein!“

Gesine und Gesche folgen Clarissa und sehen sich anerkennend im Hause um. Auch sie haben in ihrer Kindheit zusammen mit Heiko und Clarissa Onkel Suhl hier besucht und mit seinem sagenumwobenen Teleskop den Mond beobachten dürfen. Sie sind von den baulichen Veränderungen sehr angetan.

Im Wohnzimmer erhebt sich Hans-Peter und begrüßt herzlich die Sandkastenkameradinnen seiner Tochter, wie er sie scherzhaft nennt. „Wie schön, euch nach so langer Zeit wieder zu Gesicht zu bekommen, Gesche und Gesine. Wie geht es denn eurer lieben Frau Mutter?“

„Danke, Herr von Steinberg“, antwortet Gesine, „leider nicht so gut. Sie leidet sehr unter ihrem Rheuma und kann sich kaum noch bewegen.“

„Ja, ja, wir werden eben alle nicht jünger. Das Alter verlangt uns seinen Zoll ab.“

Hans-Peter denkt eine Weile nach, während sich die drei jungen Frauen angeregt unterhalten, um sich gegenseitig auf den derzeitigen Stand zu bringen. Dann sagt er, mitten hinein in eine Redepause: „Ich glaube mich erinnern zu können, dass gerade das Bürgerwehrfest stattfand – es muss im Februar 1931 gewesen sein –, als wir uns das letzte Mal sahen. Da haben wir alle gemeinsam im Herrenhaus gefeiert. Tja, damals lebte Onkel Suhl noch.“ Plötzlich verstummt er. Ihm fällt ein, dass er doch später noch bei Gesches Hochzeit im Uhlenhof zu Gast war. Dann blickt er betreten auf die schwarz gekleidete Gesche und schweigt. „Ssssie wwwwwaren dddddoch noch bbbei uuuuns-unserer Hoch...“

„Hochzeit, Herr von Steinberg“, eilt Gesine ihrer Schwester zu Hilfe.

„Ach ja, natürlich, ihr habt ja recht, das hatte ich tatsächlich total vergessen. Da seht ihr, wie das bei uns Alten ist. Bei eurer Mutter ist es das Rheuma, bei mir das Gedächtnis“, scherzt Hans-Peter erleichtert.

Durch die offene Tür kommt eine kleine Prozession herein: Angeführt von Oliver folgt Silke, die vorsichtig mit einer Hand einen Teewagen schiebt, während sie auf dem anderen Arm Elisabeth trägt.

Clarissa eilt dem Hausmädchen zu Hilfe. Sie nimmt ihm Elisabeth ab, sodass Silke den beiden Schwestern den Tee servieren kann. Oliver bemächtigt sich sofort des Schoßes seines Großvaters und kichert vergnügt, während er an dessen Schnurrbart zupft. Hans-Peter lässt ihn fröhlich gewähren, während er wie ein aufgebrachter Dackel grunzt und bellt. Oliver kann sich vor Lachen kaum auf dem Schoß halten, sodass ihn der Großvater vor dem Herunterfallen bewahren muss.

„Oliver, benimm dich! So darfst du doch nicht mit deinem Großpapa umspringen!“, versucht Clarissa lächelnd zu zürnen.

„Ach, lass ihn doch, Clarissa“, lacht der Papa belustigt. „Er ist so herzerfrischend!“

Ein Schatten fährt über Clarissas Gesicht. Wie recht du hast, lieber Papa, denkt sie. Wir haben in diesen Zeiten doch wirklich nicht viel, über das man lachen könnte. Unbewusst drückt sie ihr Baby fester an sich.

„Ddddarf ich ddddas Bb...?“ Gesches feuchte Augen blicken Clarissa bettelnd an.

„Aber natürlich, Gesche. Hier, Lissy, jetzt darfst du zur Tante Gesche auf den Arm.“

Hans-Peter erhebt sich von seinem Sessel und stellt Oliver vorsichtig auf die Füße. „So, junger Mann, und nun muss dein Großvater wieder nach Hause, denn sonst macht sich deine Großmama Sorgen um ihn.“ Freundlich schüttelt er Gesche und Gesine die Hände. „Meine herzlichsten Grüße und Wünsche zur raschen Genesung an Ihre Frau Mama.“ Mit einem Blick auf Clarissa ergänzt er: „Liebes, begleitest du mich noch an die Tür?“

„Aber selbstverständlich, Papa. – Ihr entschuldigt mich bitte einen Augenblick?“

Gesche und Gesine nickten.

