Kitabı oku: «TRAVELLERS»

Yazı tipi:

Manu Ella

TRAVELLERS

Journey through Space and Time

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Reise ins Unbekannte

Ankunft in der Fremde

Bekanntes Territorium

Zurück in der einstigen Fremde

Weg in die Freiheit

Impressum neobooks

Reise ins Unbekannte

Brennend heiss scheint die Mittagssonne vom stahlblauen Himmel am letzten Freitag im August des Jahres 2013. Ebenso heiss ist es in Jessica’s Kopf! Mit überhöhter Geschwindigkeit braust die attrak­tive Frau, die eben ihren achtundvierzigsten Geburtstag feierte, in ihrem weissen Elektrofahrzeug auf dem hitzeflimmernden Asphalt in Richtung Berner Oberland. Unablässig rasen Jessica’s Gedanken. Sie fühlt sich wie auf einer wilden Achterbahnfahrt und ihre innere Anspannung spiegelt sich im raschen und kräftigen Pulsieren ihrer Schläfenarterien wider.

Das heftige Pochen ihrer Adern unter der Hautoberfläche erinnert Jessica an einen unlängst zurückliegenden Waldspaziergang, wo sie dem schnellen Hämmern eines Buntspechts gegen einen Baum­stamm lauschte. Die Erinnerung an den idyllischen Moment zaubert ein Lächeln um ihre vollen, ungeschminkten Lippen und ihre ange­spannten Gesichtszüge werden augenblicklich weicher. Jessica liebt die Stille und Kühle des Waldes in den heissen Sommermonaten. Sie realisiert, wie sich ihr erhitztes Gemüt beim Abrufen der dama­ligen ruhigen Stimmung besänftigt. Gleichzeitig beruhigt sich die Horde umherspringender Affen in ihrem Kopf, als sie an den grü­nen, schattigen Laubwald zurückdenkt, wo sie sich geborgen fühlte. Schliesslich stoppt das Gedankenkarussell! Jessica lässt alle Emo­tionen und Gedanken, die sie noch beschäftigen, mit einer langen, tiefen Ausatmung los.

Fünfzehn Minuten sind vergangen, seit sie in ihren Wagen einge­stiegen und von ihrem Elternhaus losgefahren ist. Dank ihrer jahre­langen Praxis mit spirituellen Techniken findet Jessica innert kurzer Zeit zu ihrer Balance zurück. Sie ist sich bewusst, wie wichtig das innere Gleichgewicht für den Erhalt ihrer langfristigen Gesundheit und für ihre positive Ausstrahlung ist. Wenn sie sich durch äussere Ereignisse aus der Bahn werfen lässt, schadet sie nur sich selbst. Die Gewissheit, dass sie ihr Denken und ihre Gefühle wieder unter Kontrolle hat, lässt Jessica entspannt durchatmen. Sanft und doch kraftvoll schmiegt sie ihren Rücken an die weich gepolsterte Lehne ihres Autositzes, der ihr in dieser herausfordernden Lebenssitua­tion zusätzlichen Halt zu geben scheint.

Jessica’s Gedanken sind jetzt kristallklar und ihre Gemütslage hat sich vollkommen beruhigt. Weit weg scheint die soeben stattgefun­dene heftige Auseinandersetzung mit ihrem Vater zu sein. Dank ihrer Lebenserfahrung im Umgang mit selbstherrlichen Vertretern des männlichen Geschlechts hinterlassen die Wutanfälle und De­mütigungen ihres Erzeugers heute keine Spuren mehr in ihrem Be­wusstsein. Dies ganz im Gegenteil zu ihrer Kindheit, wo sich die traumatischen Erlebnisse in ihrem Unbewussten festsetzten und sie nachts während Jahrzehnten in ihren Träumen heimsuchten.

Im Laufe ihres Lebens wurde Jessica durch zahlreiche Herausforde­rungen und Kränkungen, die sie in ihrem Privat- und Berufsleben von Männern einstecken musste, abgehärtet. Als junge Frau ent­schied sie sich in einem männerdominierten Wirtschaftsumfeld für einen unkonventionellen Berufsweg und wurde während Jahren vom Rohdiamanten zum Diamanten geschliffen. In jener Zeit lernte sie, sich in einer patriarchalisch organisierten Arbeitswelt, wo viele Männer auf einer unbewussten Ebene von veralteten, frauenfeind­lichen Bildern gesteuert wurden, mit intelligenten Verhaltensstrate­gien und natürlichem Charme durchzusetzen. Heute scannt Jessica ihre männlichen Gegenüber mit ihrer über die Jahre präzis entwi­ckelten Beobachtungsgabe und ihrer scharfen Intuition, der nichts zu entgehen scheint. In Blitzesschnelle erkennt sie überholte Ver­haltensweisen oder manipulative Absichten. Sieht sie sich bei der Einschätzung von Sachverhalten mit heuchlerischen Beurteilungen konfrontiert, die Männer aufgrund veralteter, unbewusster Vorstel­lungen fällen, lächelt sie freundlich, zieht aber für sich die notwen­digen Konsequenzen, um die Zukunft in ihrem Sinne zu gestalten.

