Kitabı oku: «Makabrer Augustfund im Watt», sayfa 3
»›Böser Cop – guter Cop‹ funktioniert letztendlich immer noch am besten«, gibt Nili lächelnd zurück. »Und ja, mit dem, was wir erfahren konnten, kommen wir mit Sicherheit weiter.«
Bevor sie sich am Hamburger Hauptbahnhof voneinander verabschieden, sagt Lorenzen: »Bitte grüßen Sie meine ehemalige Partnerin, die Kollegin Förster, von mir. Sie ist doch bei Ihnen gelandet? Wie geht es ihrer Mutter?«
Nili spürt sofort, dass die beiden Kollegen über das Berufliche hinaus gut miteinander bekannt gewesen sein müssen. Deshalb berichtet sie ihm in ein paar Sätzen von ihrer Mitarbeiterin und deren MS-kranker Mutter, die seit einigen Wochen im Pflegeheim betreut wird. Zum Abschluss reicht sie ihm ihre Karte mit der Telefonnummer ihres Büros. »Hier können Sie sie jederzeit erreichen, wenn Sie mögen. Machen Sie es gut und nochmals herzlichen Dank für Ihre Unterstützung. Tschüss!«
Während sie am Hamburger Hauptbahnhof auf den nächsten DB-Regio-Zug nach Kiel wartet, setzt Nili eine SMS an Waldi ab, um ihm ihre Ankunftszeit mitzuteilen. Als der RE 70 etwas mehr als eine Stunde später im Kieler Hauptbahnhof einfährt, kommt er ihr am Bahnsteig mit der freudigen Ankündigung entgegen: »Ich habe fürs Abendessen einen Tisch bei unserem Griechen um die Ecke reserviert und auch gleich deine Teamkollegen dazu eingeladen. Wie ich deiner Nachricht entnommen habe, hast du wohl einige Neuigkeiten mitgebracht, und die sollten wir am besten gleich mit ihnen teilen!«
»Danke, Liebster, das finde ich prima! Aber bitte lass uns erst noch kurz zu mir nach Hause fahren. Ich muss unbedingt vorher duschen und diese nach Rauch stinkende Kleidung loswerden.« Während der Fahrt erzählt sie nur kurz von ihrer Begegnung mit Lorenzen. »Weitere Einzelheiten später bei Georgios! Haben dir die Kollegen die Kurzauskunft für Heidenreich übergeben?« Waldi bejaht und bestätigt, diese auch sofort ihrem Vorgesetzten persönlich überreicht zu haben.
*
Als Nili und Waldi kurz nach acht Uhr die Taverna Syrtaki betreten, sitzen bereits die Mitarbeiter des Teams an den leckeren Vorspeisen, die man hier für gewöhnlich den Stammgästen auftischt: das selbst gebackene knusprige Knobibrot, Maritas spezielles Tsatsiki, schwarze Kalamata-Oliven und die leckeren Dolmades – mit Reis gefüllte Röllchen im vergorenen Weinblättermantel. Heute werden sie ausnahmsweise von Marita begrüßt, weil Georgios wegen einer schmerzhaften Zahnbehandlung früher nach Hause gegangen ist.
»Wenn ihr damit einverstanden seid, würde ich euch heute eine neue Kreation anbieten, die Georgios und ich gemeinsam sozusagen ›verbrochen‹ haben: Auf der Insel Rhodos ist es eine althergebrachte Tradition, die Fastenzeit am Ostersonntag mit dem im Tontopf gegarten Rekiki, ein Milchzickleinbraten auf Reis, zu beenden. Ziegenfleisch ist hierzulande eher nicht so beliebt und auch nicht leicht zu bekommen, deswegen haben wir es versuchsweise durch einen Krustenbraten vom Schweinebauch ersetzt. So ein Topf reicht für sechs bis acht Portionen und ich dachte mir …« Allgemeines Nicken und lautes Klatschen unterbricht ihre Rede. Sie nickt und lächelt. »Der Topf hat bereits vier Stunden im Backrohr verbracht und ist in wenigen Minuten servierfertig. Was wollt ihr dazu trinken? Den üblichen roten Kamaro, Nili?« Alle bis auf Ferdl sind einverstanden: »Und wans für mi a kalts alkoholfreis Bia hättn, Frau Wirtin, wär a i recht happy!«, äußert er. »Zu so an Schweinernes passts eh besser und i muss euch ja a no z’hausführen!«
Während sie das Gericht mit allgemeiner Zustimmung genießen, berichtet Nili über die Neuigkeiten, die sich beim Besuch der Mainforths ergeben haben. Natürlich sorgt Ferdls sprichwörtlicher Appetit auch diesmal für die vollständige Entleerung des Tontopfinhalts.
