Kitabı oku: «Ryloven», sayfa 2
Nächtliche Flucht
Am nächsten Morgen wurde Keron vom Licht geweckt, das durch das Fenster genau auf sein Gesicht schien. Langsam richtete er sich im Bett auf und gähnte. Er fühlte sich nicht ausgeruht, denn er hatte nicht gut geschlafen. Immer wieder träumte er vom toten Körper seines früheren Lehrmeisters und auch jetzt noch konnte Keron den blutigen Leichnam vor seinem geistigen Auge sehen. Deshalb entschied er, nicht länger liegen zu bleiben, sondern aufzustehen und seine neue Umgebung bei Lichte zu entdecken. Keron stand auf, nahm sein Hemd, das er am Abend zuvor abgelegt hatte, und streifte es sich über. Erst dann realisierte er, dass letzte Nacht noch jemand in diesem Zimmer geschlafen hatte. Er versuchte sich so beiläufig wie möglich umzudrehen und als er das verwaiste Bett erblickte, atmete er erleichtert auf. Anscheinend war sein Zimmergenosse schon sehr früh am Morgen aufgestanden und hatte das Zimmer verlassen, ohne dass Keron es bemerkt hatte.
Schlaftrunken wankte er zum Fenster und warf einen Blick hinaus auf die Straße. Es war ein sehr schöner Frühlingstag und die Händler fuhren mit Karren, auf denen sie ihre Waren geladen hatten, unter seinem Fenster in Richtung des großen Marktes von Reduna. Da Reduna die Hauptstadt des Reiches Ryloven war, kamen Händler aus allen Ecken des Landes, um ihre Waren am berühmtesten Markt des Reiches feilzubieten. Keron hatte bis jetzt noch keine Zeit gehabt, sich das Treiben und Feilschen der Leute auf diesem Markt anzusehen, aber er nahm sich fest vor die Stadt in den nächsten Tagen, wenn möglich, zu erkunden. Mit Mühe wendete sich Keron vom Fenster und dem Treiben unter ihm ab und ging auf die Tür zu, um sich etwas umzusehen. Als er an dem kleinen runden Eichentisch vorbeiging, der in der Mitte des Zimmers stand, bemerkte er etwas, das gestern noch nicht da gewesen war. Auf dem Tisch lag ein Zettel, auf dem etwas geschrieben stand. Überrascht stellte er fest, dass der Zettel an ihn adressiert war:
Nicolas hat mir gesagt, dass wir einen Neuzugang haben und ich mich um dich kümmern soll, während er in der Stadt etwas zu erledigen hat. Wenn du bereit bist, findest du mich in den Stallungen des Gasthofs.
Will.
Keron las die Nachricht erneut und steckte sie dann in die Innentasche seines Hemdes. Von Neugierde getrieben, weil er erfahren wollte, wer dieser Will war, öffnete er die Tür und betrat den Flur. Er ging gerade die Treppe hinunter, als er fast mit einem Mädchen zusammenstieß. Nachdem er sich höflich entschuldigt hatte, grüßte er sie und sie stellten sich einander vor. Ihr Name war Clara. Die Tochter des Wirtes war ungefähr in seinem Alter, hatte langes, welliges braunes Haar und einige ihrer Haarsträhnen waren zu Zöpfen geflochten. Aber was Keron besonders an ihrem Aussehen fesselte, waren ihre strahlend blauen Augen, die ihn in ihren Bann zogen. Als er bemerkte, dass er sie schon einige Zeit lang anstarrte, wurde er etwas rot und verabschiedete sich schnell. Die Treppe weiter hinuntergehend stellte er fest, dass er zum ersten Mal an diesem Morgen lächelte. Im Schankraum angekommen, saßen viel weniger Menschen an den Tischen als am vergangenen Abend. Viel weniger war eigentlich noch untertrieben, denn es saß nur ein einziger Mann in einer dunkleren Ecke des Raumes, dessen Gesicht Keron nicht erkennen konnte, weil es von der Kapuze seines Umhanges fast vollkommen verdeckt wurde. Keron kümmerte sich nicht weiter um diesen Mann und ging auf die andere Seite des Raumes, an der der Wirt gerade Krüge hinter der Theke säuberte.
„Guten Morgen“, brummte der Wirt mit seiner tiefen rauen Stimme, die seine Ähnlichkeit mit einem Bären nur noch deutlicher machte.