Dank ihres Wissens im Umgang mit autoritären Männern kann Jes­sica der Disput, der sich gerade mit ihrem Vater ereignet hat, nicht mehr verletzen oder nachhaltig erschüttern. Längst vorbei sind die Zeiten, als sie sich mit Urteilen und Vorstellungen einer teils noch immer konservativen Männerwelt in unserer Gesellschaft identifi­zierte. Das Beherrschen ihrer Gefühls- und Gedankenwelt und das Bewusstsein, Schöpferin ihrer eigenen Realität zu sein, geben ihr Kraft und Mut, ihrem Leben die Richtung zu geben, die sie allein als richtig empfindet. Unbeirrbar geht sie ihren eingeschlagenen Weg, auch wenn dieser durch innere und äussere Widerstände öfters be­schwerlich ist und ihr bisweilen unkonventionelle Handlungsweisen abverlangt.

In Gedanken spielt Jessica nochmals die unerfreuliche Szene mit ih­rem Vater durch. Sie erkennt, dass er während der letzten Wochen, wo sie sich in ihrem Elternhaus aufhielt, eine Maske trug, worunter sich sein wahres Gesicht versteckte. Hinter dem vorgetäuschten, lie­bevollen Verhalten verbirgt sich noch immer der frühere herrsch­süchtige Mann: Er bleibt ein Patriarch, der die Kontrolle über seine Familie am liebsten bis in alle Ewigkeit behalten möchte.

Jessica’s hoch entwickeltes Mitgefühl lässt sie gleichzeitig erkennen, dass sich hinter den heftigen Demütigungen, die sie erdulden muss­te, auch Angst und Traurigkeit um ihr Wohlergehen verbirgt. Ihr Va­ter ist seinen heftigen Emotionen ohnmächtig ausgeliefert, weil er nicht imstande ist, seine Gefühlswelt zu durchschauen und somit zu beherrschen. Wegen seiner Ohnmacht und der über einen langen Zeitraum aufgestauten Gefühle verwandelte sich seine Angst und Trauer in Wut, die sich einem tosenden Wasserfall gleich über seine eigentlich geliebte Tochter ergoss.

Jessica weiss, dass sie an der zerrütteten Beziehung zu ihrem Vater gegenwärtig nichts ändern kann. Dessen ist sie sich ganz sicher! Zu stolz und zu verletzt ist er in seinen Gefühlen, als dass sie vernünf­tig miteinander reden könnten. Dazu hat sie zum jetzigen Zeitpunkt ihres Lebens, das während der letzten zehn Jahre von unzähligen Schicksalsschlägen heimgesucht wurde, nicht die Kraft, auf die Ge­fühlslage ihres Vaters Rücksicht zu nehmen. In ihrer Kindheit und Jugend hat sie dies zur Genüge getan! Erstmals ist sie sich in ihrem Leben bewusst, dass sie trotz ihres angeborenen, mitfühlenden Na­turells nur für sich selbst schauen soll. Denn sie hat eben in einer ihr alles abverlangenden Lebenslage nicht die dringend benötigte Unterstützung von ihrem Vater erhalten.

Als Jessica auf der Autobahn dahinfährt, erinnert sie sich an einen besonderen Vorfall, der sich vor nicht allzu langer Zeit ereignete und den sie seinerzeit nicht abschliessend einordnen konnte.