Während Clarissa in der Diele dem Papa in den Mantel hilft, sagt dieser: „Schade, wir konnten unsere Unterhaltung nicht zu Ende führen. Es wäre aber sehr wichtig, darüber ausführlich zu sprechen. Komm doch mit Heiko heute Abend zu uns zum Tee. Sagen wir, so gegen neun Uhr, ja? Dann sind wir ungestört.“

„Sehr gut, Papa, ich rufe gleich Heiko im Büro an, damit er heute nicht allzu spät nach Hause kommt. Also, gegen neun bei euch! – Grüß mir herzlich die Mama!“, ruft sie ihrem Vater hinterher, der sich auf der Straße nochmals umdreht und mit einer übertriebenen Geste sowie einem Lächeln auf den Lippen den Hut sehr tief vor seiner Tochter zieht.

Ebenfalls lächelnd kehrt Clarissa zurück zu ihren Besucherinnen. Silke geht mit den beiden Kindern in das obere Stockwerk.

„Ddddddein Pppppappa ssssieht abbbber ss...“, stottert Gesche.

Gesine beendet ihren Satz: „Ja, dein Papa sieht sehr gut aus.“ Nach einer Pause fügt sie hinzu: „Weißt du, Clarissa, irgendwie habe ich mir früher immer vorgestellt, dass Hans-Peter von Steinberg auch mein Papa ist, weil ja unser Vater sehr früh gestorben ist und wir ihn nie richtig kennengelernt haben. Und da wir in unserer Kindheit fast ständig zusammen waren und uns öfter in eurem als in unserem Hause aufhielten, habe ich ihn immer als eine väterliche Figur betrachtet. Es ist eigenartig, vor einigen Tagen sprachen Gesche und ich davon. Sie hat es mir nie vorher gesagt, aber sie empfand dasselbe, stimmt’s, Gesche?“

Gesche nickt eifrig.

Clarissa ist von dieser Offenbarung ihrer Freundinnen sehr gerührt.

„Ja, sie waren wirklich schön, die Jahre unserer Kindheit. Sehr oft muss ich daran denken – an Heiko, natürlich auch an euch, an den Klumpfuß und an Rollo und Heide.“

„Hast du etwas von den anderen gehört?“, fragt Gesine. Wir leben ja so abgeschieden, dass wir kaum Kontakt mit der Außenwelt haben.“

„Nun ja, dass mein Deichkater – ich nenne ihn immer noch so, ihr braucht gar nicht so zu grinsen – beim Klumpfuß – ich meine, bei Josef Rembowski – in der Backwarenfabrik arbeitet, das wisst ihr sicher noch, oder?“

Die Zwillinge nicken.

„Kurz nachdem der alte Tadeusz Rembowski starb, hat Josef Heiko zum gleichberechtigten Geschäftsführer gemacht. Es ist kaum zu glauben, aber die beiden verstehen sich sehr gut. Obwohl ich ihn aus alter Gewohnheit immer noch ‚Klumpfuß‘ nenne – natürlich nur, wenn er es nicht hört –, muss ich zugeben, dass Josef in der letzten Zeit sehr viel selbstbewusster geworden ist und ihn sein krummer Fuß anscheinend nicht mehr deprimiert, wie wir es von früher kennen. Jedenfalls versucht er nicht mehr, den Fuß zu verbergen. Ich freue mich sehr für ihn. Heiko hat mir erzählt, dass Josef sich verliebt haben soll. Er kämpft jetzt mit sich selbst, um den Mut aufzubringen, sich seiner Erwählten zu erklären. Der Arme!“

„Wwwwer ist es dddddenn?“

„Ich weiß es leider nicht. Angeblich jemand aus der Umgebung Oldenmoors.“

„Iiiiich ggglaubbbbe, ich wwwee...“

„Was, Gesche, du weißt, wer es ist? Wieso? Erzähl schon!“ Gesine bedrängt derart ungeduldig ihre Schwester, dass diese vor Aufregung kaum noch ein Wort hervorbringen kann.