„Guten Morgen“, gab Keron als Begrüßung zurück. „Entschuldigen Sie Sir, könnten Sie mir bitte sagen, wie ich zu den Ställen komme?“ Plötzlich brach der Wirt in lautes Gelächter aus und hätte fast den Krug fallen gelassen, den er gerade zu reinigen versuchte.
„Oh Junge, so höflich war schon lang keiner mehr zu mir. Bitte nenne mich einfach Bert, denn es kommt mir merkwürdig vor, wenn mich jemand mit Herr oder Sir anredet. Bist du nicht der Junge, der gestern mit Nicolas angekommen ist?“
„Ja, das bin ich wohl, aber sage mir bitte, wo der Stall ist.“
„Kannst es wohl kaum abwarten zu arbeiten, was? Den Stall findest du, wenn du durch die Tür dort hinten gehst, doch vorher wird meine Frau dir ein richtiges Frühstück machen.“
Keron wandte den Blick verlegen ab. „Das ist sehr nett, aber ich habe kein Geld, um es zu bezahlen“, sagte er mit einem entschuldigenden Schulterzucken.
„Das ist kein Problem. Da du zu Nicolas gehörst, geht diese Mahlzeit, aber nur diese Mahlzeit, auf mich Kleiner, denn irgendwie muss ich auch mein Geld verdienen“, brummte er und gab Keron einen Klaps auf die Schulter, der so stark war, dass er fast wieder von dem Hocker rutschte, auf dem er sich gerade niedergelassen hatte. Der Wirt rief ins Zimmer hinter der Theke, damit Keron etwas zu essen bekam.
Kurz darauf brachte ihm Clara einen großen Teller mit Brot und gekochten Eiern. Als Keron ihr wieder in ihre blauen Augen schaute, hatte er wie schon auf der Treppe zuvor so ein komisches Gefühl. „Danke“, sagte Keron, als sie ihm den Teller hinstellte.
Dieses Mal erwiderte sie nichts, sondern kehrte gleich wieder ins Hinterzimmer zurück. Derweil er den ersten Bissen des Brots genoss, merkte er, dass er schon seit gestern Nachmittag nichts mehr zu essen gehabt hatte. Während Keron aß, unterhielt er sich noch ein bisschen mit Bert über die Stadt und der Wirt erzählte ihm, dass gestern ein bedeutender Mann des Reiches auf offener Straße ermordet worden war. Keron verkrampfte sich der Magen bei der schmerzhaften Erinnerung an Sir Francis, er verblieb allerdings stumm und erzählte dem Wirt nicht, dass er der Schüler dieses Mannes gewesen war. Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht ganz verstand, wollte er von diesem großen Bären kein Mitleid. Schließlich bedankte Keron sich für das Mahl und ging auf die Tür zu, die zum Stall führte, um Will zu treffen.
Als er den Stall betrat, stieg ihm gleich der übliche, beißende Stallgeruch in die Nase, doch da er nicht zum erster Mal an so einem Ort war, gewöhnte er sich schnell an den Geruch von nassem Stroh und Pferdekot. Er schaute sich etwas um, konnte aber niemanden außer den fünf Pferden entdecken. Keron vermutete, dass die Pferde auf der rechten Seite des Durchgangs dem Wirt gehörten und das graue Pferd etwas weiter dahinter dem Mann im Schankraum, der die Kapuze seines Mantels übers Gesicht gezogen hatte. Jedoch konnte er sich nicht sicher sein, denn er wusste ja nicht, wie viele Leute sich noch in den Gästezimmern des Gasthofes befanden. Ganz hinten im Stall entdeckte er noch drei weitere Pferde, die nahe dem Ausgang standen. Das mittlere der drei war sehr groß und entsprach der Statur eines Schlachtrosses, weshalb er vermutete, dass es Sir Nicolas’ Pferd war. Weiters dachte er, könnte das rechte Pferd Will gehören, weil es etwas kleiner war als das mittlere Ross. Doch am meisten verwunderte ihn das fünfte und damit letzte Pferd im Stall. Er musste zweimal hinschauen, um ganz sicher zu gehen. Es war braun, ungefähr so groß wie das von Will, aber es hatte einen weißen Fleck um das rechte Auge. Es war sein eigenes Pferd, das er, wegen der Wirrnisse des vergangenen Tages ganz vergessen, bei der Herberge seines früheren Meisters gelassen hatte. Schnell lief Keron zu dem Tier, um es zu begrüßen.