Bei einem ihrer täglichen Abendspaziergänge fiel plötzlich ein Jung­vogel von hoch oben aus dem Nest. Es geschah anfangs Juli, als sie während zwei Monaten bei ihrer Schwester wohnte, die mit ihrer Familie im gleichen Haus wie die Eltern lebt. Beim dumpfen Aufprall des zarten Geschöpfes auf dem spärlich mit Rasen bedeckten Boden hörte es sich im ersten Moment an, als würde ein Stein aufschlagen. Bei genauem Hinsehen entdeckte Jessica den hilflosen Winzling und wurde von grossem Mitgefühl ergriffen. Seine Flügel waren kaum entwickelt und dürftig mit Flaum bedeckt. Der schmächtige Vogel­körper bestand grösstenteils aus nackter Haut, die im Abendlicht der untergehenden Sonne zartrosa schimmerte. Mehrmals versuch­te das fragile Geschöpf vergeblich, sich mit tapsigen Schritten fort­zubewegen. Jessica beobachtete, wie es dem angrenzenden und steil abfallenden Flussufer bedrohlich nahekam. Schliesslich ent­schied sie sich, den Jungvogel zu retten, und brachte ihn zu einem in der Nähe wohnenden Tierarzt.

Als sie das kleine Lebewesen abgegeben hatte, das ihr in der kurzen Zeit ans Herz gewachsen war, fragte sie sich, ob der Arzt den Vogel nach ihrem Weggang tatsächlich seiner Katze als Festschmaus ser­vieren würde. Er hatte eine subtile Andeutung in diese Richtung ge­äussert, da der zeitliche Aufwand, um den Jungvogel zu retten, zu gross sei. Beim Gedanken daran lief Jessica ein eiskalter Schauer über den Rücken. Für sie war die Härte der Menschen gegenüber einer so hilflosen Kreatur mit ihrem Herzen nicht nachvollziehbar!

Jetzt, wo Jessica gelassen und wieder in normalem Fahrtempo in Richtung Oberland fährt, erinnert sie sich an ihre Gedanken, als sie den Jungvogel vom Boden auflas. Sie hatte sich damals gefragt, ob der aus dem warmen Nest fallende Vogel womöglich ein Vorbote dafür sei, dass sie selbst bald kein Zuhause mehr haben würde. Zu jener Zeit verdrängte sie ihre merkwürdigen Überlegungen schleu­nigst, erschien ihr doch das schrecklich anmutende Szenario völlig irreal! Wie sie in der Zwischenzeit wusste, sollte sich ihre böse Vor­ahnung bewahrheiten: Zum ersten Mal in ihrem Leben ist Jessica heimatlos! -

Heimatlos in ihrer äusseren Lebenssituation, jedoch fest verwurzelt in ihrem Selbst. Diesen inneren Zufluchtsort nimmt Jessica seit ihrer jüngsten Kindheit intuitiv wahr, und er gibt ihr in ihrer herausfor­dernden Lage ein Gefühl von tiefer Geborgenheit. Seit jeher ist ihr göttliches Selbst, das sich durch nichts verwirren oder zerstören lässt, ihre geheime Rettungsinsel, die sie wie ein weiches Kissen auffängt und ihre Seele in diesen einsamen und kalten Stunden ein bisschen zu wärmen vermag.

Ankunft in der Fremde

Als Jessica in die schmale Einfahrt des wunderschön gelegenen Anwesens am Brienzersee einbiegt, ist es früher Abend. Sie ist et­was nachdenklich und fragt sich, was der bevorstehende Aufenthalt ihr wohl bringen wird. Langsam fährt sie die unebene Strasse, die zwischen uralten Laubbäumen mit knorrigen Stämmen eingebettet ist, in Richtung See hinunter.

Dabei erinnert sie sich ganz unverhofft, dass sie vor über zehn Jah­ren bereits einmal an diesem Ort war. Zu jener Zeit kam sie erstmals in ihrem Leben vermehrt in Kontakt mit spirituellen Themen und sie absolvierte hier mit ihrem einstigen Lebenspartner einen Feuerlauf. Der gemeinsame Besuch dieser Veranstaltung war gleichzeitig der Beginn des späteren Bruchs ihrer Partnerschaft, von der sie einst glaubte, sie würde für immer halten.

Der Anblick des türkisgrünen Wassers hinter dem Wohnhaus und die in der Ferne sichtbaren Bergmassive sind überwältigend! Bevor Jessica ihren Wagen auf einem der Parkplätze nahe dem Haus ab­stellt, hält sie inne und lässt die schöne Aussicht und die leuch­tenden Farben in der umliegenden Natur für eine Weile auf ihre Seele wirken. - Die Stimmung könnte gegensätzlicher nicht sein, wenn sie an den Streit anfangs Nachmittag mit ihrem Vater zurück­denkt!

