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Teil I
Der Neoliberalismus kann die Systemkrise nicht lösen

»Practical men, who believe themselves to be quite exempt from any intellectual influence, are usually the slaves of some defunct economist. Madmen in authority, who hear voices in the air, are distilling their frenzy from some academic scribbler of a few years back.«

John Maynard Keynes

Die Coronakrise sendet wirtschaftliche Schockwellen um die Welt. Ob und wann die entwickelten Volkswirtschaften auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zurückkehren, ist ungewiss. China hat zwar nach dem scharfen Einbruch schnell zu einem Wachstumskurs zurückgefunden, aber weite Teile Europas stecken tief in der Rezession. Auch in Deutschland wächst die Wirtschaft wieder, dennoch bleiben die Konjunkturaussichten für den Exportweltmeister getrübt, solange seine Absatzmärkte im Coronafieber liegen1. Jenseits konjunktureller Zyklen steht weiter die düstere Prognose des einflussreichen Ökonomen Larry Summers vor einer »Säkularen Stagnation«2, also einer Phase schwachen Wachstums ohne nennenswerte Beschäftigungseffekte, im Raum.

Über die Ursachen dieser säkularen Stagnation herrscht ein ideologischer Glaubenskrieg, dessen Ursprung auf die Auseinandersetzung zwischen John Maynard Keynes und Friedrich August von Hayek zurückgeht. Im Kern lässt sich die Debatte zwischen den beiden Ökonomen, die die Gesellschaften des Westens seit über einem Jahrhundert polarisiert, auf die Frage herunterbrechen: Ist der Staat das Problem und der Markt die Lösung, oder ist es genau umgekehrt?

Die Erben Keynes vermuten die Ursache der Krise in der schwächelnden Nachfrage im Privatsektor. Der Staat soll daher durch Investitionen und Konsum die aggregierte Nachfrage ankurbeln. Die staatliche Starthilfe, so die Hoffnung, könne einen selbsttragenden Wachstumszyklus in Gang bringen.

Was löst aber die Nachfragekrise aus, an der die Volkswirtschaften des Westens aus keynesianischer Sicht seit Jahrzehnten leiden?3 Als Grundübel wird die Konsumschwäche in den übersättigten Märkten des Westens angesehen. Alternde Gesellschaften legen einen hohen Teil ihrer Einkommen als Altersvorsorge auf die hohe Kante. Anders als in Ländern mit schnell wachsenden Bevölkerungen wird die hohe Sparquote nicht durch jüngere Generationen mit größerem Konsumbedürfnis ausgeglichen. Die Konsumnachfrage wird zudem von der explodierenden sozialen Ungleichheit gedrosselt. Globalisierung und Automatisierung haben zu stagnierenden Reallöhnen geführt. Wer nichts hat, kann eben auch nicht konsumieren. Mit Blick auf diese düsteren Gewinnaussichten halten sich die Unternehmen mit ihren Investitionen zurück. Statt zu investieren geben sie ihr Geld lieber für Aktienrückkäufe und Dividendenausschüttungen aus. Zur Konsumschwäche kommt also der Investitionsstreik der Unternehmen.

Gegen den Rat der Keynesianer weigern sich die Staaten, die schwächelnde private Nachfrage mit öffentlichem Konsum oder Investitionen auszugleichen. Spätestens seit den kostspieligen Rettungsaktionen der letzten Finanzkrise sind viele Staaten hoch verschuldet und versuchen ihre Finanzen durch harte Sparprogramme in den Griff zu bekommen. Mit jeder Null- und Sparrunde verschärft sich allerdings die Nachfragekrise.

Diese aus keynesianischer Sicht kontraproduktive Politik basiert auf einem grundsätzlich anderen Verständnis der Rollen von Markt und Staat. Auch die ordoliberalen Erben Hayeks beobachten, dass es den Unternehmen immer weniger gelingt, neue Produkte zu entwickeln, die das Interesse der Konsumenten wecken. Als Ursache dieser Innovationsschwäche der Unternehmen wird jedoch der Staat ausgemacht, der unternehmerisches Engagement mit seinen sozialen, ökologischen, und normativen Auflagen erstickt. Investieren die Unternehmen nicht, wächst die Wirtschaft nicht. Wächst der Kuchen nicht mehr, zerreißen Verteilungskämpfe um die größten Stücke des Bestehenden die Gesellschaft. Würde man die Unternehmen dagegen von all dem Ballast befreien, den ihnen der Staat aufbürdet, könnten sie endlich wieder das tun, was von ihnen erwartet werden darf: mit innovativen Geschäftsmodellen wirtschaftliche Dynamik entfachen. Die Früchte des Wachstums würden dann allen zugutekommen (Trickle-down-Theorie).