„Hallo, Weher! Wie geht es dir, mein alter Freund?“ Weher wieherte kurz, was die vertraute Antwort war, wenn Keron sein Pferd begrüßte. Vor lauter Freude, dass er sein Pferd wiederbekommen hatte, war ihm zunächst gar nicht aufgefallen, dass neben seinem Pferd in einem Haufen trockenen Strohs jemand lag und schlief. Leise schritt er um sein Pferd herum, um sich den Schläfer genauer anzusehen. Keron schätzte ihn ungefähr auf sein Alter, doch weil der Fremde nicht ganz ausgestreckt dalag, konnte Keron seine Größe nicht genau bestimmen. Er war grob geschätzt einen Kopf größer als er selbst. Keron beugte sich hinunter, um zu erfahren, ob der junge Mann vor ihm wirklich nur schlief. Doch sein Atem war laut und deutlich zu hören.
„Will?“, versuchte Keron den Schlafenden zu wecken, doch dieser reagierte gar nicht auf diesen Versuch. „Bist du Will?“, fragte Keron nun etwas lauter als zuvor, doch wieder war keine Reaktion auszumachen. Weher verfolgte die Versuche seines Freundes, Will so diskret wie möglich zu wecken, geduldig, doch dann begann er plötzlich ganz laut zu wiehern. Will schreckte aus seinem Schlaf hoch und hielt sich die Ohren zu.
„Achhh, sei doch still du dummer Gaul, warum musst du mich auch aus dem Schlaf reißen?“, fragte Will das Pferd mit einem beleidigten Unterton in seiner Stimme.
„Hey, wen nennst du hier dummen Gaul!“ fuhr ihn Keron an, den Will bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bemerkt hatte. Will zuckte zusammen und drehte sich schnell zu Keron um. Sein erstauntes Gesicht über den unerwarteten Zwischenruf wich schnell einem breiten Grinsen und einem herzhaften Lachen. „Hahaha! War doch nicht so gemeint, aber dieses Pferd hat mich nun mal geweckt und das mag ich gar nicht. Tut mir leid, Brauner“, fügte er an Weher gewandt hinzu, ohne sein Grinsen zu verlieren.
„Du musst wohl Keron sein oder liege ich da etwa falsch? Nicolas sagte mir, dass wir einen Neuzugang haben.“
„Ja, der bin ich und ich vermute mal, dass du Will bist“, antwortete Keron dem immer noch grinsenden Will.
„Der einzig Wahre, möchte ich hinzufügen“, sagte dieser und machte einen hochmütigen Adeligen nach, bevor er wieder zu lachen begann. „Komm, gehen wir in den Schankraum und unterhalten uns dort weiter. Vielleicht gibt uns der alte Bert einen Trunk aus.“ Während sie den Stall durchquerten und Will fröhlich vor sich hin summte, konnte Keron sich schließlich nicht mehr zurückhalten.
„Du bist aber ein sehr fröhlicher Zeitgenosse, oder?“
„Bin ich das?“, gab Will erstaunt über die Frage seines Kameraden zurück. Zum ersten Mal verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht und er wurde nachdenklich. Keron war schon dabei, im Geiste seine Entschuldigung zu formulieren, weil er Will auf keinen Fall zu nahe treten wollte. Doch bevor er etwas sagen konnte, fing Will, der die schuldbewusste Mimik seines neuen Reisegefährten zum Schreien komisch fand, wieder an zu lachen. „Ja das bin ich wohl, Key“, brachte er zwischen seinem Lachen heraus. Und dieses Mal schloss sich Keron ihm an, der begriff, dass sein neuer Freund ihn gerade hereingelegt hatte. Guter Laune betraten sie den Schankraum und setzten sich auf die abgenutzten Holzstühle an einen Tisch nahe der Treppe, die in den ersten Stock führte.
„Also Key, erzähl mal. Was ist deine Geschichte?“, fragte Will während er aus dem Fenster auf die Straße schaute.
„Geschichte?“, gab Keron verwundet zurück.
„Na ja, du musst doch eine Geschichte haben, jeder hat doch eine. Zum Beispiel würde mich interessieren, wie es dazu kam, dass du jetzt hier bei mir sitzt“, versuchte Will nachzubohren, damit Keron ihm etwas erzählte. Also begann Keron ihm von seinen Reisen mit Sir Francis zu berichten. Doch schon bald unterbrach Will ihn.