Bevor sie sich verabschieden, übermittelt Nili, als sie und Margrit noch kurz zur Toilette gehen, Hanno Lorenzens Grüße. »Ich denke, er wird Sie bald anrufen, ich habe ihm unsere Karte gegeben.«
Margrit nickt mit einem Hauch von Traurigkeit im Blick: »Wir hatten uns sehr gern, er war ein prima und sehr verlässlicher Partner, aber irgendwie … Und dann war Schluss, denn ich musste ja wegen Mutter nach Kiel.«
»Hamburg ist nicht aus der Welt, Margrit, und wenn Sie möchten, dann wissen Sie ja, wo Sie ihn erreichen, nicht wahr?«
*
Am nächsten Vormittag tippt Nili gerade den Bericht ihres gestrigen Besuchs, als folgende Mail auf ihrem PC eintrifft:
Sehr geehrte Frau Kriminalhauptkommissarin,
wie gestern von Ihnen erwünscht, erhalten Sie nachstehend den gesuchten Namen: Herr Mihalis Marinakis – Ex-Besitzer des Restaurants ›Pharos‹ im Hamburger-Schanzenviertel. Damalige Anschrift: Steinstraße 4–6. Für Ihre weitere Info über neue Ermittlungsergebnisse den offensichtlichen Missbrauch unserer Daten betreffend danke ich bestens im Voraus. Mit freundlichen Grüßen, H. P. Mainforth.
Sie ruft sofort bei der Staatsanwaltschaft an und erreicht Doktor Uwe Pepperkorn. Nachdem sie ihm den Sachverhalt geschildert hat, bittet sie um Ausstellung eines Haftbefehls gegen den dringend Verdächtigen wegen Fluchtgefahr. Er verspricht ihr, dies umgehend in die Wege zu leiten.
Als alle von der Mittagspause zurück sind, fragt Nili in den Raum: »Haben sich inzwischen die Elmshorner Kollegen gemeldet?« Allgemeines Kopfschütteln. »Okay, dann frage ich mal dort nach. Robert, erinnern Sie sich vielleicht noch an den Namen der netten Reviervorsteherin in der Moltkestraße?«
Robert denkt kurz nach. »Leider nicht, Nili, tut mir leid!«
Ferdl ist rasch zur Stelle und deutet auf seinen Bildschirm. »Polizeihauptmeisterin Inge Mühldorf, hab i ausm Register!«
Nili lächelt. »Na denn rufen Sie die Dame gleich mal an und fragen Sie, ob sie und ihre Kollegen bei der Suche nach unserem Griechen schon etwas erreicht haben. Sollte bisher kein Ergebnis vorliegen, geben Sie ihr bitte den Namen dieses Mannes durch: Mihalis Marinakis. Vielleicht finden sie ihn damit eher.«
Wenig später meldet sich der Fachinspektor wieder: »Hallo, Kollegen, mal herhören! I stell Sie laut, Frau Mühldorf, könntens bitschön ois wiederholn, da hörn glei oi mit, okay?«
»Moin, Kollegen! Nett, mal wieder mit Ihnen zusammenzuarbeiten, Frau Masal! Trifft sich gut, denn wir waren gerade dabei, einen Bericht zu schreiben, als Ihr Anruf kam. Es gibt hier am Rande der Stadt tatsächlich eine freie Tankstelle mit Autowerkstatt, und zwar am Grenzweg in Klein Nordende. Der Betreiber ist ein gewisser Aristides Marinakis. Wir haben allerdings bisher nichts weiter unternommen.«
»Gute Arbeit, Kollegen«, lobt Nili, »vielen Dank! Warten Sie bitte auf uns, wir kommen noch heute zu Ihnen, dann können wir besprechen, wie wir es am besten angehen lassen. Tschüss, bis später!« Sie wendet sich an ihr Team: »Übrigens, wie weit sind Sie mit den drei Fallanalysen?«
Margrit hebt bedauernd die Schultern. »Wir sind noch nicht ganz fertig, Nili, sorry!«
»Mir zwoa san scho fast durch, ned wahr, Timo? Aba ois zamaschreibn müsst ma scho no!«
«Okay, Timo, übernehmen Sie bitte diese schriftliche Arbeit? Und Ferdl, ich würde Sie dann bitten, mich nach Elmshorn zu begleiten!« Sie deutet auf den vom Amtsgericht unterschriebenen Haftbefehl, den Hausbote Hugo Treumann soeben hereingebracht hat. Dann geht sie zum Waffenschrank und schnallt sich das Holster mit ihrer Dienstpistole um.