Als dem Industriekapitalismus in den 1970er-Jahren durch die steigenden Lohn- und Energiekosten und den wachsenden Wettbewerbsdruck die Puste ausging, setzten die Neoliberalen zum Befreiungsschlag an. Seit vier Jahrzehnten treiben sie nun schon eine Konterrevolution gegen alles voran, was in ihren Augen das freie Spiel der Marktkräfte behindert. Ihr Reformprogramm zur Überwindung der Krise des Kapitalismus setzt an fünf Stellen an:

1.Mit Hochdruck werden die Produkte der Zukunft entwickelt. In der Hoffnung, endlich einen Ausweg aus der Wachstumsschwäche zu finden, werden riesige Summen in die Erforschung neuer Technologien investiert.

2.Es werden Kosten reduziert, um im härter werdenden Wettbewerb um die gesättigten Märkte bestehen zu können. Das geschieht durch das Offshoring und die Automatisierung der Produktion, aber auch durch Lohndruck und den Rückbau des Wohlfahrtsstaates.

3.Neue Kunden werden in den Wachstumsmärkten der Schwellenländer erschlossen. Nach der Globalisierung der Produktion wird also der Konsum globalisiert.

4.In den gesättigten Heimatmärkten wird der Konsum durch private Verschuldung angeheizt.

5.Wenn das alles nicht hilft, parken die Anleger ihr Kapital an den Börsen, um Spekulationsgewinne mitzunehmen.

Doch heute stoßen alle diese Gegenstrategien an ihre ökonomischen, ökologischen, sozialen und politischen Grenzen. Schlimmer noch, die neoliberalen Strategien verschärfen die Nachfragekrise, die den Kapitalismus im Würgegriff hält, nur noch weiter. Gefangen in der Dauerkrise sind nun alle Bereiche der Gesellschaft im permanenten Krisenmanagement. Doch auch die Rettungsaktionen der Zentralbanken und Staaten verschaffen nur kurzfristige Verschnaufpausen, verschlimmern langfristig sogar die Systemkrise. Das billige Geld treibt die soziale Ungleichheit, die Staatsschulden spalten Europa. Und jeder Versuch, die Staatsfinanzen zu konsolidieren, provoziert eine neue Welle populistischer Revolten, die Europa auseinanderreißen und unsere Demokratien bedrohen.

Im Folgenden wollen wir in schnellen Schritten die vielen Baustellen der Systemkrise abschreiten, um besser zu verstehen, wie sich die Krisen gegenseitig bedingen und verstärken.

Kapitel 1
Die Produktivitätsrevolution zündet nicht

Im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte ist das Wohlstandsniveau rund um den Globus immer weiter gestiegen. Angetrieben wurde dieser historisch einzigartige Aufschwung durch die schiere Explosion der Produktivität in den industriellen Revolutionen.

Die Strategie, die Produktivität durch technologische Innovationen weiter zu steigern, liegt daher nahe. Und tatsächlich erlebten wir in den vergangenen Jahrzehnten gewaltige Innovationsschübe, etwa in der Computer-, Kommunikations- oder Biotechnologie. Im neuen Jahrtausend revolutioniert die Digitalisierung Wirtschaft und Gesellschaft. Doch trotz all dieser monumentalen technischen Fortschritte hat der Ökonom Robert Gordon nachgewiesen, dass die Produktivität der Volkswirtschaften insgesamt kaum wächst.4

Warum das so ist, stellt Wirtschaftswissenschaftler vor ein Rätsel. Vielleicht sind unsere Messinstrumente zu ungenau, um den Mehrwert der digitalen Wundertechnologien zu erfassen? Oder sind die Effizienzsteigerungen in einer Dienstleistungsökonomie nicht so groß wie im alten Industriekapitalismus? Oder liegen die großen Produktivitätssprünge, wie Gordon vermutet, bereits hinter uns?

Ob die digitale Revolution den ersehnten neuen Wachstumszyklus auslösen kann, bleibt also abzuwarten. Doch bereits heute sind Zweifel angebracht. Denn die digitale Automatisierung optimiert vor allem den Vertriebsweg zwischen Hersteller und Konsument. Statt selbst in die Ladengeschäfte zu gehen, wählt der Konsument von morgen unter Hunderten Produkten auf einer Onlineplattform aus und bekommt seine Bestellung innerhalb von 24 Stunden per Drohne nach Hause geliefert5. Effizientere Logistik alleine löst aber nicht das Grundproblem der schwächelnden Nachfrage. Solange die Konsumenten unterm Strich nicht mehr konsumieren, bleibt die Digitalisierung ein Nullsummenspiel: Die fixeren Unternehmen jagen den langsameren Marktanteile ab, doch die Volkswirtschaft als Ganzes wächst nicht.