„Ist das nicht der Mann, der gestern auf offener Straße erstochen wurde?“ Schweigen breitete sich über die zwei aus, denn Keron wollte nicht über die Geschehnisse des gestrigen Tages reden und Will erkannte, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte, woraufhin er lieber nicht weiter nachfragte.
„Aha, ist ja auch nicht so wichtig“, sagte Will und wechselte das Thema. „Nicolas hat mir gesagt, dass er erst gegen Abend wiederkommen wird, deshalb schlage ich vor, dass wir uns die Stadt etwas genauer anschauen gehen“, versuchte Will etwas unbeholfen das Gespräch zu beenden. Keron nickte zustimmend und so machten sich die beiden auf in die Stadt. Keron konnte es nicht genau erklären, aber seit dem ersten Moment konnte er Will gut leiden und er hatte so ein Gefühl, dass sie schon bald gute Freunde werden würden.
Als Keron den Gasthof verließ und auf die Straße hinaustrat, musste er zuerst einige Male blinzeln, weil sich seine Augen an das trübere Licht im Gasthof gewöhnt hatten. Mittlerweile herrschte bereits geschäftiges Treiben auf den Straßen der Stadt. Sie beschlossen die Richtung zum Markt- und Handelsviertel der Stadt einzuschlagen. In dieser Gegend von Reduna, die sie gerade durchquerten, lagen hauptsächlich Wohnhäuser von einfachen Bürgern, wenn man von den einzelnen Schenken und Gasthöfen einmal absah. Links und rechts an den Seiten standen Steinhäuser, die nicht mehr als zwei Stockwerke besaßen. Es war ein sehr einfacher architektonischer Stil ohne unnötige Verzierungen, abgesehen von wenigen einfachen Mustern an den Eingängen. Vor jedem Fenster gab es braune oder grüne Fensterläden und vor manchen waren Schnüre gespannt, um dort Wäsche zum Trocknen aufhängen zu können.
Erst jetzt bemerkte Keron, wie groß Will wirklich war. Seine erste Schätzung hatte sich als richtig erwiesen, denn Will war ungefähr einen Kopf größer als er und seine Arme und Beine waren auch dementsprechend lang. Sein Gang hatte etwas Federndes an sich und er strahlte eine gewisse Kameradschaft aus, die Keron noch nie verspürt hatte und die er sich nicht wirklich erklären konnte. Plötzlich blieb Will vor Keron stehen.
„Hörst du das?“, fragte er ihn. Und wirklich. Wenn Keron ganz genau hinhörte, konnte er viele Stimmen von Menschen ausmachen, die miteinander redeten.
„Wir müssen schon nah am Marktplatz von Reduna sein“, stellte Keron fest. Will nickte nur und wies seinem Freund, ihm in eine Seitengasse zu folgen. Dort kletterte er auf drei übereinandergestapelte Kisten und sprang hoch, um sich mit den Händen an der Kante des niedrigen Daches festzuhalten und hinaufzuziehen. Will machte dies mit so einer Schnelligkeit und Selbstverständlichkeit, dass Keron nur über seinen neuen Freund staunen konnte und er schwor sich, Will bei der nächsten Gelegenheit zu fragen, wo er so etwas gelernt hatte. Kurz darauf konnte Keron ihn nicht mehr sehen, doch dann tauchte sein Kopf wieder auf und er rief zu Keron herab.
„Komm endlich rauf. Du musst das sehen.“ Keron stieg auf die drei großen Kisten, die unter seinem Gewicht etwas nachgaben, aber zum Glück nicht zusammenbrachen. Nach einem kurzen Moment des Zweifels wagte er den Sprung zur oberen Kante des Hauses und versuchte sich hochzuziehen, allerdings hatte er nicht genug Kraft in den Armen. Doch mit der Hilfe von Will schaffte er es schließlich hinauf. Oben auf dem kleinen Dach angekommen, kletterten sie weiter auf das Dach des Hauses nebenan. Dort zeigte Will ihm eine Leiter, die sie benutzten, um auf nächsthöhere Gebäude zu gelangen. Und wieder erkletterte Will die Leiter, ohne Probleme dabei zu haben. Doch als Keron hinaufklettern wollte, schaffte er es nicht die Leiter so schnell und flink zu erklimmen wie sein Freund. Er beneidete Will um dessen Geschicklichkeit.
