Kitabı oku: «Raue Februarwinde über den Elbmarschen»

Yazı tipi:

Manfred Eisner

RAUE FEBRUARWINDE

ÜBER DEN

ELBMARSCHEN

Roman

Nili Masal ermittelt (3)

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Abbildung »Aufbau eines Windkraftparks« auf dem Titelblatt wird mit freundlicher Genehmigung des Fotografen, Herrn Marco Bernardi aus Neuendorf-Sachsenbande, wiedergegeben. Die Aufnahme entstand am 17.06.2010 in Nortorf, Kreis Steinburg, Schleswig-Holstein.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

»Unsere Wirtschaft soll erfolgreich und unsere Lebensweise umweltverträglich sein. Deshalb wird unser Energiekonzept zügig umgesetzt.«

Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel

Neujahrsansprache am 30.12.2011

»Das Ganze ist wirtschaftlich ungerecht, denn der normale Bürger zahlt die Zeche und eine große Zahl von Anlegern und Subventionsgewinnlern machen zum Teil unvorstellbare Gewinne.«

Reinhold Messner – weltbekannter Extrembergsteiger und Buchautor aus Brixen, Südtirol – in einem Gespräch über Windkraft.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitate

Vorwort – Das Ende eines Idylls

1. GROWIAN lässt grüßen

2. »Heiliger Sonntag«

3. Verschollen

4. Wetterumschwung

5. Aus Nilis Tagebuch

6. Recherchen

7. Ein fatales Interview

8. Auf Spurensuche

9. Indizienpuzzle

10. Wat dem eenen sien Uhl …

11. Geständnisse

12. Da capo

13. Anatomie einer Entführung

14. Erfolgversprechende Lagebesprechung

15. Endspiel

Kulinarisches

Danksagung

Der Autor

Vorwort – Das Ende eines Idylls

Bereits seit über 4.000 Jahren nutzt der Mensch die Kraft des Windes. Die Idee, sich dieses Geschenk der Natur zu eigen zu machen, reicht zurück bis nach Altägypten, wo auf einer 3100 v. Chr. datierten Vase ein Segelschiffmodell abgebildet ist. In späteren Zeiten verbreiteten sich im östlichen Mittelmeer bei den Phöniziern, Griechen und Römern die teilweise auch durch Wind angetriebenen Wasserfahrzeuge unterschiedlichster Art. Auch die Wikingerschiffe des 9. Jahrhunderts n. Chr. führten das charakteristische und allseits gefürchtete trapezförmige Rahsegel am Mast, das sie als erste Europäer sogar bis zum amerikanischen Kontinent hinüberbrachte. Die Koggen der Hanse, die Expeditionskaravellen der waghalsigen Entdecker und Erkunder unseres gesamten Globus und nicht zuletzt die Kriegsschiffe der Seemächte, die die neu entdeckten Gebiete eroberten und diese ihrer Schätze beraubten sowie deren Bewohner versklavten, aber auch jene der Piraten und Freibeuter, die ihnen die Beute wieder abjagten, hatten eines gemeinsam: Sie wurden vom Wind angetrieben. Es wird berichtet, dass im Jahre 1700 v. Chr. die ersten Windmühlen in Mesopotamien – dem heutigen Irak – gestanden haben sollen. Historisch belegt sind die Windmühlen aus dem 8. Jahrhundert n. Chr. in Persien. In Europa ist die erste in Dienst gestellte Bockwindmühle im Jahr 1105 datiert. Diese verbreiteten sich bis in das 16. Jahrhundert mannigfaltig über unseren gesamten Kontinent.


Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts verwendete man die Windkraft zum Antrieb solcher Mühlenwerke, um die unter Meeresniveau liegenden Marschländer Schleswig-Holsteins zu entwässern. Die Honigflether Bockmühle in Stördorf, Kreis Steinburg, ist das letzte noch funktionsfähige Schöpfrad Deutschlands. Sie förderte das Wasser aus den Ackergräben in die Wettern, von der es über die Stör schließlich in die Elbe abfloss. Das Bild wird mit freundlicher Genehmigung der Fotografin Frau Dagmar Krause, Wilster wiedergegeben.

Die Blütezeit der europäischen Windmühlen währte vom 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts, wo bis zu 200.000 Exemplare dieser ansehnlichen Bauwerke unsere Landschaften zierten. Der zunehmende Einsatz von Dampfmaschinen, elektrischer Strom und die Erfindung von Verbrennungsmotoren lösten schließlich die Windkraft ab und bedeuteten nach und nach das Ende ihrer Nutzung.