Wächst die Produktivität nicht, stagnieren bei gleichbleibenden Löhnen die Profite der Unternehmen. Steigen die Löhne nicht, schwächelt die Kaufkraft der Konsumenten. Ohne Konsumnachfrage haben die Unternehmen wenig Anreize, zu investieren. Ganz im Gegenteil: Sie werden versuchen, ihre Preise zu senken, indem sie die Lohnkosten drücken. Willkommen in der Zombiewelt stagnierender Löhne, nachlassender Kaufkraft, schwindsüchtiger Investitionsanreize, schwachen Wachstums, sozialer Verteilungskonflikte, wachsender Ungleichheit, sozialer Abstiegsängste und populistischer Revolten.

In dieser Zombiewelt gibt es natürlich nach wie vor technische Innovationen. Die jüngsten Errungenschaften im Bereich der Künstlichen Intelligenz, bei Supercomputern oder in der Nanotechnologie zeugen von dieser Innovationskraft. Doch abseits dieser innovativen Nischen ist die politische Ökonomie aller Disruptionsrhetorik zum Trotz erstaunlich konservativ. Die Gesellschaft als Ganzes setzt eher auf die Bewahrung des Bestehenden als auf kreative Zerstörung, um Neues zu schaffen.

Warum ist das so? Eingezwängt zwischen stagnierenden Reallöhnen und explodierenden Lebenshaltungskosten kämpft die Mittelschicht aus unteren, mittleren und gehobenen Angestellten, Facharbeitern, Bauern, kleineren Selbstständigen und Beamten ums Überleben. Mit dem Rücken an der Wand widersetzt sich die Mittelklasse jeder weiteren Einschränkung ihrer finanziellen Spielräume, seien es Steuern zur Finanzierung öffentlicher Güter, seien es Sozialabgaben zur Sicherung der sozial Schwächeren. Aus den Mittelschichten rekrutiert sich die überwältigende Mehrheit der Wähler. Will die Mittelschicht weniger Staat, wollen es auch die Parteien.

Konsumieren Mittelschicht und Staat weniger, sinkt der Anreiz für Unternehmen, zu investieren. Bleiben infolgedessen neue Beschäftigungsmöglichkeiten aus, setzt die Politik alles daran, wenigstens das Bestehende zu retten. Niedrigzinsen und staatliche Rettungspakete unterlaufen langfristig jedoch die gesunde Selbstkorrektur des Marktes. Damit sind nicht Ausnahmesituationen gemeint, die nichts mit dem normalen Marktgeschehen zu tun haben. In der Coronakrise sind beispielsweise auch kerngesunde Unternehmen unverschuldet in eine Schieflage geraten; in solchen Fällen ist es richtig, gesunde Industrien mit Tausenden von Arbeitsplätzen zu retten. Problematisch wird es, wenn der Staat Unternehmen weiter durchschleppt, deren Geschäftsmodell sich schon lange vor der Krise überlebt hatte. Unfähig, sich aus dem Morast ihrer Schulden zu befreien, schaffen diese Untoten nichts Neues mehr. Statt die knappe Kaufkraft für innovative Anbieter freizugeben, überleben unprofitable Unternehmen am Tropf der Staatshilfen.

Das billige Geld hält Zombiebanken, Zombieunternehmen, ja ganze Zombievolkswirtschaften künstlich am Leben6. Deutsche Banken, chinesische Staatsunternehmen, italienische Fluggesellschaften, bankrotte Euroländer werden durch immer neue Finanzspritzen »gerettet«. Auch deswegen sind die Volkswirtschaften in ihrer Breite weniger innovativ als die digitale Avantgarde.

Und doch dürfen die Zombies nicht sterben. Sie müssen sich weiterschleppen, um dem lebensfähigen Teil der Ökonomie Zeit zu kaufen, in einen neuen Wachstumszyklus einzutreten. Darauf warten aber etwa die Japaner seit Jahrzehnten. Der Soziologe Wolfgang Streeck argumentiert sogar, dass alle entwickelten Volkswirtschaften durch künstlich geschaffene Nachfrage über vier Jahrzehnte am Leben erhalten wurden. Die Inflation der 1970er-Jahre, die öffentliche Verschuldung der 1980er-Jahre, die private Verschuldung der 1990er-Jahre und die Bondskäufe der Zentralbanken (quantitative easing) der 2000er-Jahre sind demnach allesamt Versuche, zukünftige Ressourcen für den gegenwärtigen Konsum verfügbar zu machen.