*
Der Streifenwagen mit den beiden Elmshorner Polizisten an Bord hält an der Zapfsäulenreihe an. Kurz danach folgen Nili und Ferdl im X3. Sie steigen aus und begrüßen sich; Nili kennt die beiden Beamten von einem früheren Einsatz 12 und stellt ihnen Ferdl vor. Anschließend begleitet Polizeimeisterin Lotte Hansen Nili in den Laden, während Ferdl und POM Thor Heymann zur Rückseite des Gebäudes gehen, wo sich die Werkstatt befindet. Vor deren Einfahrt parkt ein etwas ramponierter weißer Opel Transporter, im Inneren schraubt eine in einen Blaumann gehüllte Figur am Ölfilter des auf der hochgefahrenen Hebebühne stehenden VW Golf. Ferdl erkennt in ihm den Mann von dem Fahndungsfoto. Dieser hat ihr Herankommen nicht bemerkt »Des is unser Kasperl, packman?«, murmelt Ferdl dem Kollegen ins Ohr.
Polizeiobermeister Heymann nickt kurz und betritt die Werkstatt, die rechte Hand auf dem Griff seiner Dienstwaffe.
»Mihalis Marinakis? Polizei! Wir haben hier einen Haftbefehl gegen Sie. Sie sind vorübergehend festgenommen wegen des dringenden Verdachts, eine Minderjährige entführt zu haben. Bitte legen Sie das Werkzeug aus der Hand und kommen Sie mit erhobenen Armen zu uns!«
Mit überraschter Miene wendet sich Marinakis ihnen zu. Er zuckt kurz mit den Schultern und lässt den Maulschlüssel fallen. Dann kommt er der Aufforderung nach und tritt den Beamten widerstandslos entgegen. Ferdl legt ihm Handschellen an und sagt: »Gemma, Burschi, das wär’s dann für di gwesn!« Er führt den Festgenommenen zu ihrem Dienstwagen.
Im selben Moment treten Nili und Lotte Hansen aus dem Laden.
»Prima, dass Sie ihn gefasst haben!«, sagt die Polizeiobermeisterin.
Nili ergänzt: »Er ist der Bruder des Tankstelleninhabers und ist bei diesem nach seinem Konkurs untergekommen. Der arme Kerl hat alles verloren. Bis auf die nackte Haut haben die Bänker ihn gerupft!«
»Hättns bittschön die Nummer der SpuSi, Frau Chefin?« Schmunzelnd deutet Ferdl in Richtung der Werkstatt: »Sei oide Kraxn steht da vor der Garaschn!«
Nili ruft selbst an und bittet schließlich die beiden Kollegen, die Überführung des Transporters zur Itzehoer KTU durch einen lokalen Abschleppdienst in die Wege zu leiten, denn die dortige SpuSi befinde sich gerade in einem Großeinsatz.
*
Als sie später auf dem Weg nach Itzehoe sind, versucht Ferdl mit dem neben ihm im Wagenfond sitzenden Festgenommenen ins Gespräch zu kommen. Marinakis wiederholt allerdings stets nur das Wort »Anwalt«.
Nili interveniert: »Lassen Sie’s gut sein, Ferdl. Der Mann hat zwar schwere Schuld auf sich geladen, aber irgendwie kann ich ihn sogar verstehen. Bedauerlicherweise hat er sich dabei an einem vollkommen unschuldigen Mädel vergriffen. Das war eine üble Tat, für die er büßen muss. Andererseits sitzt er tief in der Scheiße und der Mitschuldige an seiner Misere sonnt sich in Saus und Braus. Sie hätten den Kotzbrocken erleben sollen!« Dann richtet sie sich an den Festgenommenen: »Hören Sie, Herr Marinakis: Ich kann Ihnen eine sehr gute Anwältin besorgen, die mit Sicherheit dazu beitragen wird, dass Ihre Bestrafung so mild wie möglich ausfällt. Sie könnte Ihnen vielleicht sogar dabei helfen, etwas von Ihrem verlorenen Geld zurückzubekommen. Sind Sie einverstanden?«
Marinakis dankt ihr mit Tränen in den Augen. »Das Ganze tut mir ja so leid, Frau Kommissarin! Ich wollte dem Mädchen nichts Böses tun, bitte glauben Sie mir!«
Über die Sprechanlage des Dienstwagens lässt sich Nili mit ihrer Freundin Kitt Harmsen verbinden. Sie erklärt ihr kurz den Sachverhalt. Kitt verspricht, die Akte anzufordern und sich am nächsten Morgen mit dem Festgenommenen zu treffen.