Die Brokdorfer Mühle von 1721 – seit 1895 in Besitz der Familie Wolfsteller – thronte voll funktionsfähig auf dem Elbdeich bei Osterende, bis sie 1939 vollständig abbrannte. Das Gemälde ist ein Werk des Dithmarscher Malers Christian Hadenfeldt (1883–1971) aus dem Jahre 1935. Im Vordergrund die ehemalige Kate der Familie Pfingst, in der heute das »Café in de Hörn« untergebracht ist; auf dem linken Areal befindet sich das Brokdorfer Freibad. Eigene Fotoreproduktion eines Gemäldes des Autors.

In den USA wurde 1887/88 die erste vollautomatische Windanlage zur Stromerzeugung gebaut. Dieser folgte 1891 ein Windkraftwerk in Frankreich, das elektrischen Strom produzierte. Ab den 1950er Jahren begann allmählich die Entwicklung von Wechselstrom generierenden Anlagen, vorwiegend in Dänemark, die zum Vorreiter in der Weiterentwicklung – allerdings zunächst kleinerer Anlagen – wurden. In Deutschland sammelte man die ersten Erfahrungen in diesem Fach mit der Einführung des Prototyps einer Groß-Windenergieanlage auf dem Dithmarscher Kaiser-Wilhelm-Koog Ende der 1970er Jahre. In Zusammenarbeit mit der Universität Regensburg und der Firma MAN hatte das Bundesministerium für Forschung und Technologie die Errichtung dieser in die Geschichte als »GROWIAN« eingegangene Entwicklung eines großen Windkraftwerks – übrigens gegen den öffentlichen Druck und Widerstand der maßgeblichen Energieversorgungsunternehmen – zwecks Erforschung der technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Windenergieerzeugung beschlossen. 1978 verordnete das Ministerium den Bau der bisher weltweit größten Windkraftanlage mit 100 Metern Turmhöhe und 100 Metern Flügeldurchmesser. Die Projektdurchführung oblag der Growian GmbH, an der die Hamburger Elektrizitätswerke (HEW), die Schleswag und die RWE beteiligt waren. Neben den bei der technischen Konzeption der Anlage begangenen Irrtümern (falsche Gehäuseauslegung, ungeeignete Werkstoffe, falsche Anbringung des Zweiblattrotors als Leerläufer auf der windabgewandten Turmseite) war es wegen der schon anfänglichen negativen Einstellung der Firmen, die hier agierten, voraussehbar, dass wenig oder überhaupt kein Interesse am Gelingen des Projektes bestand, ja sogar ein Vorstand eines der beteiligten Unternehmen bei deren Hauptversammlung öffentlich kundtat, man brauche den GROWIAN, um zu beweisen, dass Windenergie nicht gehe und das Ganze lediglich »so etwas wie ein pädagogisches Modell« sei, »um Kernkraftgegner zum wahren Glauben zu bekehren«. Weil von vornherein – unbewusst oder bewusst? – fehlerhaft konzipiert, konnte die Anlage niemals bei voller Leistung betrieben werden. Die meiste Zeit stand sie wegen technischer Probleme und Reparaturbedarfs still. Im Sommer 1988 wurde der GROWIAN – der während seines Testbetriebes von fast vier Jahren lediglich 420 Stunden Betrieb aufweisen konnte – endgültig stillgelegt und wieder abgerissen. Nach der Energiekrise 1973/74 erfolgte aber ein erneuter Startschuss, um die Erdölabhängigkeit zu reduzieren. In der Folge der ersten kleineren, hier und dort aufgestellten Windräder wurden diese Bemühungen später vor allem durch die Bundesregierung mit dem neuen Gesetz für den Vorrang Erneuerbaren Energien vom März 2000 forciert. Immer mächtiger wurden seitdem die hohen Masten, umfangreicher deren Flügel, gewaltiger die Leistung, zahlreicher die Windparks sowohl auf dem Lande als auch in unseren Küstengewässern. So rasch und offensichtlich planlos wuchsen diese, dass man es bis heute noch nicht schaffen konnte, all die erzeugten Wind-Energiemengen auch dorthin zu befördern, wo sie gebraucht werden.