Dann erzählt Gesche mit Hilfe von Gesines Ergänzungen, dass sie von ihrem Hausmädchen erfahren habe, dass vor einiger Zeit häufiger ein hinkender Herr bei Frauke Eggers, Tochter des Gutsherrn, auf dem Holstenhof zu Besuch gewesen sei. Allerdings sei der alte Knut Eggers über diese Besuche nicht sehr erbaut gewesen und es habe deswegen einen ernsten Krach zwischen Vater und Tochter gegeben. Seitdem hätten auch keine Hausbesuche dieses Herrn auf dem Hof mehr stattgefunden. Gelegentlich ließe sich Frauke Eggers durch den Gutsverwalter, Olaf Lütjens, ausfahren. Man vermutet, dass sie den hinkenden Herrn irgendwo heimlich trifft.

Nachdem diese prickelnde Romanze von den drei Freundinnen bis ins Einzelne kolportiert und kommentiert worden ist, fragt Gesine: „Ist Rollo immer noch bei der Reichswehr? Und hast du etwas von Heide gehört?“

„Ja! Roland Claaßen ist jetzt Obergefreiter und immer noch bei seinem Infanterie-Regiment 46 in Neumünster. Aber den Rest der Geschichte, den werdet ihr mir bestimmt nicht glauben!“ Clarissa macht eine Pause, um die Spannung zu erhöhen.

„Eerzzzzz...“, beginnt Gesche aufgeregt und Gesine vervollständigt: „Nun sag schon, Clarissa. Was ist denn mit Heide?“

„Also gut. Wie ihr wisst, war Heide sehr krank und lebte unter äußerst ärmlichen Bedingungen mit ihren beiden Kindern im ‚Jammertal‘. Heiko und ich haben sie damals dort besucht und wir dachten, dass sie sterben würde, weil es ihr so schlecht ging. Als Heiko Onkel Suhls Vermögen erbte, ließ er Heide sofort nach Aukrug ins Sanatorium bringen. Die beiden Jungs wurden zunächst auch dort untergebracht, und zwar im Kinderheim. Man päppelte sie auf, weil sie vollkommen unterernährt waren. Heide blieb fast achtzehn Monate im Sanatorium und konnte danach erfreulicherweise vollständig geheilt entlassen werden.“

„Oh, dddasss iiissst abbbber wwwunddderbbbbar ...!“ Eine Träne rollt aus Gesches Auge.

„Da die Kinder nach Neumünster zur Schule mussten“, fährt Clarissa fort, „besorgte ihnen Rollo dort eine Pflegestelle. Er hat sich während der ganzen Zeit sehr intensiv um die beiden gekümmert. Als Heide entlassen wurde, stellten sie und Rollo überrascht fest, dass sie sich sehr mochten, und haben dann, nach einigen Monaten, kurz entschlossen geheiratet! Sie leben dort in einer kleinen Wohnung und sind gesund und zufrieden.“

„Wie schön für die beiden“, sagt Gesine, ebenfalls sichtlich bewegt.

„Nnnnnein, ffffür ddddie vvvvvvier!“, meint Gesche.

„Natürlich, Gesche, wie recht du hast. Rollo hat nämlich die beiden Jungen adoptiert. Heide schrieb mir vor etwa zwei Wochen. Sie wollen uns am zweiten Weihnachtstag besuchen. – Oh! Ich glaube, ich habe eine gute Idee: Was haltet ihr davon, wenn wir uns alle, die ganze Bande, am zweiten Weihnachtstag hier treffen?“

Mit glänzenden Augen wird Clarissas Vorschlag von den beiden Schwestern begeistert aufgenommen.

„Wie herrlich!“, seufzt Gesine. „Ich freue mich schon jetzt riesig darauf!“

„Und wie ist es euch in der letzten Zeit ergangen? Wir haben uns ja sehr lange nicht mehr gesehen“, sagt Clarissa nach einer kurzen Pause.

„Ssssag nnnur allllles, ddddu wwwweißt ...“, spricht Gesche ihre Schwester an.