In diesem Klima aus abstiegsgefährdeten Mittelschichten, bankrotten Kommunen, klammen Staaten und übervorsichtigen Unternehmen finden sich keine gesellschaftlichen Mehrheiten für den großen Befreiungsschlag. Wo Disruptionen technisch möglich wären, bleiben sie politisch im Dickicht der Interessen stecken.

Die Energiewende ist festgefahren

Und so ergeht es auch einem weiteren wichtigen Treiber der Produktivitätsrevolution: der Energiewende.

Technologische Innovationen waren keineswegs die einzigen Triebkräfte der historischen Produktivitätssprünge. Mindestens genauso wichtig waren neue Energieträger, zunächst Kohle, dann Öl und Gas. Der Menschheit ist es gelungen, die seit Millionen von Jahren unter der Erde schlummernden Energiequellen für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Über ein Jahrhundert lang waren es die fossilen Brennstoffe, die sprichwörtlich jedes Rädchen der Weltwirtschaft am Laufen gehalten haben. Der Zugang zu diesen Energieträgern, allen voran dem Öl, war so wichtig, dass darum Kriege geführt wurden. Dieses fossile Zeitalter geht nun zu Ende. Dafür gibt es ökologische und ökonomische Gründe.

Die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas heizt die Erderwärmung an. Steigt die globale Mitteltemperatur um mehr als 2° Celsius über den vorindustriellen Wert, nehmen Wetterextreme wie Stürme, Dürren oder Überschwemmungen ein kaum noch zu bewältigendes Ausmaß an. Steigt der Meeresspiegel an, werden Hunderte Millionen Menschen aus Küstengebieten und von Inselstaaten vertrieben. Städte wie Venedig, New York oder Bangkok drohen im Meer zu versinken. Bereits heute ist die Versorgung mit sauberem Trinkwasser in vielen Ländern gefährdet. Kollabieren die Ökosysteme der Ozeane, fällt nicht nur der größte Speicher für überschüssige Wärme und Kohlenstoffe aus, sondern auch der wichtigste Produzent von Sauerstoff als Basis allen Lebens. Setzt sich das Insektensterben fort, steht die Versorgung mit Nahrungsmitteln auf dem Spiel. Die Zerstörung der Artenvielfalt bedroht auch das Überleben des Menschen auf diesem Planeten.

Obwohl diese Bedrohungslage jahrzehntelang bekannt war, ist es einer Allianz aus Unternehmen der fossilen Energiewirtschaft und ihren Verbündeten in der Politik gelungen, politische Konsequenzen aus den wissenschaftlich gesicherten Einsichten zu verhindern. Aber seit einigen Jahren bröckelt dieser Schutzwall. Wichtige Akteure des Finanzkapitalismus wie die Versicherungsindustrie scheren aus der fossilen Allianz aus, weil die prognostizierten Schäden der durch den Klimawandel ausgelösten Naturkatastrophen ihr Geschäftsmodell bedrohen. Zugleich erreichen die erneuerbaren Energien Sonne, Wind und Wasser einen Grad technischer Reife, die ihren massenhaften Einsatz möglich macht. In vielen Ländern ist die Produktion von Elektrizität aus erneuerbaren Energien bereits heute günstiger als die fossile Alternative7. Immer mehr Investoren schichten daher ihre Portfolios von fossilen zu erneuerbaren Werten um. Der Einbruch der Nachfrage nach fossilen Brennstoffen in der Coronakrise hat diese beiden Trends noch einmal beschleunigt8. In Deutschland ist die Zahl der Arbeitsplätze in der erneuerbaren Energiebranche mittlerweile höher als in den fossilen Branchen. Damit wechseln auch immer mehr politische Akteure das Lager. Nicht zuletzt spekulieren die auf Energieimporte angewiesenen Staaten darauf, sich aus ihrer Abhängigkeit von geopolitischen Konkurrenten wie Russland, Iran oder Saudi-Arabien befreien zu können. Allen voran China ist fest entschlossen, die Märkte der grünen Zukunftstechnologien zu dominieren.