Diese GROße WIndenergieANlage (GROWIAN) entstand 1987 als einer der ersten Versuche zur alternativen windangetriebenen Energieerzeugung im schleswig-holsteinischen Kaiser-Wilhelm-Koog. Ihr war kein gutes Omen beschieden: Wegen grundsätzlicher Fehlkonzeption hatte sie mehr Pannen und Stillstand als brauchbare Funktionszeiten und wurde 1988 abgewrackt. Der Turm sowie eines der Rotorblätter werden im Technik-Museum in Sinsheim ausgestellt. Das Foto wird mit freundlicher Genehmigung von Mr. Paul Gipe – weltbekannter US-amerikanischer Spezialist für Regenerative Energien – wiedergegeben (Photo by Paul Gipe – All rights reserved).

Ungeahnte Hindernisse bauten sich da auf: Den einen sind die riesigen Strommasten, den anderen die um ein Vielfaches kostspieligeren unterirdischen Kabeltrassen ein Dorn im Auge. Die derart entstandenen Staus bei Stromerzeugung und -transport verschlingen Unsummen, und diese gehen schamlos – den Letzten beißen bekanntlich die Hunde – zu Lasten der Verbraucher-Portemonnaies. Schade! Natürlich kann die Menschheit auf Dauer nicht ohne alternative – und vor allem auch absolut verbrennungslose – Arten der erneuerbaren Energiegewinnung überleben. Dennoch kann sich der Autor beim Anblick der pausenlos rotierenden Giganten sowie der während der Nacht unaufhörlich blitzenden oder rot blinkenden Umgebung nicht der nostalgischen Sehnsucht nach den ehemals von harmonischen Landschaften gesäumten formschönen und sanften Windmühlen erwehren.

Manfred Eisner, im Herbst 2016

1. GROWIAN lässt grüßen

»Nichts ist mehr so, wie es früher einmal war!« Oma Clarissa legt mit einem tiefen Seufzer des Bedauerns den Courier beiseite und setzt die Lesebrille ab.

»Wie meinst du das, Abuelita?« Nili sitzt mit ihrer Mutter Lissy und der Omi vor dem wohlige Wärme ausstrahlenden Kamin im Wohnzimmer vom Onkel Suhls Haus in Oldenmoor, der kleinen Stadt in den Elbmarschen. Der Februar hat bisher relativ wenig Niederschlag gebracht, bedingt durch das stabil herrschende Hochdrucksystem über Norddeutschland mit seinen rekordverdächtigen Niedrigtemperaturen. Draußen ist es eisig kalt und das Thermometer zeigte in der letzten Nacht minus 15 Grad Celsius an. Deswegen machen es sich die drei Frauen an diesem späten Samstagnachmittag auf Sofa und Sessel dicht vor dem Kamin gemütlich.

»Ach, Kindchen! Ich meine ja nur so. Als ich noch ein Kind war, war das Lebenstempo viel gemächlicher. Man ließ alles ruhiger angehen, die Leute hatten – oder besser gesagt nahmen sich – für sich selbst und ihre Familien und Freunde viel mehr Muße, obwohl die tägliche Arbeitszeit doch erheblich länger war als heute. Ich möchte nicht das Gezeter hören, wenn man auf eine 48-Stunden-Woche zurückkehren wollte. Die alltäglich geläufigen Begriffe ›Stress‹ und ›Burn-out‹ waren absolut unbekannt, das Leben verlief in ruhigeren Bahnen. Obwohl – das muss ich fairerweise einschränken – dieses Idyll mit dem Aufkommen der Nazis und schließlich der Machtergreifung Hitlers ein abruptes Ende fand.«

»Nun ja, liebe Oma, die Zeiten ändern sich, das ist nun mal so. Immerhin arbeiten viele Leute auch heute weit über das vorgegebene Maß hinaus. Sieh mal, ich muss erst wieder am nächsten Donnerstag zum Dienst, weil ich so viele Überstunden abzufeiern habe.«

»Ja, ja, ich weiß! Die Zeit lässt sich eben nicht zurückdrehen. Aber das, was jetzt hier um uns herum passiert, ist auch nicht gerade beruhigend. Die eskalierenden Auseinandersetzungen von Befürwortern und Gegnern der Windkrafträder in unserer Region machen mir doch Sorgen. Heute berichtet Maddes Neffe, Jan-Jürgen Ploog, in seinem Leitartikel des Courier von den kontroversen Argumenten der heftig aufeinanderprallenden Eiferer auf beiden Seiten. Da wird mit echt harten Bandagen gerungen.«