Will hatte wirklich recht damit gehabt, dass es sich lohnen würde, auf das Dach zu klettern, denn von dort oben hatten sie eine wunderbare Aussicht auf den unter ihnen liegenden Marktplatz und die verschiedenen Leute, die dort Handel trieben. Es war einfach großartig. Keron erkannte Menschen aus den unterschiedlichsten Regionen des Reiches und vor allem die Menschen der östlichen Region von Ryloven fielen ihm wegen ihrer besonders bunten Kleider gleich auf. Nachdem sie einige Zeit an der Kante des Daches gestanden und dem Treiben unter ihnen schweigend zugesehen hatten, wurde Kerons Neugierde einfach zu groß. „Will?“
„Hmmm“, kam es nur als Antwort zurück.
„Du hast mich doch vorher nach meiner Geschichte gefragt, aber du hast noch gar nichts von dir erzählt. Ich würde gerne wissen, woher du so gut auf Dächer klettern kannst?“
„Soso, das wüsstest du gerne, was?“, sagte er und grinste dabei, ohne den Blick von den Leuten zu nehmen. „Du musst dazu erst einmal wissen, dass ich in einer ähnlich großen Stadt wie Reduna als Waise aufgewachsen bin. Die meiste Zeit des Tages habe ich damit verbracht, auf der Straße zu sein, auf Häuser zu klettern, mir geheime Schlupfwinkel zu suchen und am Leben zu bleiben“, fügte er mit einem Schmunzeln hinzu. „Die beste Zeit des Jahres war die, wenn die Gaukler ihr Können auf den Plätzen öffentlich zeigten. Ich bin dann einige Tage nicht ins Waisenhaus zurückgekehrt, sondern habe mit den Gauklern gelebt und einiges von ihnen gelernt. Zum Beispiel habe ich von einem Mann namens Haster das Messerwerfen gelernt und ein paar andere Leute haben mich im Bestehlen von Menschen unterrichtet. Im Nachhinein kann ich es nicht gut heißen, was ich damals getan habe, aber zu meiner Entschuldigung muss man hinzufügen, dass ich es nicht besser wusste und das Gauklerleben wirkte so aufregend. Allerdings bedauere ich die Erfahrungen nicht, die ich gemacht habe, denn ohne sie hätte ich Nicolas nie getroffen.“ Keron unterbrach ihn nicht, um eine Zwischenfrage zu stellen, da er die Geschichte unbedingt hören wollte. Er ließ Will also einfach weiterreden und hörte gespannt zu.
„Es war eines Tages ziemlich genau um die Mittagsstunde, als ich versuchte einen Apfel von einem der Händler zu stehlen. Doch noch bevor ich den Apfel auch nur berührt hatte, wurde mein Arm plötzlich von einer Hand gepackt und aufgehalten. Ich dachte schon eine der Stadtwachen hätte mich erwischt und es wäre aus mit mir. Aber als ich hochschaute, erblickte ich das erste Mal Nicolas Tirion, der mir direkt in die Augen sah und langsam den Kopf schüttelte. Er nahm mich etwas zur Seite und als sich sein Griff lockerte, riss ich mich los und rannte so schnell ich konnte durch die Menge auf die andere Seite des Platzes. Ich versteckte mich in einem meiner geheimen Schlupfwinkel, der ganz in der Nähe war und ruhte mich aus. Mein Herz klopfte wie wild und ich war froh, dass ich gerade noch so entkommen war. Allerdings wie heißt es so schön, man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben.“ Will lachte über seine eigene Geschichte, doch Keron war zu gefesselt, um sich ihm anzuschließen. Nachdem Will sich wieder gefangen hatte, bat Keron ihn, er solle doch bitte weiter erzählen und dies tat Will dann auch.
„Am nächsten Tag kam Nicolas im Waisenhaus vorbei und schlug der Frau, die das Waisenhaus leitete vor mich mitzunehmen und mich zu unterweisen. Zuerst habe ich mich gegen diese Vorstellung gewehrt und ich konnte mir auch nicht erklären, wie mich dieser Mann wiedergefunden hatte. Aber da er wohl irgendetwas in mir gesehen hatte und ich das Leben im Waisenhaus und auf der Straße schon ziemlich satthatte, entschied ich mich mit diesem Mann mitzugehen. Was ich bis heute nie bereut habe.“ Für einen kurzen Moment hatte Keron den Eindruck, dass sich Wills Miene verdunkelte. Doch dann war der Moment auch schon wieder vorbei.