Diese politischen Verschiebungen haben nach Jahren des Stillstands zum Durchbruch bei den globalen Verhandlungen über die Begrenzung der Erderwärmung geführt. Im Pariser Klimaabkommen verpflichteten sich alle 197 Vertragsparteien erstmalig verbindlich dazu, ihre Emissionen zu reduzieren. Diese internationalen Verpflichtungen werden nun, von manchen energischer als von anderen, in nationales Recht überführt. Viele Staaten haben damit begonnen, ihre Investitionen, Subventionen und Regularien neu auszurichten. Langsam aber stetig werden die Technologien und Infrastrukturen ausgebaut, um Mobilität, Wohnungssektor und Industrie klimaneutral zu organisieren.

Auf der anderen Seite wird die Erschließung fossiler Brennstoffe immer teurer. Die leicht auszubeutenden Vorräte in geringen Tiefen erschöpfen sich. Neue Technologien wie das Fracking-Verfahren erlauben es zwar, auch bisher ungenutzte Quellen wie Schiefergas anzuzapfen. Die hohen Kosten machen diese Unternehmen aber in einem Umfeld niedriger Preise unrentabel. Und tatsächlich kommt es auf dem Ölmarkt wiederholt zu Preiskämpfen um die verbleibenden Marktanteile.

Die englische Zentralbank warnte bereits im Jahr 2015 vor einer Carbon Bubble, also einer Blase im fossilen Energiesektor. Steigende Produktionskosten, strengere regulatorische Auflagen, wachsende Konkurrenz durch erneuerbare Energieträger und klimabewussteres Konsumverhalten schaffen ein Marktumfeld, in der sich die Ausbeutung bekannter Vorratsstätten nicht mehr lohnt. Das bedeutet aber, dass diese Vorräte rapide an Wert verlieren. Nach Schätzungen der Citibank könnten so bis zu 100 Billionen US-Dollar an Vermögenswerten in der fossilen Energieindustrie (stranded assets) vernichtet werden9. Wichtige Schlüsselindustrien haben damit begonnen, sich von der fossilen Energiewirtschaft zu entkoppeln. Diese könnte im perfekten Sturm zwischen einbrechenden Preisen für erneuerbare Energien, fallender Nachfrage nach Öl, und geopolitischem Streben nach Energiesicherheit vor dem Kollaps stehen. Die Analysten der englischen Zentralbank sagen daher eine Neubewertung der fossilen Industrie voraus. Die fossile Energiewirtschaft stößt also nicht nur an die ökologischen Grenzen des Planeten, sondern auch an die ökonomischen Grenzen ihres Geschäftsmodells.

Dennoch stößt die Energiewende immer wieder auf den Widerstand wichtiger Interessengruppen. Neben den fossilen Industrien gehören dazu auch all diejenigen, die sich um den Verlust von Arbeitsplätzen sorgen. Wirtschaftsliberale ziehen gegen Verbote und Regulierungen zu Felde. Von der Linken kommen Bedenken gegen die sozialen Auswirkungen höherer Energiepreise. Und gegen Windparks und Überlandleitungen demonstrieren sogar Umweltschützer.

Bislang ist es noch nicht gelungen, die Energiewende politisch so zu gestalten, dass auch Verlierer des Strukturwandels eine Zukunft darin sehen. Im Ergebnis muss daher jeder Fortschritt, wie etwa der Kohleausstieg, immer wieder mit zeitlichen Aufschüben erkauft werden. Im Kampf gegen den Klimawandel müsste die Energiewende aber eigentlich viel schneller als bisher vorangetrieben werden.

Aber selbst, wenn es gelingt, die Energiewende gegen den Widerstand der fossilen Kräfte umzusetzen, stellt sich die Frage, ob eine erneuerbare Ökonomie produktiver ist als eine fossile. Erneuerbare Energien sind zweifelsohne klimafreundlicher als fossile Brennstoffe. Geringere Energieentstehungs- und Grenzkosten sowie höhere Energieeffizienz tragen zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität bei. Andererseits sind höhere Energieeffizienz und geringere Energiekosten auch Anreize für einen höheren Energiekonsum (Reboundeffekt). Ob die Energiewende also mit Produktivitätssprüngen in derselben Größenordnung wie bei den letzten Industriellen Revolutionen einhergehen, ist offen.

Zweifelsohne haben die innovativen Produkte der Digitalwirtschaft neue Märkte erschlossen. Und selbstverständlich haben effizientere Vertriebsformen und Energiesysteme die Produktivität der Volkswirtschaften erhöht. Bisher haben allerdings weder die Digitalisierung noch die Energiewende eine Produktivitätsrevolution ausgelöst. Die Hoffnung, nach Jahren der Stagnation durch neue Produkte und höhere Produktivität einen neuen Wachstumszyklus auszulösen sind daher bislang nicht in Erfüllung gegangen.

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