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Große Genugtuung ist auf ihren Gesichtern abzulesen, als sie Mihalis Marinakis im Büro des Leiters der Bezirkskriminalinspektion persönlich abliefern. Kriminaloberrat Stöver ist hocherfreut, dass Nili und Ferdl ihnen die Arbeit abgenommen haben, seine beiden Kommissare Westermann und Steffens hätten doch gerade alle Hände voll mit einem in letzter Nacht entdeckten Tötungsfall zu tun: Ein Familienvater habe seine beiden Kinder und die von ihm getrennte Ehefrau erstochen und sich danach selbst gerichtet.
»Das war äußerst flotte und sehr gute Arbeit, Frau Masal! Ihnen und Ihrem Team herzlichen Dank!«, lobt Staatsanwältin Doktor Bach, die ein ausnahmsweise gut gelaunter ›Hein Gröhl‹ herbeigebeten hat. Da Marinakis auch ihr gegenüber bis zur Ankunft seiner Rechtsanwältin schweigen möchte, übergibt sie ihm eine schriftliche Rechtsbelehrung und lässt ihn bis zu deren Eintreffen in eine Zelle abführen. Morgen soll er dann einem Ermittlungsrichter vorgeführt werden. Dann fragt die Staatsanwältin: »Sind Sie inzwischen mit den anderen Fällen weitergekommen, Frau Masal? Doktor Kramer berichtete mir bereits, dass Sie einige Cold Cases von vermissten Minderjährigen aus unserem Gerichtsbereich wieder aufnehmen wollten.«
»Insoweit ja, als wir uns gegenwärtig der intensiven Aktenstudie widmen, um daraus weitere Aktionen ableiten zu können. Zudem läuft unser Antrag beim Oberstaatsanwalt, um die Genehmigung zur Wiedereröffnung der Akten zu erhalten. Wir halten Sie selbstverständlich auf dem Laufenden.«
*
Es ist schon etwas spät an diesem Donnerstagnachmittag, als Nili und Ferdl das Polizeihochhaus in der Großen Paaschburg verlassen. Nili verspürt überhaupt keine Lust, jetzt im Hauptverkehr nach Kiel zurückzufahren. Nachdem sie in den Dienstwagen eingestiegen sind, hat sie eine Idee. »Haben Sie an diesem Wochenende etwas Besonderes vor, Ferdl?«
»Na, i ned, Frau Chefin, warum?«
»Mein Vorschlag wäre, es hier auf dem Lande zu verbringen? Wir würden jetzt nach Oldenmoor fahren. Bestimmt können Sie wieder bei Onkel Oliver und Tante Madde auf dem Holstenhof übernachten. Morgen Vormittag unternehmen wir dann eine kleine Pirschfahrt zu den drei Orten, von denen die Kinder verschwunden sind. Wie ich Sie kenne, haben Sie längst die Fallakten auf Ihrem heiligen Notebook gespeichert. Was halten Sie davon?«
»I bin dabei, Frau Chefin! Ist mir immer wieder ein Pläsier, bei Ihrer lieben Familie zu Gast zu sein.«
Nili öffnet die Fahrertür, steigt aus, geht um den Wagen herum und öffnet die Beifahrertür: »Fahren Sie bitte? Ich muss alle anrufen, um sie vorzuwarnen.«
3. Aus Nilis Tagebuch
Donnerstagabend. Obwohl wir Polizisten fast täglich mit vermissten Personen zu tun haben, konnte ich mir niemals vorstellen, wie ein lebendiger Mensch so einfach verschwinden kann, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Es mutet doch wie ein Science-Fiction-Film an, in dem plötzlich vor ihm ein Ufo mitten in Niemandsland landet und er, von Aliens entführt, auf Nimmerwiedersehen im Weltall entschwindet. Aber gerade so sieht es in den drei Fällen von abgängigen Kindern aus, die wir uns jetzt vorgenommen haben. Keins von ihnen hinterließ irgendeine Fährte. Und so handelte es sich eben nur um eine kärgliche Vermutung, mit der ich unseren Boss und den Oberstaatsanwalt mühsam davon überzeugen konnte, dass es vielversprechend ist, die Fälle wieder aufzunehmen. Vorhin wurde ich von Ferdl gefragt, warum ich mich überhaupt auf so zerbrechliches Eis begebe, denn auch das akribische Studium der Fallakten hätte nichts wirklich Handfestes ergeben, was man verfolgen könne. Ich sagte ihm nur, ich hätte dafür gute Gründe. Während des Abendessens im Onkel Suhls Haus ging mir aber seine berechtigte Frage nicht aus dem Sinn, ebenso wie die von mir gegebene Antwort.