Jessica ist damit vertraut, dass der rasche Wechsel zwischen ange­nehmen und schlechten Erfahrungen an einem bestimmten Punkt auf dem Weg der Bewusstseinsentwicklung ein wichtiges Merkmal ist. Sie weiss, dass es in solchen Phasen darum geht, ob sie in glück­lichen wie auch in traurigen Augenblicken zentriert bleiben kann, ohne das Erlebnis gedanklich oder gefühlsmässig zu bewerten. Das in seinem Ur-Zustand kristallklare Bewusstsein soll weder durch hei­tere noch traurige Ereignisse nachhaltig getrübt werden.

Sie empfindet es als Privileg, dass der Mensch - im Gegenteil zur Natur - durch Lenkung seiner Gedanken und Gefühle einen direkten Einfluss auf seinen Bewusstseinszustand nehmen kann. In diesem Zusammenhang kommt ihr ein häufig vorkommendes Naturphäno­men in den Sinn: Wird die Wasseroberfläche eines Sees durch einen heftigen Sturm aufgepeitscht, ist das Wasser oft mehrere Tage da­nach noch trüb und dunkel. Genauso färbt und verdunkelt sich das Bewusstsein eines Menschen, der unfähig ist, in einer konfliktgela­denen Situation seine Gemütslage zu beherrschen. Wegen seiner destruktiven Gedanken und Gefühle bleibt seine Stimmung während Stunden oder manchmal Tagen düster, mit entsprechend negativen gesundheitlichen Folgen für sich selbst und sein soziales Umfeld.

Sie weiss aus eigener Erfahrung, dass der Mensch - im Gegensatz zur Natur oder zu Tieren - fähig ist, seine instinktiven Persönlich­keitsanteile zu transzendieren, sodass sein Bewusstsein von äusse­ren Umständen unberührt und klar bleibt.

Erfreut stellt Jessica fest, dass sie nach dem Disput mit ihrem Vater - trotz kurzzeitig aufwallender Gefühle und erhitzter Gedanken - in­nert weniger Minuten ihre innere Balance wiederfand. Sie weiss, dass solche vorübergehenden Gemütszustände auch auf einem fort­geschrittenen Bewusstseinsweg vorkommen dürfen. Entscheidend ist, sich emotional rasch zu beruhigen und keinen Groll oder Rache­gelüste gegen den Menschen zu hegen, mit dem die Auseinander­setzung stattfand. Jessica ist für die zahlreichen, herausfordernden Lernprozesse auf ihrem Weg dankbar! Die Erfahrungen ermöglichen ihr, in dieser ausserordentlichen Lebenslage keine Wut gegenüber ihrem Vater zu empfinden. Ebenso wenig ist sie nach den heutigen Ereignissen traurig, was jedoch keineswegs bedeutet, dass sie ge­fühllos ist! Sie nimmt die derzeit verworrene Beziehung zu ihrem Er­zeuger einfach in Liebe und Verständnis an - wohl wissend, dass ihr Vater das Zerwürfnis mit anderen Augen betrachtet.

Gerade als Jessica ihr kurzes Gedankenspiel beendet hat, öffnet sich die hölzerne Eingangstür des prächtigen Wohnhauses, das sich mit seinem schneeweissen Anstrich wie ein leuchtender Diamant von den dunklen Bergen abhebt. Ein kleiner, sportlich aussehender Mann mit grauem, leicht schütterem Haar tritt blinzelnd in die Sonne hinaus. Jessica steigt aus ihrem Wagen und begrüsst den Fremden mit einem Lächeln. Seine braun-grünen Augen strahlen freundlich aus dem gebräunten Gesicht und sein breites Grinsen verstärkt die lustigen Lachfältchen um seine Augen.

Nachdem Jessica einen ersten äusseren Eindruck des Mannes ge­wonnen hat, realisiert sie intuitiv, dass der Besitzer des Anwesens einen dandyhaften Wesenszug besitzt. Mit ihrer hochentwickelten Intuition erfasst sie innert Sekunden unterschiedliche Charakterei­genschaften auf verschiedenen Bewusstseinsebenen. Im Alltag ist ihre Begabung eine echte Herausforderung, denn als hochsensible Person wird sie dauernd mit einer enormen Flut an Informationen berieselt, die sie verarbeiten muss. Sie benötigt weitaus mehr Re­generationszeit als durchschnittliche Menschen, was in leistungs­orientierten Gesellschaften ein grosser Nachteil ist und meist un­verstanden bleibt. Allerdings hat ihre angeborene Fähigkeit dazu beigetragen, ihr Unterscheidungsvermögen im Laufe ihres Lebens zu schärfen und äusserst differenziert denken zu lernen.