„So, nun kennst du meine Geschichte und ich möchte betonen, dass ich um einiges mehr erzählt habe als du. Aber lassen wir es derweilen gut sein. Los, lass uns wieder nach unten steigen und schauen, was die Händler so zu verkaufen haben.“
Und bevor Keron etwas einwenden konnte, hatte Will sich umgedreht und war bereits halb die Leiter hinuntergeklettert. Schnell folgte ihm Keron und schon bald befanden sie sich mitten im Getümmel des Marktes. Mit großen Augen bestaunten sie die wunderlichsten Dinge, die es an den einzelnen Ständen zu kaufen gab. Es gab dort fast jede erdenkliche Ware, die Keron sich vorstellen konnte. An einem Stand begutachtete er wunderschöne gewebte Teppiche, an anderen Ständen wurden Waffen, Helme und Brustpanzer verkauft, die alle schön poliert waren und in der Sonne glänzten. Neben Haushaltsgegenständen und kleinen Möbelstücken wurden ebenso Blumen, Fleisch, Fisch, Obst und Gemüse angeboten. Während sie sich ihren Weg durch die Menschenmenge bahnten, musste Keron sich immer wieder bei Leuten entschuldigen, weil er sie in diesem Gedränge unabsichtlich angestoßen hatte. Will hingegen hatte keine Probleme, sich ohne Zusammenstöße durch die Menschenmasse zu bewegen und bekam dafür gelegentlich einen bösen Blick von Keron, der einfach nicht verstehen konnte, wie sich sein Freund so mühelos von einem Stand zum nächsten bewegte. Keron war ganz fasziniert von dem Schauspiel, das sich ihm bot. Er hörte Käufer beim Feilschen mit Händlern zu, er hörte das wütende Schreien eines Verkäufers, wenn seine Kundschaft ihm weniger Geld geben wollte, als er es sich vorstellte. Doch man hörte auch oft Ausrufe der Freude und sah energisches Händeschütteln, wenn ein Händler ein gutes Geschäft gemacht hatte. Keron sah viele Gegenstände, die ihm sehr gefielen, wie ein Schwert, das mit Rubinen am Griff besetzt war, die in der Mittagssonne rot leuchteten. Aber weil Keron kein Geld hatte, um sich so ein wertvolles Stück leisten zu können, folgte er Will einfach, der ab und zu bei einem Stand stehen blieb, den Händler fragte, wie viel er für dieses oder jenes Stück verlangte und dann wieder weiterging. Nur einmal blieb Will länger bei einem Stand stehen und Keron konnte sehen, wie seine Augen glänzten, als er ein Set von fünf Dolchen begutachtete. Will versuchte sogar mit dem Händler zu feilschen, um sich diese Dolche zu kaufen, aber der Mann war sehr stur, was den Preis anbelangte und ließ nicht mit sich verhandeln. Verärgert über die Dickköpfigkeit des Händlers gab Will seine Versuche, die Dolche zu erwerben, auf und drehte sich zu Keron um.
„Komm, lass uns etwas zu essen kaufen und dann setzen wir uns an einen ruhigeren Ort. Ich bekomme auf diesen Märkten immer Hunger“, bemerkte er mit einem grimmigen Gesicht. Keron stimmte seinem Freund zu. Deshalb gingen sie zum nächsten Bauernstand und kauften dort einen kleinen Laib Brot und etwas Obst. Danach verließen sie den Platz durch eine kleine Seitengasse und kamen an einem weiteren Platz heraus. Er war nicht so groß wie jener, auf dem die Händler ihre Waren feilboten, allerdings war es auch nicht so laut. In der Mitte des Platzes befand sich eine Statue auf einem etwas erhöhten Plateau, zu deren Füßen sie sich hinsetzten und aßen. Nach dem sie beide etwas im Magen hatten, besserte sich Wills Laune wieder und er vergaß die unerreichbaren Dolche. Diesen Umstand nützte Keron gleich aus, um Will eine weitere Frage zu stellen.
„Will, wie ist Sir Nicolas eigentlich so?“
„Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Nicolas ist ein guter Lehrer und ich habe gehört, dass er nicht jeden als Schüler akzeptiert, deshalb können wir uns glücklich schätzen, denke ich.“
„Das ist ja alles schön und gut, aber kannst du mir nicht bitte mehr über ihn erzählen“, ließ Keron nicht locker, der vermutete, dass Will noch mehr wusste. Immerhin reiste er schon längere Zeit mit Sir Nicolas durch Ryloven.