»Wat dem eenen sin Uhl, is dem anneren sin Nachtigall!«, zitiert Ima Lissy auf Plattdeutsch.1

»Ja, Ima, stimmt! Aber es muss doch möglich sein, auch hier einmal Vernunft walten zu lassen und den realen Bedarf an erneuerbaren Energiequellen nüchtern und etwas leidenschaftsloser zu erörtern. Es ist wahr, dass die von der Bundesregierung als Reaktion auf die Atomkatastrophe im japanischen Fukushima – zwar leider ohne die gebotene Vorausplanung – verordnete Kehrtwende mit Ausstieg aus der Atomenergie eher populistischer Natur war und sozusagen aus Frau Merkels Bauch heraus erfolgte, um von vornherein den Atomgegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ebenso wahr ist aber, dass wegen der hierdurch verursachten Kluft in der Stromerzeugung für die nach und nach stillgesetzten Kernkraftwerke schnellstmöglich Ersatz geschaffen werden muss. Hier im Norden haben wir als alternative Energiequellen nur bedingt etwas Sonne, dafür jedoch Wind im Übermaß zu bieten. Eine weitere Verschmutzung der Umwelt durch CO2- Emissionen von mit Gas, Kohle oder Erdöl betriebenen Kraftwerken können wir uns überhaupt nicht mehr leisten, im Gegenteil: Diese müssen ebenfalls nach und nach abgeschafft werden.«

»Bravo, Nili, besser konnte es selbst unser Jan-Jürgen in seinem Plädoyer nicht formulieren«, bestätigt Clarissa. »Doch leider steht der menschlichen Vernunft meist die maßlose Geldgier im Wege. Dadurch werden gelegentlich intime Freundschaftsbande und familiäre Verbindungen zunichtegemacht. Im Artikel wird erwähnt – allerdings ohne Nennung der Namen –, wie sehr die Mitglieder einer gewissen Bauernfamilie wegen der Errichtung dreier Windräder auf ihrem Acker ernsthaft zerstritten, ja sogar verfeindet sind.«

»Das erinnert mich an den alten Witz vom Josele«, kommentiert Lissy mit einem verschmitzten Lächeln.

»Welchen meinst du denn, mein Kind?«, fragt Oma Clarissa.

»Ach, Ima, erzähl doch bitte!«, bettelt Nili.

»Also gut.« Lissy räuspert sich. »Eines Tages kommt der Josele zum Rabbi. Fragt der Rabbi: ›Nu, Josele, was hast du?‹ Der antwortet: ›Rebbe, ich versteh die Welt nicht mehr!‹ Fragt der Rabbi: ›Wieso? Was ist passiert?‹ – ›Nun ja‹, antwortet Josele, ›der Moischele und ich sind gewesen wie Brüder. Wir kennen uns seit der ersten Kindeszeit. Wir waren zusammen im Kindergarten, dann in der Schule. Wir haben geheiratet zusammen ein Zwillingspaar, hatten eine gemeinsame Hochzeit. Alles war wunderbar bis letzte Woche, da hat der Moischele plötzlich gewonnen im Lotto, sechs Richtige mit Zusatzzahl. Hat gemacht zweieinhalb Millionen. Und jetzt plötzlich tut er so, als ob er mich nicht kennt. Ich bin für ihn ein Fremder, hat er mir gesagt. Rebbe, ich versteh die Welt nicht mehr!‹ – ›Mm…‹, überlegt der Rabbi und streichelt seinen langen weißen Bart. Dann sagt er: ›Josele, geh zum Fenster und schau hinaus. Was siehst du?‹ Josele blickt hinaus und sagt: ›Nun ja, Rebbe, was man soeben auf der Straße sieht: die Leute, die Autos, die Bäume.‹ – ›So, Josele, und jetzt geh hinüber zum Spiegel und sag mir, was du siehst.‹ Josele folgt dem Rabbi und antwortet: ›Nu, was schon soll ich sehen? Mich selbst!‹ Sagt der Rabbi: ›Ja, mein lieber Josele, das Leben ist eben wie eine Glasscheibe. Normalerweise kann man durch sie hindurch alles sehr gut sehen. Aber kaum kommt ein bisserle Silber dazwischen, sieht man nur noch sich selbst!‹«

»Wie wahr, Ima!« Nili erhebt sich, denn es hat soeben an der Haustür geklingelt. Sie geht, um zu öffnen. Die bekannte Silhouette, die sich auf der matten Fensterscheibe abzeichnet, beschleunigt ihren Herzschlag vor Freude und sie zieht schwungvoll die Tür auf. »Waldi, Liebster, was für eine schöne Überraschung!«

Beide geben sich einen sehr langen Kuss.