„Nun, Clarissa, du weißt ja, unter welch tragischen Umständen Siegfried, Gesches Mann, ums Leben kam. Seit seinem Tode leben wir sehr zurückgezogen auf dem Uhlenhof. Die Mama hat einen Verwalter, Herrn Siemsen, eingestellt. Er kümmert sich um die gesamte Landwirtschaft. Zurzeit haben wir große Sorgen, dass die in der Marsch sich rasch verbreitende Maul- und Klauenseuche auch auf unseren Viehbestand übergreifen könnte. Das wäre sehr schlimm. Bei Eggers sollen auch schon einige Tiere erkrankt und notgeschlachtet worden sein. Es ist so schrecklich!“

„Ja, es ist wirklich schlimm! Letzte Woche las ich es im Courier.“ Bei der Erwähnung der Lokalzeitung befallen Clarissa plötzlich wieder düstere Gedanken und sie verfällt in Schweigen.

Nach einigen Augenblicken bricht Gesine die Stille, die lediglich durch das Ticken der Standuhr untermalt worden ist. „Ich habe es damals sehr bedauert, dass Heiko und Siegfried nicht miteinander auskamen. Es ist so schade, dass wir uns deswegen auseinandergelebt haben.“

„Ja, auch mir tat es furchtbar leid“, antwortet Clarissa. „Aber ihr kennt ja Heiko gut genug. Er hat nun einmal seine feste Meinung und es ist sehr schwer, ihn davon abzubringen. Ihre Grundeinstellungen waren zu konträr. Es war vielleicht auch besser so, es hätte sonst nur Streitereien gegeben.“ Clarissa seufzt.

„Wie kommt er denn jetzt zurecht? Mit der heutigen Lage, meine ich.“

„Ach, er vertieft sich in seine Arbeit. Damit hat er den Kopf voll genug. Er arbeitet von früh bis spät und kommt abends todmüde nach Hause. Trotzdem sind wir als Paar und mit unseren Kindern sehr glücklich!“

Gesche und Gesine blicken sich gegenseitig an.

„Wwwwir mmm...“, beginnt Gesche und Gesine vervollständigt den Satz: „... müssen jetzt wieder nach Hause. Herr Siemsen wartet sicher schon mit dem Automobil auf dem Marktplatz.“

Die drei jungen Frauen erheben sich und gehen gemeinsam zur Garderobe in der Diele.

„Also abgemacht? Ihr kommt am zweiten Weihnachtstag zum Mittagessen und bleibt dann bis zum Abend bei uns. Die anderen lade ich auch ein. Sagen wir, um halb eins, ja?“ „Vielen Dank, Clarissa, wir freuen uns schon bannig auf dieses Wiedersehen.“

Als Clarissa die Haustür öffnet, weht draußen ein kräftiger, eiskalter Wind. Liebevoll umarmt Clarissa ihre beiden Sandkastenfreundinnen und steht noch so lange in der Tür, bis sie mit einem letzten Winken um die Straßenecke verschwinden.

Nachdem sie die Haustür geschlossen hat, geht sie in Heikos Arbeitszimmer und lässt sich von der Dame im Telefonamt mit Heikos Büro in der Backwarenfabrik verbinden.

„Deichkater?“

„Hallo Prinzessin. Was gibt’s Neues?“

„Der Papa war vorhin hier. Wir müssen etwas sehr Wichtiges besprechen. Kommst du bitte heute mal früher nach Hause? Wir sollen nach dem Abendessen ins Herrenhaus zum Tee kommen. Bitte, Heiko“, fleht sie ihn an, „es ist sehr wichtig, verstehst du?“

„Was hast du denn, Liebes, was ist los?“ Heiko ist beunruhigt, als er die Eindringlichkeit in Clarissas Stimme wahrnimmt.

„Ach, mach dir nur keine Sorgen. Aber bitte, bitte, komm bald.“

„Gut, mein Schatz, ich verspreche es. Ich erledige hier noch rasch etwas sehr Wichtiges und komme dann sofort. Zufrieden?“

„Ja, Deichkater, ich liebe dich!“ Clarissa hängt auf. Sie verlässt, sehr nachdenklich auf das Bücherregal blickend, Heikos Arbeitszimmer und schließt die Tür. Danach geht sie in Elisabeths Zimmer, wo Silke gerade dabei ist, dem Baby die Windeln zu wechseln.