Jessica schätzt den älteren Mann, der sich in der Zwischenzeit als Alan vorgestellt hat, auf etwa fünfundsechzig Jahre. Er geleitet sie auf eine runde, gedeckte Terrasse, die wiederum die prächtige Aus­sicht auf den See und die Berge freigibt. Jessica atmet tief durch und geniesst den gegenwärtigen Augenblick in vollen Zügen.

In einem bequem aussehenden Sessel aus geflochtenem Korb mit leuchtend orangenen Kissen räkelt sich eine knapp dreissigjährige Frau mit schwarz gefärbten Haaren. Genüsslich nippt sie an ihrem Aperitif. Jessica geht einen Schritt auf sie zu, streckt ihre Hand aus und begrüsst sie herzlich. Dankend lehnt sie hingegen das von Alan angebotene alkoholische Getränk ab, weil sie keinen hochprozenti­gen Alkohol verträgt. Seit Monaten hat sie keinen Tropfen mehr ge­trunken, um ihren feingliedrigen, wenn auch athletischen Körper in diesen herausfordernden Zeiten nicht zusätzlich zu belasten. Sie stösst mit Alan und seiner Begleiterin mit einem Glas Orangensaft auf ihren bevorstehenden Aufenthalt an diesem idyllisch gelegenen Ort an, wo sie hofft, nach den turbulenten Zeiten etwas zur Ruhe zu kommen.

Nachdem Jessica ihre wenigen Habseligkeiten im hübsch einge­richteten Zimmer im Untergeschoss verstaut hat, will sie sich nach dem heissen und anstrengenden Tag eine Abkühlung im Aussen­pool des Hauses gönnen. Rasch schlüpft sie in ihren roten Bikini, rennt die Holztreppe hinauf ins Obergeschoss, um die letzten wär­menden Strahlen der untergehenden Sonne zu erheischen. Nach ei­ner kurzen Dusche springt sie Kopf voran ins kühle Nass des kleinen Schwimmbeckens. Sie spürt, wie sich beim Abtauchen ihr langes braunes Haar durch den Sog des Wassers an ihren Kopf anschmiegt. Jessica liebt die Schwerelosigkeit ihres Körpers, wenn sie unter Wasser dahingleitet, und das befreiende Gefühl schenkt ihr binnen kurzem neue Energie. Nach einigen Schwimmzügen stösst sie sich mit ihren Füssen kraftvoll vom Beckengrund ab und ihr harmonisch geformter Körper schiesst wie ein Pfeil durch die Wasseroberfläche nach oben. Jessica fühlt sich vollkommen lebendig! Das Element Wasser hilft ihr, die erste unerfreuliche Tageshälfte loszulassen und mit Hoffnung und Zuversicht nach vorne zu schauen. Es ist eine un­gewisse Zukunft, aber in diesem wundervollen Moment mag sie sich darüber keine ernsthaften Gedanken machen. Sie wird in den nächsten Wochen noch genügend Zeit dafür haben.

Den Rest des Abends verbringt Jessica mit Alan auf der Terrasse und sie diskutieren angeregt über eine Vielfalt an Themen, die in der Schweiz und weltweit aktuell sind.

Es ist weit nach Mitternacht, als sie sich müde und zufrieden in das weiche Kopfkissen ihres Bettes sinken lässt. Sie ist voller Demut und Dankbarkeit, dass sie dank einer lieben Freundin diese schöne Bleibe gefunden hat, bevor sie im Spätherbst ihre neue Wohnung beziehen wird.

***

Es ist bereits Mittag, als Jessica am nächsten Tag, noch etwas müde von den Ereignissen des Vortags, ihre rehbraunen Augen öffnet. Wie immer macht sie nach dem Erwachen ihre Entspannungs- und Atemübungen und führt mentale Techniken durch, um den Tag ge­lassen und zielgerichtet anzugehen. Ihr Morgenritual ist ihr heilig! Sie will zuerst etwas Gutes für sich selbst tun, bevor sie sich neuen Aufgaben stellt. Der alltägliche Brauch verleiht ihr Kraft, um die bedingungslose Liebe, die sie sich selbst und ihren Mitmenschen im Alltag entgegenbringt, stets von neuem zu kultivieren. So wie an­dere Leute regelmässig ihre Muskeln trainieren, stärkt Jessica täg­lich ihr Mitgefühl, und zwar gegenüber sich selbst und allem Le­bendigen auf der Erde. Die zahlreichen Herausforderungen, die ihr auf ihrem Weg begegnen, nimmt sie liebevoll an, ohne sich aller­dings von ihren Mitmenschen manipulieren oder ausnützen zu las­sen. Im Verlaufe ihres Lebens hat Jessica gelernt, sich klar abzu­grenzen und ein deutliches Nein zu äussern, wenn es die Umstände erfordern. Auf kluge und taktvolle Art setzt sie sich für ihre eigenen Interessen ein und achtet gleichzeitig darauf, andere Menschen nicht zu brüskieren.