Jetzt möchte ich dir, liebes Tagebuch, meine wahren Gründe anvertrauen: Wer kann schon die seelische Beklemmung und die Hilflosigkeit einer liebenden Mutter nachvollziehen, die wohlverstandene Wut des Vaters eines plötzlich abhandengekommenen Kindes, die klaffende Sehnsucht im Gemüt der Geschwister im gemeinsamen Kinderzimmer? Mitleid ist eben nur MITgefühl; das LEID kann nur jener selbst empfinden, den es trifft und der es auch selbst ertragen muss! Ich habe kein Kind in die Welt gesetzt, vielleicht weil ich mich auch nach so vielen Jahren immer noch nach meinem kleinen Bruder Hanan-Peres sehne, der jäh aus unserer Mitte entschwand. Klingt verwunderlich, habe ich ihn doch nie gekannt, denn er wurde einige Jahre vor meiner Geburt das Opfer der mörderischen Handgranate eines hinterhältigen PLO-Attentäters.
Gerade als ich diese traurigen Zeilen tippe, wird mir klar, warum ich Polizistin geworden bin. Gemäß unserem Eid sind wir gehalten, dem Recht dieser Bundesrepublik zur Geltung zu verhelfen. Ja, ich muss zugeben, dass es auch oft gerade dieses Recht ist, das im Wege der Gerechtigkeit steht, der sie nach dem Sinn eigentlich dienen sollte. Unser Grundgesetz und die Bundesrepublik Deutschland sind ein unglaubliches Wunderwerk, entstanden sie doch in der Nachfolge eines der barbarischsten Unrechts- und Verbrecherstaaten, die diese Welt je erlebt hat. Gerade deswegen fühle ich mich stets verpflichtet, diese dem Blut und der Verzweiflung von fast sechzig Millionen Opfern des Zweiten Weltkrieges gebührende Wiedergutmachung nach Kräften zu verteidigen. Denn schaue ich mich in unserer Geschichte um, ist diese demokratische Bundesrepublik Deutschland trotz all ihrer offensichtlichen Macken samt ihren utopischen linken und vor allem üblen rechten Randerscheinungen das beste Deutschland, das es je gab!
Klingt vielleicht allzu hochtrabend, aber wenn ich erneut diesen Satz lese, drückt er doch sinngemäß meine Gefühle durchaus zutreffend aus. So, jetzt geht’s mir besser. Gute Nacht!
Freitag. Als ich heute Morgen aufwachte und aus dem Fenster blickte, lachte mir wieder ein herrlicher Tag entgegen. Nach meiner üblichen Joggingtour in der frühen und noch frischen Luft genoss ich im Onkel Suhls Haus das gemütliche Frühstück mit Abuelita und Ima. Gegen neun Uhr kam Habiba, um wie an jedem Morgen Mutter zur Hege ihres geliebten Federviehs im Eulenhof abzuholen. Schön, dass sie jetzt einen Führerschein hat und sie daher Ima in vielen Aufgaben entlasten kann. Sie brachten mich zum Holstenhof, wo ich Ferdl aufsammelte, der nach dem gestrigen Abendbrot mit dem X3 zur dortigen Übernachtung gefahren war.
Ich bin mit der Umgebung Oldenmoors bestens vertraut, sodass wir uns gleich auf die B 431 begaben und uns auf in Richtung Glückstadt machten. Wir fuhren durch Brokdorf und kurz darauf entlang der mächtigen, weiß gleißenden Kuppel des Kernkraftwerks, das mit dem daneben befindlichen Schornstein vom Aussehen her einer Moschee ähnelt. Nachdem wir wenig später die Brücke am Störsperrwerk überquert hatten, bogen wir links ab und fuhren schließlich weiter, bis wir in Krempe, der zweitkleinsten Stadt Schleswig-Holsteins, eintrafen. Ferdl hatte die Adresse der Familie Martens in das Navi eingegeben, das uns direkt zu dem bescheidenden Einzelhaus Op de Wisch führte, aus dem die kleine Mia vor drei Jahren verschwunden war. Man hatte den Vorgarten offensichtlich längst dem Wildwuchs überlassen. Mit Beklemmung drückte ich mehrmals den Klingelknopf, aber niemand öffnete uns die Haustür. Eine junge Frau parkte ihren Kleinwagen auf der Garagenauffahrt des Nachbarhauses, und nachdem wir uns ausgewiesen hatten, erfuhren wir von dem Drama, das sich nach Mias Entführung abgespielt hatte. Im Verlauf der vielen Monate, in denen das Kind nicht aufgefunden worden war, wurde Alfred Martens Opfer seines Alkoholkonsums und daraufhin auch arbeitslos; zuletzt verbrachte man ihn in eine Entzugsklinik in der Holsteinischen Schweiz. Die verzweifelte und vergrämte Mutter verfiel zunehmend in Depression und erhängte sich vor etwa einem Jahr.