5. Hans-Peters Bekehrung

In diesem Jahr stellen sich die Herbststürme recht früh ein. Als Heiko den Hörer auf die Gabel zurücklegt, blickt er bedrückt aus dem Fenster hinaus. Am grauen Himmel jagen große, schwarze Wolken einander hinterher. Der heftige Sturm, der mit Orkanstärke über der Nordsee tobt, fegt unbarmherzig über das Land und ertränkt es mit sintflutartigem Regen. Weite Flächen der tiefer gelegenen Marschländereien stehen gänzlich unter Wasser. Draußen herrscht eine dramatisch wirkende Dunkelheit. Wie beim Weltuntergang, denkt Heiko und dreht am Schalter seiner Schreibtischlampe. Wie in der Hexenszene von Macbeth, ja, genau so dunkel und unheimlich ist es.

Heiko ist alarmiert wegen des soeben mit Clarissa geführten Gesprächs. Warum war sie nur derart erregt? Ihre Stimme hatte etwas Eigenartiges, ja, einen fast an Verzweiflung grenzenden Unterton. Von dieser Sorge erfüllt, blickt Heiko auf die Pläne des neuen Backofens mit Seitenfeuerung, den man in Kürze in der Fabrik installieren will und mit dessen Auftragsvergabe er sich gerade beschäftigen wollte, als Clarissa anrief. Er blickt auf die Zeichnungen, ohne sie wahrzunehmen.

Es hat heute keinen Sinn mehr, denkt er. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich höre jetzt auf und gehe nach Hause. Dieser Anruf lässt mir keine Ruhe.

„Fräulein Matthiessen?“

„Ja, Herr Keller?“

Heikos Sekretärin, eine große, stattliche Fünfzigerin mit im Dutt streng zusammengebundenen Haaren, erscheint in der Tür.

„Ich muss jetzt weg. Wissen Sie, wo Herr Rembowski ist?“

„Soviel ich weiß, hatte er für heute ein Gespräch beim Orts-Handwerksführer auf dem Terminkalender.“

Verdammt!, denkt Heiko. Da hätte wohl lieber ich hingehen oder ihn wenigstens begleiten sollen. Warum hat er mir nichts davon gesagt?

„Also gut. Wenn Sie ihn noch sehen sollten, dann richten Sie ihm bitte aus, dass ich heute etwas früher gegangen bin und den Wagen mitgenommen habe. Haben Sie sonst noch etwas für mich?“

„Nein, Herr Keller. Nur Ihre Termine für morgen.“

„Gut. Vielen Dank, die können bis morgen früh warten. Ich habe es jetzt eilig. Dann noch einen schönen Abend.“

„Guten Abend, Herr Keller.“ Fräulein Matthiessen verlässt den Raum.

Heiko geht an den Wandschrank, entnimmt Regenmantel und Hut, schaltet die Tischlampe aus und verlässt das Büro. Er eilt die Treppe hinunter und gelangt durch eine Hintertür auf den Hof der Backwarenfabrik. Es regnet in Strömen, und obwohl er den Hof rennend überquert, ist er völlig durchnässt, als er in der ehemaligen Stallung eintrifft, wo nun die Lastwagen untergestellt werden.

„Dat is ja hüüt een Schietwetter, Chef“, begrüßt ihn Hinnerck Reimers, der in einen schwarzen Gummiumhang gehüllt ist.

Heiko kennt Hinnerck seit seiner Kindheit, als dessen Vater und er noch fahrende Gemüsehändler waren und das Herrenhaus der von Steinbergs täglich mit „Grointüch“ aus der Karre belieferten. Vor zwei Jahren war Hinnerck in finanzielle Schwierigkeiten geraten und musste sein Geschäft aufgeben. Als die Backwarenfabrik per Inserat im Courier einen Verantwortlichen für den Fuhrpark suchte – der neben den beiden Geschäftslimousinen mittlerweile aus drei größeren Last- und zwei Kastenwagen bestand –, hatte er sich beworben und die Stelle erhalten.