»Ich hatte gar nicht mit dir gerechnet! Komm erst mal rein, dein Gesicht fühlt sich eisig an, du bist ja halb erfroren!«

»Ja, bei den vereisten Straßen habe ich es vorgezogen, mit der Bahn zu fahren. Und am Bahnhof stand natürlich mal wieder kein Taxi bereit, da bin ich eben zu Fuß hergelaufen.«

»Du Armer! Hättest du mich angerufen, dann wäre ich hingefahren, um dich abzuholen! Komm, gehen wir ins Wohnzimmer, damit du dich am Kamin etwas aufwärmen kannst!« Sie schließt die Tür und geht vor. »Abuelita, Ima, seht mal her, Überraschung!«

Sehr herzlich begrüßen die beiden Frauen den Ersten Kriminalhauptkommissar Walter Mohr vom Kieler LKA, wohl in seiner dreifachen Funktion als Nilis Vorgesetzter, Kollege und – wie man heute zu sagen pflegt – der Mann an ihrer Seite.

»Ich bitte höflichst, diesen unangemeldeten Überfall zu entschuldigen, meine Damen!« Er begrüßt Clarissa und Lissy in seiner gewohnt freundlichen Art. »Es ist ja so, dass Nili für die nächsten paar Tage nicht in Kiel sein wird, und ehrlich gesagt sind mir diese ohne sie viel zu lang und öde.« Nun lächelt er Nili an. »Wir sind doch sowohl im Job als auch privat ein eingespieltes Team, nicht wahr, mein Schatz?«

»Aber, aber, Herr Mohr«, Lissy lacht, »dafür brauchen Sie sich doch nicht zu entschuldigen! Sie wissen ja, dass Sie in unserem Hause jederzeit gern gesehen sind! ›Mi casa es su casa‹, wie man in Südamerika sagt. Mein Haus ist Ihr Haus!«

»Ich danke Ihnen, sehr geehrte Frau Masal, das ist wirklich nett von Ihnen!«

»Ach, Leute, lasst doch bitte ein für alle Mal diese steifen norddeutschen Förmlichkeiten«, regt Nili an. »Waldi und ich sind schließlich ein Paar und ihr solltet euch endlich duzen!« Sie macht Anstalten, das Wohnzimmer zu verlassen. »Ich setze rasch Wasser auf. Dann gibt es einen schönen heißen Grog für uns alle, und es wird ›ornlich‹ auf Du und Du geprostet! Basta!«

»Nili hat gesprochen!«, kommentiert Oma Clarissa mit einem vergnügten Lächeln.

*

Diplomingenieur Wolfgang Schneider sitzt am Schreibtisch seines Arbeitszimmers, das in dem großen reetgedeckten Barghus am Störufer in der Nähe von Itzehoe untergebracht ist. Hier hat die Wind-Powermasters – Genossenschaft mit beschränkter Haftung – seit etwa fünf Jahren ihr Hauptquartier etabliert. Er überarbeitet den Lageplan des letzten Windparks, den das Unternehmen zurzeit in der Nähe der Kleinstadt Oldenmoor neu errichtet. Im letzten Jahr konnte man wegen der sehr spät einsetzenden Frostperiode bis in den Monat Dezember hinein Fundamentgruben für die Tragesäulen der Windkrafträder ausheben. Es war sogar gelungen, den ersten Mast aufzustellen, bis dann die strenge Kälte eine Unterbrechung der Arbeit verursachte. Der sechzigjährige schlanke und gut aussehende Mann mit den krausgelockten grauen Haaren blickt nachdenklich aus dem Fenster und sieht in der Ferne eine noch unvollständige Windanlage in den trüben winterlichen Himmel aufragen. Er zündet sich eine Zigarette an und betrachtet tief in Gedanken versunken den ausgeatmeten Rauch. Über dreißig Jahre ist es her, seit er erstmals mit der Windkraft in Berührung gekommen ist. Nach seinem Maschinenbaustudium an der Berliner TH hat er Ende der siebziger Jahre als junger Angestellter am Institut für Aerodynamik und Gasdynamik der Universität Stuttgart seine ersten Erfahrungen in diesem Fach mit der Einführung des GROWIAN-Prototyps auf dem Kaiser-Wilhelm-Koog gesammelt. Wenigstens einen Vorteil hatte das verunglückte Unternehmen für ihn, lernte er doch im benachbarten Friedrichskoog jene junge Frau kennen, die er dann auch später heiratete und die ihm drei Kinder schenkte. Heute lebt er mit Ehefrau Silke in einer Vierzimmerwohnung in der Stadt Wilster.

Schneider drückt die Zigarette im Aschenbecher aus und widmet sich abermals seinem Lageplan. Dr. Jürgen Böckmann, Leiter des Rechnungswesens der Genossenschaft, hatte ihn telefonisch darüber informiert, dass der Erste Vorsitzende und Geschäftsführer, Alfred Rademacher – bei den Genossenschaftsmitgliedern wegen seines ungebremsten Aktionismus unter vorgehaltener Hand »Windiradi« genannt –, bei der letzten Versammlung festgestellt habe, dass inzwischen etwa fünfundzwanzig neue Mitglieder der Genossenschaft beigetreten seien und entsprechende Beiträge für ihre Geschäftsanteile zur Verfügung gestellt haben. Dies geböte, die neu zugeflossenen Gelder baldmöglichst zu investieren, weshalb er Schneider angewiesen habe, den Lageplan des jetzigen Windparks noch einmal auf die Möglichkeit zu überprüfen, mindestens fünf weitere Windkrafträder auf diesem Areal aufzustellen. »Die Kerle gehen mir langsam auf den Senkel«, murmelt er und seufzt. »Die können einfach den Hals nicht vollkriegen!« Man verspricht den Anlegern wahnwitzige Zinserträge auf ihre Genussscheine, die seines Erachtens niemals erwirtschaftet werden können. Aber die Gier treibt die Investoren und vernebelt ihren Verstand. »Und unsere gewissenlosen Herren des Vorstands nutzen dies schamlos aus, ohne Rücksicht auf Verluste!«

Wolfgang Schneider hatte »sein« GROWIAN-Projekt bis zum endgültigen Abriss der Anlage betreut und fand sich danach arbeitslos. Wider dessen technisches Scheitern war er durch die gemachten Erfahrungen von der Effizienz und Zuverlässigkeit von Windkraftanlagen überzeugter denn je. Er war sich sicher, dass die Euphorie der friedlichen Atomnutzung spätestens bei der Suche nach einer geeigneten Endlagerungsstätte für die abgenutzten Brennelemente irgendwann ein jähes Ende finden würde und man sich schon deshalb der Schaffung alternativer Energiequellen zuwenden werde. Bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war doch die gesamte Landesfläche Schleswig-Holsteins mit Windmühlen aller Arten für vielseitige Verwendungszwecke überzogen. Nicht nur für das Mahlen von Getreidearten, zur Ölgewinnung, der Wasserschöpfung, Marschentwässerung und für andere Nutzungen setzte man damals seit uralten Zeiten erfolgreich auf die stets vorhandene Naturkraft. Diese wurde erst durch den Einsatz elektrisch betriebener Pumpen und Motoren ersetzbar. Und nun erhob sich gerade mit der Generierung dieser elektrischen Kraft erneut die akute Frage, die nach adäquaten Antworten verlangte. »Also back to the roots – zurück zu den Anfängen«, sagte sich der optimistische Ingenieur und suchte nach Gesinnungsgenossen, mit denen er gemeinsame Sache machen konnte. Die Anfänge gestalteten sich mehr als schwierig, waren doch damals die kühnen Unternehmen, die sich an die Herstellung von Windkrafträdern heranwagten, dünn gesät. Durch gezielte Anzeigen in Fachzeitschriften empfahl sich Schneider als sachkundiger Berater und gelangte nach und nach an zeitlich begrenzte Aufträge, indem er mit wechselnden Herstellern bei Planung und Aufstellung der Anlagen kooperierte. So war er ab 1989 für verschiedene Firmen tätig und an einigen der ersten im Lande aufgestellten Windkraftanlagen in Burg auf Fehmarn, Barnitz und Schürsdorf beteiligt. Als er danach in der Branche bekannter war, etablierte er sein eigenes Planungsbüro – S-WK-Engineering – in ebendiesem ehemaligen Bauernhaus, das er kostengünstig erstanden und liebevoll renoviert hatte, und machte dann auch seiner Silke einen Heiratsantrag. Seine berufliche Laufbahn war durch die den selbstständigen Unternehmern eigenen Aufs und Abs gezeichnet, weshalb er einigermaßen froh war, als die neu gegründete Wind-Powermasters Genossenschaft ihn vor etwa fünf Jahren mit einem gut dotierten Gehalt als technischen Leiter einstellte und seinen Bauernhof gegen eine erkleckliche Monatsmiete zu deren Hauptquartier machte. Da seine Kinder inzwischen allesamt aus dem Hause waren, zog auch er aus dem für das Ehepaar viel zu groß gewordene Barghus in seine jetzige Vierzimmerwohnung nach Wilster um.

Etwas verbittert untersucht Wolfgang Schneider abermals mit scharfem Blick das ausgewiesene Areal, um dessen Nutzung als Standort der Windkraftanlagen schon seit Bekanntwerden des Projekts ein erbitterter Streit zwischen Befürwortern und Gegnern ausgetragen wird. Beide Parteien haben mit harten Bandagen gerungen, und diese Auseinandersetzungen sind nicht ohne seelische und sogar körperliche Blessuren abgelaufen. Ebenso wie der gesamte Vorstand der Genossenschaft ist auch Schneider nicht von harten Vorwürfen und Verunglimpfungen verschont geblieben, wurde er sowohl mündlich als auch im Internet des Öfteren als »Lakai der Windkraftmafia« beschimpft und bedroht, war er doch stets überzeugt von der Richtigkeit des Einsatzes der Windkraft für die Energieerzeugung, wie er es in sämtlichen öffentlichen Veranstaltungen deutlich kundgetan hatte. Allerdings muss auch er sich ehrlicherweise eingestehen, dass das Maß des für die Anrainer der Windparks Erträglichen inzwischen nahezu voll ist, weil die Anzahl der Windenergieanlagen durch die grenzenlose Geldgier von Erbauern und Betreibern der immer größer werdenden Windräder weit überzogen wurde – und immer noch wird. Nachdenklich zirkelt er auf dem Plan hin und her, um die vom Vorstand geforderten zusätzlichen Anlagen unterzubringen. Kein leichtes Unterfangen, gilt es doch sowohl die rechtlichen Vorgaben als auch die physikalischen Gesetze stimmig zu koordinieren: Mindestens 800 Meter Abstand zu Siedlungen und 500 Meter zu einzeln stehenden Häusern sind da einzuhalten. »Da steht doch diese alte Kate mit gerade mal 480 Metern schon viel zu nahe dran!«, murmelt er. »Und dort, am südlichen Rand der Fläche, befindet sich der kleine Fünf-Häuser-Ort bereits in 822 Metern Distanz!« Die 2,4-Megawatt-Windräder, die hier aufgestellt werden, haben Rotoren mit einem beachtlichen Durchmesser von 117 Metern. Ihre Masten ragen 140 Meter hoch in den Himmel. Mit der Vorgabe, dass Windräder mit einem Mindestabstand vom Fünffachen des Rotordurchmessers aufgestellt werden sollen, damit sie sich nicht gegenseitig »den Wind aus den Segeln nehmen«, müsste also jedes von ihnen hier einen freien Umkreis von 585 Metern haben. »Hat doch alles keinen Sinn, meine Herren vom Vorstand! Ich kann so viel hin und her zirkeln, der Platz wird dadurch einfach nicht größer!« Resigniert legt Schneider den Plan beiseite und greift zum Telefon.