Wir bedankten uns bei der Frau und ich sah auch Ferdl seine Betroffenheit an. »A so an Schoaß aba ah!«, kommentierte er mit bitterer Stimme, als wir wieder im Auto saßen. »Hams scho recht ghabt, Frau Chefin, was Sie mir gestern auf mei blöde Frag gsagt ham!« Ich antwortete ihm, er habe sehr guten Grund gehabt, mir diese zu stellen, aber wie so oft im Leben käme wohl manch gute Absicht eben leider zu spät! Während er die nächste Adresse in das Navi eingab, murrte er leise vor sich hin, er hoffe, dass wir dort etwas Positiveres erfahren.
Nach wenigen Kilometern erreichten wir die kleine Gemeinde Elskop, die gerade etwas über einhundertsechzig Einwohner zählt. Schnell war die unscheinbare Nebenstraße Süshörn ausgemacht, die von der Dorfstraße abgeht. Besonders hart traf mich der Blick auf das farbige Schild an der Tür, auf dem die Namen der Familie Heger – Eike und Magdalene mit Pascal, Jule und Kevin – in kunterbunten Buchstaben gemalt waren. Frau Heger, eine nette und vollbusige blonde Frau, öffnete die Tür und bat uns herein, nachdem wir uns vorgestellt hatten. Ohne zu fragen, tischte sie uns zwei große Gläser ihres leckeren selbst gemachten Apfelsafts mit perlendem Mineralwasser auf. Ganz anders als die unter die Räder gekommene vorangegangene Familie hatten sie und ihr Ehemann sich gefasst und trotz des erlittenen schmerzlichen Verlustes des Erstgeborenen den Halt nicht verloren. Eike Heger ist Käsereimeister bei der Holstenmelk, Borsfleth. Kevin besucht noch die Volksschule, Juliane kommt demnächst zum Gymnasium. Mutter Magdalene betreibt einen kleinen Gemüsegarten hinter dem Haus und beliefert einen Hofladen im Ort. Sie zeigt uns Bilder aus einem Familienalbum. Der hübsche und aufgeweckt blickende Pascal wäre heute neun Jahre alt gewesen. Begeistert erzählt sie von ihrem geliebten Jungen, wie witzig und plietsch er gewesen sei, weit fortgeschritten für sein Alter. Obwohl damals noch im Vorschulalter, hätte er schon schreiben und lesen sowie ein wenig rechnen können. Offensichtlich hegte sie keinen Groll gegen die damaligen Ermittlungskollegen, attestierte ihnen hingegen, diese hätten alles Menschenmögliche getan, um Pascal wiederzufinden. Auf jeden Fall sei sie fest davon überzeugt, dass es ein Fremder gewesen sein musste, der ihren Jungen verschleppt habe. Von selbst wäre ihr Pascal niemals weggeblieben!
Ferdl bemühte sich, sie in seinem besten Hochdeutsch zu fragen, ob sie nach der langen Zeit darüber nachgedacht habe, wer das gewesen sein könne. Sie solle einfach ihren Einfällen freien Lauf lassen und keinerlei Hemmungen haben, auf irgendjemanden – egal wen – hinzudeuten. Frau Heger sah unseren Fachinspektor belustigt an und meinte, er sei doch bestimmt nicht von hier. Ferdl erzählte ihr, woher er komme und weshalb er mit uns zusammenarbeite. »Habe ich mir doch gedacht, Herr Fachinspektor!«, antwortete sie. »Wir haben einige Male am Neusiedler See Segelurlaub gemacht, Ihre Aussprache kam mir daher bekannt vor.« Ja, sehr oft habe sie sich darüber Gedanken gemacht, aber sie traue so etwas niemandem aus ihrer näheren Umgebung zu. Ich fragte daraufhin, ob es jemand gewesen sein könne, der regelmäßig in diese Gegend komme, etwa ein Markthändler, ein Postbote oder ein Logistikfahrer. Sie dachte kurz nach, aber ihr fiel niemand ein. Ich hinterließ ihr unsere Karte und bat sie, mich anzurufen, wenn ihr etwas einfalle. Sie bedankte sich herzlich dafür, dass wir erneut nach ihrem Pascal suchen wollen. Sie gehe nicht mehr davon aus, dass er noch am Leben sei, wäre aber schon sehr dankbar, ihn beerdigen und an seinem Grab trauern zu können. Habe ich mich getäuscht oder waren es tatsächlich zwei Tränen, die mein geschätzter Ferdl sich da ganz verstohlen aus den Augen wischte, während wir zum Dienstwagen zurückgingen. Ich habe allerdings meine eigene Traurigkeit nicht verborgen.