„Jo, mien Hinnerck, so is dat!“, stimmt Heiko ihm zu und schüttelt das Wasser von der Kleidung ab. „Föhrst man dien Laster een beeten to de Siet, ick wull mit mien Wogn rutföhrn.“

„Geiht klor, Chef! Ick wull noch mit di wat beschnacken, ick hef da so ’n Idee hat!“

Heiko nickt seinem Fuhrparkmeister freundlich zu. „Gut, Hinnerck. Kum mol moin to mi int Kontor.“

Nachdem Hinnerck den Lastwagen zur Seite gefahren hat, steigt Heiko rasch in den Opel Kapitän, lässt den Motor an und rollt langsam, zunächst über den Fabrikhof und danach durch das Tor, auf die Straße. Es regnet derart heftig, dass die Scheibenwischer es nicht schaffen, die Wassermassen beiseitezudrängen und ein klares Blickfeld zu hinterlassen. Heiko schleicht deshalb sehr behutsam durch die überfluteten Straßen, bis er vor seiner Haustür angelangt ist.

In diesem Augenblick scheint der Regen etwas nachzulassen, sodass Heiko mit dem Schlüssel in der Hand schnell über den Gehweg eilt und in das Haus gelangt.

„Clarissa, Liebes, ich bin da!“, ruft er freudig, indem er sich des nassen Hutes und des triefenden Regenmantels entledigt.

Clarissa stürmt geradezu die Treppe hinunter und fällt ihrem Mann in die offenen Arme. „Ach, mein Deichkater, ich bin ja so froh, dass du schon ...!“

Ihre letzten Worte werden von dem Kuss erstickt, den ihr Heiko auf die Lippen drückt.

„Warum bist du nur derart aufgebracht, mein Schatz? Was hast du denn?“ Heiko sieht sie fragend an.

„Ach, es ist nicht so schlimm, jetzt, wo du wieder bei mir bist. Wir können uns später über das kleine Problem unterhalten. Komm jetzt. Wir wollen erst einmal zu Abend essen.“

„Haben die Kinder schon gegessen?“, fragt Heiko, immer noch verunsichert.

„Ja, Silke bringt sie gerade ins Bett.“

„Dann will ich ihnen vorher noch kurz einen Gutenachtkuss geben. Ich komme gleich wieder.“

Eilig nimmt er auf der Treppe immer zwei Stufen auf einmal und geht zunächst in Elisabeths Zimmer. „Guten Abend, Silke. Na, was macht denn mein kleines Prinzesschen?“

„Guten Abend, Herr Keller.“ Silke überreicht Lissy ihrem Vater, der sie liebevoll in seine Arme schließt.

„Na, du kleines Wurzelweiblein, wie geht es dir?“ Spielerisch drückt er den Zeigefinger auf das Bäuchlein des Kindes, das vergnügt lacht und ihn anstrahlt. Mit einem Mal hebt Heiko das Baby hoch und dreht es rasch in der Luft herum. „Sieh dir nur die kleine fliegende Ente an!“, ruft er belustigt, während Lissy vor Vergnügen laut kreischt. Heiko hört mit dem Herumtoben auf, als er sieht, dass Clarissa lachend in der Tür steht. Er nimmt Elisabeth wieder auf den Arm und bringt sie zu ihrer Mutter, die ihr einen Kuss auf die Stirn drückt. Danach kriegt sie auch noch einen fetten Schmatzer von ihrem Papa, der sie sanft in das Kinderbettchen legt und ihr ins Ohr flüstert: „Schlaf gut, kleines Prinzesschen. Der Papa und die Mama gehen heute Abend noch aus. Wir sind aber morgen früh, wenn du aufwachst, wieder bei dir, mein Kleines!“

Clarissa und Heiko gehen ins Nebenzimmer, zu Oliver, der bereits sehnsüchtig wartend und mit ausgestreckten Armen am Gitter seines Bettes steht. Der Junge strahlt vor Freude, als seine Eltern in der Tür erscheinen, und strampelt ungeduldig mit den Beinchen.

„Na, mein Herr Sohn, was hast du heute wieder angestellt?“, fragt Heiko mit vorgespielter Strenge.

Oliver lacht freudig seinen Vater an, der ihn aus dem Bette hebt. Nachdem Heiko ihn für einen Augenblick gehalten und ihm über das blonde, gelockte Haar gestreichelt hat, kriegt er von der Mama und vom Papa je einen lieben Gutenachtkuss und wird wieder in sein Bett gebracht und zugedeckt.