„Na gut. Ehrlich gesagt, redet er kaum über sich selbst, aber das ist vermutlich so, wenn man ein Mitglied der Reichsschützen ist, denn die sind ein eher verschwiegener Orden.“ Bei diesem Wort wurde Keron neugierig. Er hatte Geschichten gehört, allerdings nie erfahren, ob sie auch wahr waren.
„Stimmt es, dass sie die besten Bogenschützen des Reiches sind?“, fuhr ihm Keron dazwischen.
Will nickte. „Ja, ihre Schussgenauigkeit auf weite Distanzen ist sehr gefürchtet und die Tatsache, dass sie äußerst schnell zwischen verschiedenen Zielen wechseln können, macht sie zu sehr gefährlichen Gegnern. Allerdings habe ich Nicolas noch nie schießen sehen. Er trägt den Bogen und den Köcher zwar meistens bei sich, doch ich konnte ihn noch nie in Aktion sehen.“
„Wenn das stimmt, dann würde ich es sehr gerne von ihm lernen. Aber erzähl mir noch mehr über ihn“, drängte Keron auf weitere Informationen.
„Tja, ich bin selbst noch nicht einmal ein Jahr bei ihm und bis jetzt hatten wir, abgesehen von ein paar Grundstellungen im Schwertkampf, nicht viel Zeit uns mit meiner Ausbildung zu beschäftigen, weil wir eigentlich ständig auf Reisen waren. Viele Menschen treten Sir Nicolas mit großer Ehrfurcht gegenüber, da er im letzten großen Krieg gegen die Teatoken, deren Land an das Gebirge im Nordwesten angrenzt, eine wichtige Rolle gespielt hatte. Doch was er wirklich getan hatte, weiß ich selber nicht so genau.“ Will unterbrach seine Erläuterungen kurz und schien zu überlegen. Doch schließlich erschien erneut sein vertrautes Grinsen auf seinem Gesicht: „Genau, bevor ich es vergesse, sollte ich dir sagen, dass du ihm lieber nicht zu viele Fragen stellst. Denn das kann er nicht so gut leiden. Außerdem verlangt er beim Training und bei jeder anderen Arbeit, die er dir aufträgt, vollste Konzentration und Aufmerksamkeit. Ich glaube, das ist das Wichtigste, das du über ihn wissen musst. Alles andere wird er dir schon selber erzählen, wenn er es für notwendig empfindet.“
Während Keron noch über die Worte seines Freundes nachdachte, stand dieser schon auf, um die Stadt etwas weiter zu erkunden. Will wollte noch unbedingt zur großen Burg des Königs gehen. Er ersuchte Keron hier kurz auf ihn zu warten, während er in die Schenke auf der anderen Seite des Platzes ging, um den schnellsten Weg zu erfragen. Nachdem Keron einige Zeit den vorbeigehenden Leuten zugesehen hatte, kam Will wieder und die beiden machten sich auf den Weg. Sie waren noch nicht weit gegangen, da konnten sie schon die Turmspitzen über den Dächern der Häuser aufragen sehen. Umso näher sie der Burg kamen, umso mehr veränderte sich auch der Stil der Häuser.
„Ohne Zweifel befinden wir uns jetzt in den Adelsvierteln“, dachte Keron. Und sein Eindruck betrog ihn nicht, denn die Häuser waren nun um einiges größer und prunkvoller gebaut als in den Straßen zuvor. Sie hatten alle große Eingangsportale und zu einigen führte eine Marmortreppe hinauf. Keron entdeckte sogar Statuen auf kleinen von den Dächern abstehenden Sockeln. Doch keines dieser Gebäude war wie die Burg selbst. Es war das beeindruckendste Gebäude, das Keron je gesehen hatte. Sie war von einem breiten Burggraben umgeben, der mit dem Fluss verbunden war, der durch die Stadt ins Meer und damit direkt zum Hafen von Reduna führte. Hinter dem Burggraben stand eine sehr hohe Mauer, die das ganze Gebäude umgab, und in jeder der fünf Ecken der Mauer befand sich ein Wachturm. In das Innere der Festung konnten die beiden nicht genau hineinsehen, aber sie erkannten ein riesiges Gebäude aus weißem Stein im hinteren Teil der Anlage, das das Herzstück der Burg bildete. In diesem Palast würden sich vermutlich die königliche Familie, alle Adeligen und die Diener aufhalten. Außerdem vermutete Keron den großen Prunk- und Ballsaal in diesem Gebäude, von dem er schon manche Leute in Gasthöfen schwärmen gehört hatte.