Unser drittes Ziel war nur etwas mehr als drei Kilometer vom aktuellen Standort entfernt. Allerdings war es inzwischen fast Mittag und wir empfanden es als unangebracht, um diese Zeit jemandem einen unerwarteten Besuch abzustatten. So fuhren Ferdl und ich zunächst nach Glückstadt und kehrten in das Restaurant Rigmor am Markt ein. Es ist jenes Lokal, in dem einst die junge und lebensfrohe Saadet Bassir ihre Gäste bediente. Erst fast drei Jahre nach ihrem tragischen Tod war es uns endlich gelungen, den Mann zu entlarven und vor Gericht zu bringen, der für die brutale Tötung der Kellnerin, ihres Geliebten sowie eines Mittäters verantwortlich gewesen war.13 Wegen dieser vorsätzlich und arglistig begangenen schweren Verbrechen verbüßt der ehemalige Apotheker nun diese für mindestens fünfzehn Jahre in der JVA Neumünster mit anschließend angeordneter Sicherheitsverwahrung.
Wirtin Silke Backhus erkannte mich sofort wieder und setzte sich kurz zu uns an den Tisch, während wir auf das bestellte Deich-Lammsteak mit grünen Bohnen und Bratkartoffeln warteten. Sie hat hier mittlerweile die Regie übernommen, während ihr Vater Sören seinen verdienten Ruhestand genießt. Nachdem wir ihr erzählt hatten, weshalb wir mal wieder in der Gegend recherchierten, sagte sie, sie kenne jemanden, der uns womöglich etwas mehr über die verschwundenen Kinder erzählen könne, und stellte uns die äußerst sympathische Lokalblattredakteurin Imke Lührsen vor. Wir baten die adrette Mittdreißigerin mit dem pfiffigen Ausdruck in den Augen an unseren Tisch. Sie konnte sich sehr gut an die damaligen traurigen Ereignisse erinnern. Da wir den Familienvater bei unserem ersten Besuch nicht angetroffen hatten, erfuhren wir nun von ihr, dass ebendieser Alfred Martens bis zu dessen Schließung bei einem Großverlag in Itzehoe als Drucker tätig gewesen war. Die Arbeitslosigkeit ereilte ihn wenige Monate vor dem Verschwinden der kleinen Mia, er fand aber eine neue Anstellung als Lagerist bei einer Meierei in Borsfleth. Diese war allerdings nur von kurzer Dauer, denn der Verlust seiner Tochter warf ihn vollkommen aus der Bahn. Der Selbstmord seiner Ehefrau gab ihm schließlich den Rest. Auch die Journalistin bescheinigte sämtlichen Polizeibehörden aus Glückstadt und Itzehoe, die sich damals auf die Suche nach Mia, kurz darauf nach Pascal und im vorletzten Jahr nach der achtjährigen Alina Kühl aus Herzhorn gemacht hatten, ihr Allerbestes gegeben zu haben. Buchstäblich jeden Stein hatten sie umgedreht, aber der arglistige Entführer habe sich stets derart gut getarnt, dass er bis zum heutigen Tag unbekannt geblieben sei. Gern werde sie uns nach Kräften bei der erneuten Fahndung unterstützen. Als Mutter von zwei Kindern sei sie selbst zutiefst betroffen angesichts der Traurigkeit, die solch ein Verlust für die unglücklichen Eltern bedeute. Ich bedankte mich und bat sie vorerst um äußerste Diskretion, um niemanden aufzuscheuchen. Im Gegenzug versprach ich, auf jedem Fall in der Sache den Kontakt mit ihr zu halten. Dann fragte sie mich, ob ich nicht zufällig jene Kommissarin sei, über die ihr Kollege Jan-Jürgen Ploog vom Oldenmoorer Courier schon mehrmals berichtet hätte. Ich bestätigte ihr, dass Jan-Jürgen mein Vetter sei und ich wisse, dass der Glückstädter Merkur demselben Kieler Verlag angehöre, sie solle sich aber darüber keinen Kopf machen, mit ihm hätte ich des Öfteren ebenso verfahren und es habe stets gut geklappt.
Nachdem wir mit Imke Lührsen die Handynummern ausgetauscht hatten, machten Ferdl und ich uns auf den Weg nach Herzhorn. Zuverlässig führte uns das Navi zum Heim von Jochen und Ellen Kühl am Schlotbohm. Als wir unseren X3 vor der Tür parkten, kam deren nunmehr sechzehnjähriger Sohn Thorben aus Richtung Glückstadt geradelt, wo er das Gymnasium besucht. Er berichtete uns, sein Vater sei in einer nahe gelegenen Ziegelbrennerei für den Versand verantwortlich und seine Mutter, eine gelernte Akustikerin, arbeite in einer Hörgerätefiliale am Glückstädter Markt. Thorben entpuppte sich als aufgeweckter und empathischer Teenager, der uns, nachdem er seine Mutter angerufen hatte, bis zu deren Eintreffen im gemütlich eingerichteten Wohnzimmer warten ließ. Er erzählte uns, dass der Verlust Alinas vor fast zwei Jahren auch heute noch schwer auf dem Gemüt der Familie liege und alle belaste.
Frau Ellen Kühl, die wenig später eintraf, war eine kleinere, untersetzte und offensichtlich sehr warmherzige Person, augenscheinlich wegen des nagenden Kummers vorzeitig gealtert. Sie äußerte ihre Freude darüber, dass wir uns erneut dem Fall widmen wollten, war sie doch fest davon überzeugt, dass ihre Alina noch am Leben sei. Sie wisse dies mit absoluter Sicherheit, eben weil sie die Mutter des Mädchens sei und Mütter so etwas fühlen! (Wie oft haben wir das schon hören müssen – wenn es denn nur ebenso oft stimmen würde!) Dann kam die obligate Frage, ob auch ich Kinder habe. Ich verneinte, versicherte ihr aber, dass ich ihre Gefühle vollkommen nachempfinden könne, habe ich doch ebenfalls den Verlust eines kleinen Bruders erleiden müssen.
Viel Neues konnten wir nicht von ihr erfahren. Wie wir bereits aus der Akte wussten, hatte die damals nur halbtags tätige Mutter ihre Tochter gegen Mittag von der Schule abgeholt und sie auf deren Wunsch für die kurze Zeit eines raschen Einkaufs im Dorfladen am neben dem Wohnhaus gelegenen Kinderspielplatz abgesetzt. Als sie Alina etwa eine Viertelstunde später wieder abholen wollte, war sie spurlos verschwunden. Nur eine Frau mit zwei kleineren Kindern war vor Ort. Sie berichtete, bei ihrer Ankunft sei niemand da gewesen, sie hätte das Mädchen nicht gesehen. Alinas Schultasche wurde etwa eine Woche später von einem Angler aus dem Herzhorner Rhin gezogen. Polizeitaucher hatten daraufhin einige Tage lang den kleinen Nebenfluss der Elbe akribisch durchsucht, aber keine weitere Spur gefunden. Auch der Blick in das Kinderzimmer verriet uns nichts Aufregendes, nur dass dieses Mädchen offensichtlich sehr gut malen konnte. Die an der Wand befestigten Bilder zeigten für eine noch nicht ganz Achtjährige bereits ungewöhnlich gut proportionierte Gegenstände, Figuren und sogar erkennbare Gesichter. Einem Impuls folgend zückte ich mein Smartphone und fotografierte jene, die mir besonders gut gelungen erschienen. Wir hinterließen unsere Karte, damit die Familie uns jederzeit anrufen könne.
Auf dem Weg zurück nach Oldenmoor machte ich einen kleinen Umweg zum neuen Fischhändler in Glückstadt, von dem ich im Restaurant Rigmor erfahren hatte, dass er gerade frische Makrelen im Angebot habe. Vor einigen Abenden hatte ich mir von einer Fernsehsendung ein afrikanisches Rezept herausnotiert, während ein sympathischer junger Mann die leckere Speise vor der Kamera zubereitete und detailliert über die Zutaten plauderte. Beim Fischhändler wählte ich zwanzig prima aussehende Filets, da ich das Gericht unbedingt zum morgigen Mittag ausprobieren wollte. Es war bereits angebracht, unser wohlverdientes Wochenende zu genießen, als wir wieder im Onkel Suhls Haus eintrafen. Wenig später tauchten auch Waldi und Robert auf, und nachdem wir einvernehmlich strikt vereinbart hatten, heute nicht mehr über die Arbeit zu reden, erlebten wir einen entspannten und unterhaltsamen Abend im kleinen Garten hinter dem Haus. Jeder trug dazu bei, indem er lustige Anekdoten und Begebenheiten aus der Jugendzeit zu Gehör brachte. Bevor wir zu Bett gingen, bereitete ich mit Habibas Unterstützung eine Marinade zu und legte darin die Makrelenfilets über Nacht ein. Wie wonnig war es, anschließend in den verlangenden Armen meines geliebten Waldi zu kuscheln und mit ihm eine bezaubernde Liebesnacht zu erleben!
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