Nach einem Frühstück aus Mandeln und rohen Apfelschnitzen, die sie mit wenig Kardamon bestreut, tritt sie anfangs Nachmittag mit frischer Energie ans Tageslicht hinaus. Sie will ihre Beine vertreten und zugleich ihre neue Umgebung erkunden. Da ertönt zu ihrer lin­ken Seite ein freundliches „Hello“. Es ist Michael, dem sie bereits gestern Abend in der Küche des Wohnhauses begegnet ist, als sie mit Alan auf dem Weg zur Terrasse war.

Der erste Kontakt mit Michael fand im Vorbeigehen statt. Dennoch hat Jessica seine Persönlichkeit sofort erfasst und registrierte einen äusserst interessanten und gleichzeitig unnahbaren Mann. Er war gerade mit einem randvollen Wäschekorb unter dem Arm zur Waschküche unterwegs. Sein Oberkörper und besonders sein Hals waren beim Laufen nach vorne gebeugt, was auf einen Menschen hinweist, der primär intellektuell gesteuert ist. Die blauen Augen blitzten unter dem schulterlangen, leicht ergrauten Haar hervor und sein schelmisches Lachen verriet einen junggebliebenen Mann. Nach dem kurzen Zusammentreffen mit Michael verriet ihr Alan, dass sein Mieter ein wahres Genie in seinem Beruf als Ingenieur in der Medizintechnik ist.

Dem angenehmen Klang des „Hello“ folgend, dreht sich Jessica in die Richtung, woher die dunkle, melodiöse Stimme kam. Ein jun­genhaftes Antlitz lächelt sie freundlich an. Michael erkundigt sich, ob sie spazieren geht und ob er sie dabei begleiten darf. Er könne ihr einen herrlichen Wanderweg zeigen, der ihr einen sagenhaften Fernblick auf den Brienzersee bietet. Erfreut nimmt Jessica sein An­gebot an! Als Bewegungsnaturell ist es ihr wichtig, sich täglich wäh­rend mindestens einer halben Stunde zu bewegen und in der Natur ihre leeren Batterien aufzuladen.

Spontan laufen die beiden los, wobei der Naturweg rasch in einen steilen Aufstieg übergeht. Jessica ist durchtrainiert und der Anstieg bereitet ihr keine Mühe. Michael, der grundsätzlich einen musku­lösen Körperbau hat, jedoch wegen seines dauernden Naschens reichlich Bauchfett mit sich herumträgt, atmet bereits nach kurzer Zeit heftig. Trotz der körperlichen Anstrengung unterhält sich Jes­sica spielerisch in englischer Sprache und sie tauschen erste Infor­mationen über ihre aktuellen Lebensumstände aus. Sie erfährt, dass Michael ursprünglich aus England kommt und seit etwa zwölf Jahren in der Schweiz lebt und arbeitet. Er ist lediglich drei Jahre älter als sie.

Jessica nimmt aufgrund ihrer Feinfühligkeit Michael’s energetische Schwingung auf und spürt zu ihrer Verwunderung eine unerklär­liche Anziehung zu diesem fremden Mann, dem sie gestern zum ersten Mal begegnete. Seit über zehn Jahren führt sie bewusst ein Single-Leben, nachdem sie in ihrer letzten Beziehung schwer ent­täuscht wurde, und ist nicht auf der Suche nach einer neuen Part­nerschaft. Sie ist mit sich und ihrem Leben, trotz der seit längerem andauernden schwierigen Phase, zufrieden und es fehlt ihr grund­sätzlich an nichts. Auch während der letzten herausfordernden Jah­re konnte sie ihre innere Stabilität aufrechterhalten und war mit sich selbst in Harmonie und Frieden. Obschon sie seit langem allein lebt, ist Jessica nie wirklich einsam, weil sie sich mit allem verbun­den fühlt: Mit der Natur, mit den Tieren und Pflanzen, mit den Menschen in ihrem Alltag, mit den winzigsten Organismen auf der Erde und dem unendlichen Universum. Sie ist allem Lebendigen in Liebe, Respekt, Toleranz und Dankbarkeit verbunden, was bewirkt, dass sie keine innere Leere verspürt, auch wenn sie allein durchs Leben geht. Diese tiefe, innere Verbundenheit mit der Welt ist Jessica‘s Geheimnis, das sie künftig mit anderen Menschen teilen möchte.