„So, Oliver, schlaf recht schön. Wir besuchen noch den Großpapa, aber morgen früh sind wir beide wieder bei dir.“ Während sie die Treppe heruntergehen, fragt Clarissa: „Warum erzählst du den Kindern, dass wir weggehen wollen? Sie verstehen es doch noch gar nicht.“

„Ach, Clarissa, ich hatte als Kind immer Angst, wenn meine Großmama abends wegging und ich im alten Reetdachhaus allein bleiben musste.“

„Was, der große Deichkater hatte auch Angst?“, fragt Clarissa ungläubig.

„Ja, sogar panische Angst! Meistens waren sie ja alle weg, auch deines Vaters Brüder. Onkel Ewald, um seine Drogenabhängigkeit zu befriedigen, und Onkel Johann, um seinen Bierdurst in der Kneipe zu stillen. Das alte Reetdachhaus war für mich voller Gespenster und ich habe mich oft davor gegrault. Jetzt musst du lachen, nicht wahr? Natürlich, als ich dann etwas älter wurde, zwang ich mich dazu, keine Angst mehr zu empfinden.“

„Und ich habe immer geglaubt, dass der Deichkater mutig und furchtlos auf die Welt gekommen sei!“, witzelt Clarissa und lächelt Heiko an.

„Weißt du, Prinzessin? Mutig sein heißt keineswegs, sich nicht zu fürchten. Mutig ist man vielmehr erst dann, wenn man imstande ist, die Angst, die einen befällt, zu überwinden.“

„Um auf deine Frage zurückzukommen“, sagt Heiko, nachdem die beiden am Esstisch Platz genommen haben, „ich glaube fest daran, dass es immer ratsam ist, den Kindern stets ehrlich alles zu sagen, ohne sie – und auch nicht im Spaß – irgendwie zu hintergehen. Das Schönste, das uns die Kinder schenken können, ist ihr volles Vertrauen. Deswegen haben wir nicht das Recht, es auch nur im Geringsten zu missbrauchen.“

„Oh, mein weiser Deichkater, das hast du mal wieder sehr schön gesagt. Ja, ich denke, dass du recht hast. Damit nimmt man ihnen – sicherlich auch für später – die Angst vor dem Alleinsein.“

„Kluges Mädchen, du hast mich genau verstanden“, sagt Heiko zufrieden und füllt sich mit großem Appetit die aromatisch duftenden Birnen mit Bohnen und Speck auf, die ihnen Silke während dieser Unterhaltung aufgetischt hat.

Als das Abendessen beendet ist, geht Clarissa in das Schlafzimmer, um sich umzuziehen.

Heiko sucht die Zeitung, kann sie aber nirgendwo finden. „Silke, wissen Sie, wo der Courier geblieben ist?“, ruft er in die Küche hinein.

„Heute ist keine Zeitung gekommen, Herr Keller. Ich weiß nicht warum.“

„Seltsam“, murmelt Heiko etwas enttäuscht und begibt sich ebenfalls in das Schlafzimmer. Dort fragt er Clarissa: „Weißt du vielleicht, warum wir heute keine Zeitung bekommen haben?“

„Ja, Heiko. Der Courier ist heute nicht erschienen. – Man hat Friedrich Winkler abgeholt“, flüstert sie ihm leise zu. „Frage mich bitte jetzt nicht weiter, wir sprechen lieber später darüber.“

Beide ziehen sich schweigend um und machen sich zum Ausgehen fertig. Danach gehen sie gemeinsam in die Diele hinaus.

„Silke“, sagt Clarissa zum Hausmädchen, „wir sind bei meinen Eltern. Passen Sie bitte gut auf die Kinder auf. Sollten Sie uns brauchen, rufen Sie die 305 an, Sie wissen schon.“

„Ist gut, Frau Keller, machen Sie sich nur keine Sorgen.“ Nach einer kurzen Pause fragt sie: „Dürfte ich bitte im Salon noch den Rundfunk anhören? Heute gibt es im Reichssender Hamburg ein schönes Programm.“

„Ja, ist gut. Aber bitte schauen Sie ab und zu nach den Kindern, ja?“

„Vielen Dank, Frau Keller. Selbstverständlich passe ich gut auf die Kinder auf. Ich wünsche noch einen schönen Abend.“

„Vielen Dank, Silke, ebenfalls gute Nacht.“

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