Nachdem Keron und Will sich einige Zeit diesem Anblick hingegeben hatten, beschlossen sie langsam wieder zurückzugehen. Sie nahmen nicht den direkten Weg zurück zum Gasthof, sondern streiften noch länger durch das Adelsviertel, in dem es mehrere Geschäfte gab, in denen man zum Beispiel prachtvolle Ballkleider kaufen konnte. Ohne ein besonderes Ziel gingen sie durch die Gassen, bis sie wieder am Marktplatz ankamen, auf dem nun nicht mehr so viele Leute waren wie vor einigen Stunden. Viele der Händler fingen sogar bereits an ihre Stände abzubauen und ihre überzähligen Waren wieder auf die Karren zu laden. Mit leichten, schnellen Bewegungen überquerte Will den Platz und Keron folgte ihm mit geringem Abstand, weil er noch einige Gegenstände der Händler betrachtete, die er bei ihrem ersten Besuch aufgrund der vielen anderen Personen nicht gesehen hatte. Am Anfang der Straße auf der anderen Seite des Platzes wartete Will auf seinen neuen Freund, damit Keron ihn einholen konnte. Langsam wurde der Himmel immer dunkler und erstrahlte bereits in einem hellen roten Licht, als Keron das Schild des Gasthofes vor ihnen entdeckte. Er ging voraus durch die Tür und die beiden bahnten sich einen Weg durch die lachenden und trinkenden Arbeiter, die nach ihrem Tagewerk in den Gasthof gekommen waren, um sich etwas zu vergnügen. Will setzte sich auf einen freien Hocker an der Bar und bestellte bei Bert etwas zu essen, während Keron sich neben ihn setzte. Als Bert ihnen zwei Teller vor die Nase stellte, sah Will das breite Grinsen unter seinem buschigen Bart.
„Warum denn so fröhlich heute?“, fragte Will und musste ebenfalls grinsen.
„Es ist nichts Besonderes, aber es kommt eben nicht so oft vor, dass ich schon so früh so viele Kunden habe und da sich, während ihr weg wart, ein umherreisender Barde ankündigte, werden die Leute bis spät in die Nacht bleiben und sich viel zu trinken bestellen“, antwortete der Wirt mit seiner tiefen Stimme. Kurz bevor die beiden ihr Mahl aufgegessen hatten, kam wirklich ein Mann mit einem recht bunten Mantel und einem Zupfinstrument in den Schankraum und fing an zu spielen. Begeistert lauschten die beiden dem Gesang und der Musik des Mannes und aßen weiter.
Es dämmerte bereits, als Sir Nicolas über die hölzerne Zugbrücke ging, um endlich die Burg zu verlassen. Aber es war nicht seine Art sich zu beschweren, denn immerhin hatte er, als einer der angesehensten Leute am Hofe des Königs und als wichtiges Mitglied der Reichsschützen, eine gewisse Verantwortung zu tragen. Das ganze letzte Jahr hatte er verschiedenste Nachforschungen angestellt, deren Ergebnisse er nun dem Obersten der Reichsschützen mitgeteilt hatte. Sir Nicolas ging nicht über die Hauptstraßen zurück zum Gasthof, denn obwohl es ihm sonst nicht viel ausmachte, dass die Menschen oft etwas seltsam reagierten, wenn sie einem Mann in Reichsschützengewändern begegneten, wollte er heute nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er verstand sehr gut, warum die Leute misstrauisch auf Mitglieder seines Ordens reagierten. In den letzten Jahren hatten sich Gerüchte entwickelt, dass ihre Schnelligkeit und ihr Können im Bogenschießen einen unheilvollen Grund hatten, was natürlich vollkommener Unsinn war. Doch andererseits hatte dieser Aberglaube einige Vorteile, denn zum einen wurde den Reichsschützen ein gewisser Respekt entgegengebracht und zum anderen konnten Streitigkeiten oft schon durch die Anwesenheit eines Reichsschützen beendet werden, weil sich die meisten nicht mit einem Reichsschützen messen wollten, was auch daher rührte, dass dieser Bund direkt dem König unterstand und nicht den Fürsten der einzelnen Gebiete von Ryloven.