Jessica muss immer wieder innehalten und sich umdrehen, um die atemberaubende Weitsicht in der strahlenden Nachmittagssonne zu bestaunen. Die klare Sicht und die intensiven Farbtöne in der Na­tur verzaubern die Landschaft und verwandeln sie in ein maleri­sches Szenario. Ein solches Panorama hat sie lange nicht gesehen, obschon es in ihrer Herkunftsgegend in der Ostschweiz auch wun­derschöne Orte gibt. Mit ihrem Smartphone schiesst sie mehrere Fotos, um sich später an diesen tollen Nachmittag erinnern zu kön­nen.

Während des ganzen Spaziergangs geniesst Jessica das inspirieren­de und bereichernde Gespräch mit ihrer neuen Bekanntschaft. Sie ist froh, diesem netten und aufgeschlossenen Menschen gleich zu Beginn ihres Aufenthalts in der Fremde begegnet zu sein. Sie weiss, dass dies nach den unerfreulichen Vorkommnissen, die sich kürzlich in ihrem Elternhaus ereigneten, nicht selbstverständlich ist.

Als sie sich nach einem zügigen Marsch voneinander verabschie­den, bedankt sich Jessica voller Dankbarkeit bei ihren Schutzengeln für diese wunderbare Fügung.

***

Der erste Samstagabend in der Fremde. Jessica nimmt den Haupt­eingang des Anwesens, um in ihr Zimmer im Untergeschoss zu ge­langen. Von weitem sieht sie Alan und seine junge Begleiterin auf der Terrasse sitzen. Schon wieder nippen die beiden an einem alko­holischen Getränk! Da Jessica selten Alkohol trinkt, hat sie ein fei­nes Gespür für Menschen, die gerne und regelmässig Spirituosen geniessen. Schon gestern hatte sie den Eindruck, dass Alan jeweils abends dem Alkohol verfällt, auch wenn sie ihn erst seit kurzem kennt. Trotz dieser Feststellung begrüsst Jessica die beiden Ge­nussmenschen offen und herzlich. Schliesslich steht es ihr nicht zu, über das Verhalten anderer Leute zu urteilen, solange sie selbst kei­nen Schaden davonträgt.

Alan begleitet Jessica in die Küche, um ihr zu zeigen, wo sie die Le­bensmittel, die sie nach dem Spaziergang mit Michael noch einge­kauft hat, versorgen kann. Sie hat in ihrem eigenen Kühlschrank in der Küche im Souterrain nur eine kleine Ablagefläche, wo sie ihre Nahrungsmittel aufbewahren kann.

Auf einmal wird sie von Alan in die Ecke eines schmalen Durchgangs zwischen dem Kochherd und einem an der Wand montierten Tisch gedrängt. Als freiheitsliebender Mensch bedarf Jessica in mancher­lei Hinsicht viel Raum, um sich wohlzufühlen, und das beklemmen­de Gefühl, das sie gerade beschleicht, behagt ihr gar nicht! Den­noch bleibt sie innerlich ruhig und entspannt. Es geht ihr durch den Kopf, dass Alan - im Gegensatz zum intellektuell geprägten Michael - eher von seiner Körpermitte aus gesteuert ist, was bedeutet, dass er einen ausgeprägten Sexualtrieb hat, der seine Persönlichkeit do­miniert. Bei seinem Gang sticht klar seine Körpermitte hervor, wo sein bestes Stück unter der Hose verborgen liegt.

In leicht angetrunkenem Zustand lässt Alan eine anrüchige Bemer­kung fallen - dies einen Tag nach ihrer Ankunft! Seine zweideutige Anspielung zielt darauf ab, dass er sie nach dem gestrigen Gespräch auf intellektueller wie auch auf körperlicher Ebene anziehend fin­det. Aus seiner Aussage schliesst Jessica, dass diese Eigenschaft wohl nicht auf die Frauen zutrifft, die er üblicherweise umwirbt. In seinen Beziehungen scheint eher die rein körperliche Anziehungs­kraft im Vordergrund zu stehen.