*

Zwei Wochen zuvor ist es auf dem Thodehof am Rande der Kleinstadt Oldenmoor hoch hergegangen. Während die Familie in der Wohnküche beim Mittagessen versammelt ist, verkündet halblaut Jungbauer Norbert Bahlke seiner Ehefrau Regine: »Ich habe heute Vormittag mit dem Filialalleiter der Holsteinischen Bank verhandelt und wir sind uns einig geworden. Herr Sievers sagte mir den Kredit für den Ankauf von fünf Genussscheinen der Wind-Powermasters Genossenschaft zu. Sie werden zur Sicherheit bei der Bank deponiert und der Kredit wird mit den fest zugesicherten Zinsen, die die Genussscheine abwerfen, abgegolten, sodass uns dadurch praktisch keine Spesen entstehen.«

»Verdammich nomol! Hört dat nie op?« Altbauer Theo Thode haut mit der Faust so hart auf den Tisch, dass das gesamte Geschirr klappert. »Ick kun juun bloides Gesabbel nie nich mehr höörn! Un erpressen lass ick mich schon gor nich!« Wutentbrannt schiebt er den nur bis zur Hälfte leer gegessenen Teller Erbsensuppe von sich, knallt den Löffel auf den Tisch, steht auf und verlässt schwer hinkend die Wohnküche. Er hat sich die Verletzung vor zwei Jahren zugezogen, als er in ziemlich angetrunkenem Zustand vom eigenen Trecker gefallen ist und dabei auch noch sein rechtes Bein von dessen mächtigem Hinterrad überfahren wurde. Der längere Krankenhausaufenthalt und ein vom Unfall verbliebener Gehschaden haben ihn dazu bewogen, den Bauernhof samt Viehwirtschaft sowie die 65 Hektar großen Ackerflächen seiner Tochter Regine und dem Schwiegersohn Norbert Bahlke in Erbpacht zu überlassen. Mit Anfang sechzig war er zu der Zeit zwar noch zu jung, um sich vom seit Generationen ererbten Hof der Thodes zu lösen, aber er musste erkennen, dass ihm nach dem Verlust seiner treuen Siglinde, die vier Jahre zuvor an Brustkrebs verstorben war, jegliche Lebenslust – samt der vormaligen Freude an der Landwirtschaftsarbeit – abhandengekommen war. Der einst so gesellige und unternehmungslustige Kerl mutierte zu einem sehr stillen, in sich gekehrten und stets muffigen männlichen Wesen, das sich mehr der Flasche als der Familie und den Belangen des Gutshofs widmete. So brachte er dem Begehren der Tochter und ihres Mannes nach seiner Abdankung aufgrund des unhaltbar gewordenen Zustandes von Finanzen, Haus und Hof kaum Widerstand entgegen. Ja, er gestand sich insgeheim sogar ein, dass er darüber froh war, von diesen lästig gewordenen Bürden entbunden zu werden. Obwohl er damit die gesamte Wirtschaft und Verantwortung seiner Nachkommenschaft überließ und sich nur dann über das Tagesgeschehen äußerte, wenn er danach gefragt wurde, gab es in einer Hinsicht – nämlich jener der eventuellen Aufstellung von Windenergieanlagen auf seinem Grund und Boden – eiserne Ablehnung. »So’n Schietmobil kommt mi nie nich op mien Land! Da ward man bloss vun ramdösig. Un de Keu, de warn bregenklöterig un givt dann ok keen Melk mehr!« Die jungen Bauersleute, die von nun an für das Überleben des finanziell ziemlich ramponierten Gutes Sorge zu tragen hatten, sahen dies allerdings ganz anders, versprach doch die Jahrespacht für die Aufstellungsfläche einer Windenergieanlage – je nach erbrachter KWh-Leistung – bis zu 25.000 Euro. Sie versuchten deshalb dem Altbauern die Erlaubnis für die Verpachtung einer etwas weniger als 6 Hektar großen Fläche für die Aufstellung von vier Windrädern abzuringen. Die Rechnung, die die Tochter dem sturen Vater vorlegte – bei einem durchschnittlichen Ertrag von 8 Tonnen Weizen je Hektar wären auf diesem Ackerstück bestenfalls 48 Tonnen und ein Bruttoerlös von gerade mal 8.200 Euro erzielbar; dagegen stünden bis zu 100.000 bare Euro jährlich! –, konnte ihn dennoch nicht überzeugen, war doch seine Abneigung gegen diese ständig Schatten werfenden und in der Nacht rot blinkenden Ungeheuer unumkehrbar. Total entnervt haben ihm daraufhin heute Tochter und Schwiegersohn tatsächlich die Pistole an die Brust gesetzt, indem sie ihn vor die Alternative gestellt haben, entweder seine Zustimmung zu erteilen, im gegenteiligen Fall aber den Erbpachtvertrag sofort zu lösen und den Hof samt Kindern und Enkeln zu verlassen.