Jessica fühlt sich von seiner spontanen Äusserung irritiert, da sie solche plumpen Annäherungsversuche nicht gewohnt ist. Eine Si­tuation, wo sie verbal belästigt und körperlich in eine Ecke gedrängt wird, hat sie in ihrem Leben bis anhin nicht erlebt. Sie atmet kurz durch. Dann erinnert sie sich an ihre mentalen und kommunikati­ven Stärken, die sie sich im Laufe ihres jahrelangen Single-Daseins antrainiert hat. Als Alan mit seinen taktlosen Aussagen fortfährt und hämisch ergänzt, dass er ihr Unwohlsein spüre, platzt Jessica endgültig der Kragen. Sie bleibt sachlich, handelt jedoch konse­quent. Mit knappen Worten weist sie den zudringlichen alten Mann in die Schranken, schiebt ihn mit sanftem, doch bestimmtem Druck zur Seite und bahnt sich ihren Weg bis in die Mitte der grossräumi­gen Küche zurück. Hier fühlt sie sich nach einer kurzen Phase der Verunsicherung wieder sicher! Schliesslich kennt sie Alan erst seit einem Tag. Dennoch kann sie kaum glauben, dass er ihr gegenüber seine gewohnte Masche im Umgang mit Frauen durchziehen woll­te.

Jessica hat Alan schon kurze Zeit nach ihrer Ankunft durchschaut. Sie weiss, dass er jenen Männertyp repräsentiert, der in Bezug auf Frauen in alten Gedanken- und Verhaltensmustern verhaftet ist. Er hat eindeutige Machoallüren und benutzt verzweifelte oder unselb­ständige Frauen für seine eigenen Zwecke. Als Gegenleistung für Geschenke oder sonstige Dienste, die er den wehrlosen Opfern erweist, erwartet er von seinen Begleiterinnen Sex. Sein manipulie­rendes Verhalten ist für Alan zu einer richtiggehenden Sucht gewor­den, da er sein geringes Selbstwertgefühl dauernd über seine kör­perliche Potenz bestätigen muss.

Als Jessica endlich in ihrem Zimmer ist, sinnt sie über die erlebte Sze­ne mit Alan nach. Sie reist gedanklich in der Zeit zurück: Stolz lächelt sie vor sich hin, als sie sich ihre Bewusstseins- und Persönlichkeits­entwicklung vor Augen führt, die sie seit ihrem jungen Erwachse­nenalter durchlaufen hat.

Auch sie war einmal in einer Beziehung gefangen gewesen, die auf einer ungleichen Basis fusste. Damals fehlte es ihr an der nötigen Durchsetzungskraft, um sich gegen einen autoritären und machtbe­sessenen Mann konsequent und nachhaltig zu wehren. Zu jener Zeit fühlte sie sich stark von materiellen Dingen und einem grossen Be­dürfnis nach Sicherheit angezogen. Ihre Werte haben sich im Laufe ihres Lebens grundlegend verändert! Es ist nicht so, dass sie keine Freude mehr an qualitativ hochstehenden Dingen hätte, aber sie würde sich nie mehr aus materiellen Gründen an einen Mann bin­den, der ihr emotional, spirituell, intellektuell und körperlich nicht gewachsen ist. Lieber zöge sie es vor, allein zu bleiben und sich mit weniger Sicherheit und Wohlstand zu begnügen.

Zu dieser späten Stunde erkennt Jessica wenigstens einen Grund, weshalb sie das Schicksal an diesen Ort verschlagen hat. Sie weiss, dass es ihre Bestimmung ist, den steinigen Weg der Erkenntnis zu gehen und dadurch ihre Bewusstseinsfrequenz laufend zu erhöhen.

***

Ein neuer Tag - ein neuer Anfang! Dies ist ein wichtiges Leitmotiv in Jessica’s Leben. Sie ist nicht der Typ, der nachtragend ist. Sie kann rasch verzeihen, weil sie die Oberflächlichkeit von Ereignissen meis­tens durchschaut und die tieferen Beweggründe menschlichen Han­delns intuitiv erfasst.

Alan hätte es gestern Abend in einem nüchternen Zustand bestimmt nicht gewagt, sie so ungehobelt zu behandeln, wie er es unter Alko­holeinfluss tat. Durch sein plumpes Benehmen konnte sie wertvolle Erkenntnisse auf ihrem Weg der Bewusstwerdung gewinnen. Dies wäre ohne seine triebhafte, wenngleich im Moment sehr unange­nehme Art, nicht möglich gewesen. Jessica ist ihm deshalb für den Zwischenfall vom Vorabend sogar dankbar!

₺561,81

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
260 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783742788016
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre