Kitabı oku: «Die Sturmnacht»
Marc Short
Die Sturmnacht
Kuss der Sterne
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Robbys Wut
2. Der Klabautermann
3. Geheime Zauber
4. Die Verbannte
5. Gefährliche Jagd
6. Der Gezeitenschlund
7. Unerwartete Rückkehr
8. Delphurs Botschaft
9. Die Abtrünnigen
10. Im goldenen Palast
11. Alte Feinde
12. Das Sternschiff
Glossar & Übersicht
Impressum neobooks
1. Robbys Wut
Ein Kurzroman
Mehr als nur ein beunruhigender Blick der Mannschaft fiel in die dunklen Tiefen des Ozeans und mehr als nur ein Mannschaftsmitglied schlief mit einem laut knurrenden Magen ein.
Nicolas Brighton war so ein junger Bursche. Die Fahrt auf hoher See kostet ihn mehr als nur Kraft. Der Blick ins Wasser ließ sein Gesicht erbleichen. Das Essen ließ Nicolas Brighton oftmals stehen. Aus seiner Kabinentüre, über dem Waschbecken, traten dazu meist noch seltsame Geräusche zutage – wie bei einem Mann, den das Leben verlassen hatte und der seine letzten, röchelnden Atemzüge tat.
Nicolas Brighton – den viele auch Blueboy nannten – fuhr sich durch sein kurz geschorenes, braunes Haar. Der Wind strich darüber hinweg wie über weiße Berggipfel jenseits dieser Meere. Unruhe erfasste ihn. Er blickte über die Reling in die dunklen, im Mondlicht glänzenden Wassermassen. War da nicht etwas? Dort im Wasser - Bewegungen – die nicht sein durften? Die nicht sein konnten!
Außer dem blaugrauen Wasser geriet auch Nicolas Brighton immer mehr in Aufruhr. Blasen stiegen plötzlich auf, immer mehr, immer lautere. Die Wellen schlugen jetzt wie Rammböcke gegen die hölzerne Schiffswand. Hier draußen, gelehnt an die Reling, war die wahre Kraft des Meeres zu spüren. Gute alte Sturmnacht, dachte Nico, führe mich sicher durch diese unendlichen Weiten, dem Horizont entgegen und trotze den Gewalten auf ewig. Er spürte, wie sich seine Stirn bei der Frage, ob das klappen konnte, kräuselte und die Fingernägel krallten sich in das von der See feuchte Holz. Gedankenverloren murmelte er: »Oder wenigstens solange, bis ich von Board bin! Die Götter des Meeres mögen mir gnädig sein.«
Ein Krachen. Dann das Bersten von Glas. Ein lauter, immer wieder hallender Ruf: »Blueboy! Blueboy!« Seine Knie wurden zittrig, der Schweiß lief ihm kalt den Rücken hinunter und hinterließ dort, wo er gekrochen war, eine nie gekannte Kälte. Eisig wie die Nacht selbst schlich sie bis in den letzten Winkel seines Körpers.
Die Stimme, die ihn rief, war hart und rau. Gnadenlos. Nicolas Brighton sah den Mann, zudem sie gehörte vor sich, noch ehe er wirklich anwesend war: Robby, den Mann an der Maschine, der diesen Koloss steuerte und die gesamte Crew unter seiner Gewalt hatte.
Ein letzter Blick nach unten. Vor ihm, im Wasser ein riesiger Schatten – es fehlten lediglich bernsteinfarben blitzende Augen wie die eines Raubvogels. Da war es wieder! Dieses Aufleuchten. Aber auch der Ruf nach ihm: »Blueboy!«
Es half nichts, er musste sich hiervon ab und dem schwierigerem Fall zuwenden. Das Unbekannte hinter sich lassen und das Bekannte erdulden. Wissend, dass da mehr war, mehr als nur der Ozean und seine Tiefe. Und sicherlich auch mehr als nur ein großer Wal.
Wieder krachte es. Eine weitere Flasche ging zu Boden und dort zu Bruch. Erst jetzt begriff Nicolas, dass das Geräusch aus seiner Kabine kam. »Blueboy!« Die Stimme war jetzt wie ein Donnerschlag und er fühlte sich wie nach einem direkten Treffer. Nur das hölzerne Deck des Schiffs gab ihm halt, denn es hatte die Kraft und den Widerstand der Jahrhunderte. Auch Nico hatte diese, obwohl man in ihm einen Jungen von gerade einmal zwanzig Jahren sah. Noch, er hoffte auch weiterhin, dass dies so blieb. Aber das Ächzen in diesem Moment ließ die Hoffnung schwinden. »STURMNACHT, gib gut auf dich Acht! Und sei du es, die über mich wacht. Bei Tag und auch bei Nacht.« Damit wand er sich endgültig ab, um sein Schicksal anzunehmen – eine lange, endlose Nacht mit Tätigkeiten, die sonst niemand zu machen einsah.
Lautes Gebrüll – bei dem Nico vermeinte, das letzte Stück Hirn würde ihm aus dem Kopf geblasen, würde ihn durch die Nacht geleiten. »Es ist nur zu deinem Besten, Blueboy. Du musst noch viel lernen und Übung macht bekanntlich den Meister.«, würde es heißen, wenn er wagte zu widersprechen. Dann würde dieses Lachen folgen, das auch jetzt wieder Realität wurde. Robby, die Seele dieses Schiffs, wie er sich gern nannte, stand vor ihm. Der ewige Wächter der STURMNACHT.
Doch diesmal war etwas ganz und gar anders. Hinter ihm, in seinem Rücken manifestierte sich etwas viel, viel Schlimmeres als Robby. Und niemand, außer ihm, schien es zu bemerken.
Zu leben ist nicht immer einfach. Auch oder gerade, wenn man in Tiefen wohnte, die ein Mensch nie betreten konnte. Nicht lebend jedenfalls.
Von oben glitzernd und strahlend wie ein Diamant, darin schwimmend leicht und alles umgebend, darin tauchend – unendlich weit und Sehnsüchte erfüllend. Ja, so war es, das Wasser. Aber darin zu leben bedeutet viel mehr und stellte alles in ein anderes Licht. In ein für sie dunkles Licht.
Amphitrite saß auf einem Felsvorsprung in mehreren tausend Metern Tiefe. Unter ihr öffnete sich eine ozeanische Schlucht wie ein Gewaltiger, alles zermalmender Kiefer. Amphitrites azurblaues, wie Lasurit schimmerndes Haar, wallte in der immerwährenden Strömung wie ein Vorhang aus Tang, wie hunderte aneinander gereihte Fäden bester Qualität – kostbar und rar jedes Einzelne von ihnen und geschaffen durch die Natur. Ihre Fußflosse schwang immer wieder wie der Kopf eines in Gedanken versunkenen Menschen. Die beiden Hände, deren Fingerspitzen in weichen Nägeln endeten, die auf Befehl zu scharfen Krallen werden konnten, hatte sie vor ihr Gesicht geschlagen. Die Meerfrau barg darin tiefgrüne, runde Augen, leuchtend wie eine Quelle. Einnehmend konnten sie sein. Ja, sehr einnehmend. Und besitzergreifend.
Vor nicht allzu langer Zeit war die Meerfrau vor dem Gott der Ozeane geflohen. Amphitrite schüttelte den Kopf. Wie bei den Menschen, so auch bei uns, dachte sie. Und als sie daraufhin an Poseidon dachte, musste sie ebenso an Atlas denken. Ja, mit dem männlichen Geschlecht war es nicht immer einfach, weder hier unten, noch dort oben. Denn auch hier, im immerwährenden Nass trachteten die Götter und Gottähnlichen danach, sich das Weibliche einzuverleiben. Es ganz und gar zu besitzen. Eine Art die Dinge zu sehen und zu behandeln, die ihr nicht wohlgesinnt war. Jedenfalls nicht so. Aber was konnte, was sollte sie tun? Zu Göttern beten? Ein verzweifeltes Gurgeln drang aus ihrer Kehle, Luftblasen stiegen dabei auf. Musste sie zu ihm zurück? Um ihn nicht zu erzürnen? Oder konnte, ja sollte sie kämpfen?
Amphitrite besah ihre Hände mit den langen Nägeln. Soll ich sie zu Speerspitzen erstarren lassen und damit wie eine Furie herumwirbeln?, überlegte sie. Die Meerfrau schüttelte das Haupt im nächsten Moment so stark, dass die Ausläufe ihres Haars einer Peitsche ähnlich umher schwangen.
Sie hatte keine Wahl. Nicht sie. Und auch kein anderer. Weder gottähnlicher Seefahrer, noch Mensch, noch eine unsterbliche Seele. Nicht gegen die Gewalt der Götter. Und doch war in ihr ein Teil, der das so nicht akzeptieren wollte. Ein leiser, kleiner Kern der Rebellion. Entschlossen erhob sie sich auf ihre Schwanzflosse. Und wenn es mein letztes Aufbäumen wird! Ohne Kampf werde ich nicht zu haben sein, sprach Amphitrite stumm zu sich. Auch Götter müssen sich beweisen. Schade nur, dass die meisten es taten, indem sie andere in den Untergang rissen. Poseidon insbesondere, indem er die Meere aufwühlte und den Ozean in einen brodelnden Kessel verwandelte.
Nein, wer sie haben wollte, musste sie verzaubern.
Entschlossen straffte sich ihr Körper. Dann verdrehte sie sich und formte eine in sich bizarre Struktur. Kurze Bewegungen ihres Flossenfußes und ausgleichende, richtungweisende Bewegungen ihrer Arme.
Verzeih mir Atlas. Und danke für deinen Hort der Stille. Einst werde ich zurückkehren und dir meinen Dank zollen, dachte sie, einen letzten Blick auf die maskuline, stattliche Statue werfend, die auf ihren Schultern eine Kugel trug. Und dann war sie fort – auf und davon.
2. Der Klabautermann
Die STURMNACHT schaukelte dahin wie ein einsamer Riese im aufkeimenden Taifun. Der Kurs, den sie verfolgte, war Nicolas unbekannt. Auch, ob sie auf dem richtigen Weg waren. Für Nicolas Brighton zählte gerade etwas ganz anderes: sein weiterer Verlauf des Lebens auf dem Schiff. Denn das Scheppern und daraufhin folgende Brüllen war kein gutes Zeichen. Bei den Göttern des Meeres, was ist hier los?, fragte er sich, die Knie weich wie Pudding, die Arme schwer wie Eisblöcke. Sein eigener Körper zog ihn nach unten und am liebsten würde er im Deck versinken.
»Nicolas Brighton! Ich sage es ein letztes Mal: Komm endlich hervor und lass diesen Unfug! Sprechen wir von Mann zu Mann. Jetzt. Und klären das endgültig.«
Nico schluckte. Endgültig klären, hallte es in ihm nach. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Nur weiteres, endgültiges Übel. Und seine Verdammung. Er sah sich bereits den Gewalten des Meeres übergeben, als Spielball der Mächte des Wassers. Er würde ein gefundenes, wehrloses Fressen abgeben. Aber was sollte er, was konnte er dagegen tun? Nur eines: Sich stellen und nicht zulassen, dass er unterging. Schwer atmend und mit taumelnden Schritten machte sich Nicolas Brighton zu seiner Kajüte auf.
Das ist Schicksal. Und jetzt geht es um mein Schicksal. Mit diesem Gedanken kam Nico an.
»Du …« – die brummige Stimme unterbrach sich. »Aber du müsstest in der Kabine sein!«, sagte der Koloss von Mann mit gefährlich funkelnden Augen, die Stirn in tiefe Falten gezogen. Sein Missverständnis war ihm deutlich anzusehen. Der alte Mann schien zu überlegen. »Du wagst es, mich auf den Arm zu nehmen!«
Nicolas schüttelte nur den Kopf.
»Blueboy, ich will dir mal etwas sagen: Denkst du, du könntest hier so einfach« - Der Kapitän unterbrach sich selbst. Lauschte. Auch Nicolas. Ich habe es geahnt, dachte er. Die weitaus größere Gefahr lauert da unten. Direkt unter uns. Und keiner sieht sie.
Ein Knacken wie bei morschem Holz war wiederholt zu hören. Der Kapitän schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen. »Du kannst hier nicht einfach auf den Putz hauen. Die Kabine abschließen und darin wie ein Berserker wüten! Das ist nicht dein Eigentum.«
Stille.
»Ich hoffe, du bereust es schon. Zugegeben, die Flucht durchs Fenster – oder wie auch immer – war geschickt und« - wieder wurde der Kapitän unterbrochen. »Was zum Teufel…« - weiter kam der Mann diesmal nicht, denn sein massiger Körper wurde herumgerissen, ohne dass man sah, woher der Schlag wirklich kam. Aber jeder hier an Board musste ihn fühlen. Nicolas hatte zum Glück längst an einem mächtigen Balken des Schiffes Halt gesucht. »Was zum…« - hörte Nicolas den Kapitän wieder fluchen. Dann knallte es wie bei einem Schuss. Ein Krachen folgte. Schritte, die Schritte der Mannschaft. Nico zog ein Kreuz vor seiner Brust. Im nächsten Moment sah er wie Robby, der Kapitän, endgültig zu Fall ging. Ein Lächeln wollte sich auf sein Gesicht stehlen und gelang dennoch nicht. Die aufkeimende Genugtuung schwang in ein mulmiges Gefühl über und Nico warf einen scheuen Blick hinter sich über die Reling. Nein, er wollte nicht in die brodelnde Tiefe blicken. Wusste aber, dass es von dort kam. Aber was war dann das in seiner Kabine?
Deutlich sah er vor seinen Augen das Bild, das sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte: ein Männchen, klein und korpulent, in Matrosenkleidung – aussehend wie ein alter Seebär. Nur in Miniaturausgabe. Geschrumpft auf vielleicht dreißig Zentimeter. Also kaum auszumachen. Und doch hatte er es gesehen. Tausende von Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Und immer wieder dieses eine Bild: das Bild eines alten Seemanns mit blutrotem langem, lockigem Haar. Die Haut alt und von Bartstoppeln übersät. Und vor allem dieses Grinsen mit den grün stechenden Augen, die ihn angesehen hatten als wollen sie ihn verschlingen. Ein Klabautermann, dachte Nico mit Erschrecken. Eine Legende.
Da erklang die Stimme des Kapitäns erneut. Er musste sich wieder gefasst haben. »Segel setzen! Alle Mann auf ihre Posten. Nehmt gefälligst eure Plätze ein. Wir verlassen diesen Ort und segeln noch jetzt zum Treffpunkt Nord! Der Teufel soll uns holen, sollte das nicht gelingen. Und wehe es wagt einer, sich zu drücken!«
Die Gewalten der Meere waren unfassbar, ja unberechenbar. Nicolas hatte mehr als nur das begriffen. Doch auf diesem Schiff gab es kein Entrinnen. Ein Schiff, eine Mannschaft. Sie saßen alle im selben Boot. In der STURMNACHT.
Mauerhoch türmten sich die Wellen jetzt auf und schlugen über Board. Drangen auf den Rumpf und die Mannschaft ein, wirbelten sie umher wie Spielfiguren. Nico kam sich wie ein Zuschauer vor, der sein eigenes Schicksal mit ansehen durfte.
Poseidon, dachte sie wie sooft die Tage und sah in der klaren Nacht zu den Sternen. Amphitrite hielt sich im oberen Drittel des Wassers auf und träumte von einem freien Wesen, das sie auf ungewöhnliche Weise verzauberte. Doch immer wieder blitzte der Name ihres jetzigen Herrschers auf. Plötzlich wurde die Meerfrau von außergewöhnlichen Strömungen eingefangen. Der unbekannte Sog erfasste ihren Unterleib und zog an der Fußflosse. Amphitrite brachte all die Kraft, die in ihr steckte auf, um nicht ins Trudeln zu kommen. Ihre Nägel verhärteten sich und gerade so gelang es ihr noch, sich nicht zu überschlagen. Der Meerfrau dämmerte, wohin der Sog sie führen würde. Es gab nur einen Ausweg: Die obere Region aufsuchen und nahe der Oberfläche bleiben. Dies stellte allerdings auch eine hohe Gefahr für sie dar. Zu leicht konnte sie in ein Fangnetz geraten oder gesehen werden. Und dann gab es nur eine Möglichkeit: Den Beobachter verzaubern und in die Tiefen reißen. Sich in eine Sirene zu verwandeln. Aber das war nicht in ihrem Sinne. Die Meerfrau fühlte sich wie zwischen den Strömungen zerrieben und schoss dabei wie ein Pfeil steil aufwärts. Dabei drehte sie sich um die eigene Achse, erzeugte so einen weißen Wirbel um sich, begleitet von schäumenden Blasen. Die Oberfläche spürte sie bald, wogte immer stärker. Die Stürme des Poseidons werden entfacht! Bei den Meeren, lass nur keine Schiffe hier sein. Sie wären dem Untergang geweiht.
Das unangenehme Ziehen in der Brust wurde stärker, wenn sie daran dachte, weswegen die Stürme aufzogen. Nur wegen ihr; weil die Meerfrau nicht wollte, wie sie sollte – nach Meinung des Göttlichen.
Das Meer war zum Kessel geworden. Meterhohe Wellen brachen sich an der Grenze zwischen Wasser und Luft. Und sie hatten ein Opfer gefunden: ein weiteres Schiff für die Sammlung. Genug um zu spielen und sie zu quälen.
Amphitrite durchstieß die Oberfläche. Freiheit, sprach es in ihr, als sie die kühle Luft auf ihrer Haut fühlte. Doch dann sah sie in den Gewalten dieses Elements, das taumelnde Schiff, das kämpfte wie ein Fisch an Land. Aussichtslos und auf verlorenem Posten. Der Mast war längst eingeknickt.
Sie sah mehrere Mitglieder der Mannschaft in den wogenden Massen um ihr Leben zappeln. Die Frontseite hob sich immer mehr nach oben, würde bald wie eine Speerspitze zu den Sternen zeigen. Riesige Balken brachen, das Holz splitterte und Teile davon schlugen links und rechts von ihr ins Nass. In all diesem Chaos leuchtete etwas, leuchtete jemand wie ein herabfallender Stern. Die Meerfrau konnte solche Wesen erspüren. Doch wie die Anderen würde auch er nicht überleben. Amphitrite traf in diesem Moment eine Entscheidung.
Mit entschlossenen Flossenschlägen glitt sie durch die See auf den gefallenen Stern zu. Es handelte sich um einen jungen Mann mit mandelbraunen Augen. Braun wie die Erde, ruhig wie das Land. Darin spiegelte sich Traurigkeit, gemischt mit Erkenntnis. Die Meerfrau sprang jetzt wie ein Delfin über das Wasser. Kurz vor ihm stoppte sie und drückte mit den Nägeln ihrer rechten Flossenhand auf seine Stirn. Der Mann sagte nichts. Blieb still, ruhig wie die Erde. Nur sein schwerer Atem war zu hören. Wie das Brodeln eines Schwefelvulkans. Amphitrite zögerte. Sie roch das Blut, das aus mehreren Wunden seines Körpers kam und schmeckte es mit den Poren ihrer Schuppenhaut. Nur kurz schloss sie die Augen, genoss die eigene Marke des Mannes. Es geht um mehr als das Schicksal eines Einzigen, dachte die Meerfrau. Letztlich ging es um ihr Eigenes, und damit um ihre Zukunft. Ihre Flossenhand umschloss den Kopf des Ertrinkenden, umfasste ihn ganz fest. Sie sah in seine Augen und näherte ihre Lippen, bis sie die kalte Haut der seinen fühlte, den Geschmack von Honig und Wald schmeckte. Doch noch bevor sie den Kuss in all ihrer Form fühlen und ausfüllen konnte, zog sie sich zurück und war fort von ihm.
Mit einer Geschwindigkeit, die sie selbst nicht erahnen konnte, machte sie sich auf und davon. Wieder einmal. Doch diesmal hatte sie ein klares Ziel vor Augen. Eines, das ihr entsprach. Und sie tat, was sie noch nie getan hatte: Sie bat eine ihrer Schwestern um Hilfe.
Zurück auf dem Grund der Tiefe traf sie Poseidon kurz vor seinem Herrschersitz. Er lächelte siegessicher. »Unser Palast wird jetzt durch das Portal ziehen. Egal was geschah, du wirst ihn niemals wieder lebend sehen.«
Amphitrite schwamm auf den Meeresgott zu, umtanzte ihn – umwarb ihn und hoffte tief in ihrem Inneren – mit dem Herzen, dass Poseidon nicht weiter darüber nachdachte, was er gesehen hatte. Wenigstens für wenige Stunden.
Denn was niemand wissen konnte: Der Kuss war ein Kuss der Unsterblichkeit gewesen. Er brachte diesem Menschen ewiges Leben. Und das gab der Meerfrau Kraft. Denn jetzt hatte sie alle Zeit der Welt, um ihr Schicksal eines fernen Tages zu ändern. Und während ihre Lippen sich kräuselten, und die von Poseidon im nächsten Wimpernschlag umschlangen, dachte Amphitrite: Viel Glück, gefallener Stern. Ich hoffe, du steigst wieder auf. Und dass dir die Fähigkeit zu erkennen und zu verstehen weiter erhalten bleibt. Dann wirst du eines Tages verstehen, wer dich noch immer liebt, obwohl sie nicht bei dir sein kann. Außer es führt eines Tages ein Weg durch das Portal, zurück zu dir.
3. Geheime Zauber
Amphitrite lag auf einem Stein und starrte wie gebannt auf die gegenüberliegende Seite. Dort ruhte ein in die Wand eingefasster Schrank, dessen Frontseite aus Kristallglas bestand. Poseidon schwamm davor auf und ab, wobei seine Finger sanft über die Scheibe strichen, so wie sie manchmal auch über ihre Haut fuhren.
»All die Schiffe«, sagte er, »die durch mich sanken, deren Mannschaften ertranken, deren Körper du und andere holten, sind hier.«
Die Meerfrau spürte wie ihre innere Unruhe wuchs, ihre Fußflosse wand sich und schillernde Blasen entstanden. Mit einem Ruck wand sie sich in eine sitzende Position.
»Was wir nicht bergen, holt sich der Ozean, denn er ist dunkel und gierig und er ist weit. Kraken in der Tiefe, Haie aus dem Nichts und Seeschlangen im Schatten der Korallen sind nur einige, die sich um Schiffe und Mannschaften kümmern. - Ich bin froh, dass die STURMNACHT unsere Sammlung ergänzt, eine Sammlung dir zu Ehren, meine Liebe!«
»Niemand von der Mannschaft konnten gerettet werden, der Ozean hat sie alle verschlungen und du das Schiff als Trophäe genommen. Warum nur erinnerst du mich immer wieder daran?«
»Damit du nicht vergisst, was passiert, wenn du meinen Zorn weckst. Zu oft schon hast du ihn geweckt, sieh zu, dass du nicht zu weit geht.«
»Du vergisst, dass das Gemüt einer Meerfrau wie die Gezeiten ist, mal lau wie an einem Sommertag, mal gebrochen und ungebremst wie im Winter!«
»Du bist keine Sirene, du bist…« Wie immer stockte er in diesem Satz.
Liebevoller, wolltest du wohl sagen, dachte sie und erinnerte sich wieder an den gewaltigen Sturm, ihren Aufbruch zur Oberfläche und ihren Kuss. Gefallener Stern, dachte sie, wo magst du wohl gerade sein? Hast du die Insel schon erreicht? Geht es dir gut, auf dem Eiland meiner … Schwester? Das letzte Wort dachte sie mit Unbehagen, denn Skye, die früher immer nur Skylla genannt wurde, gehörte nicht wirklich zu ihrem Blut. Sie wurden lediglich durch einen Schwur zu Schwestern, einen Liebesschwur. Allein dieser konnte den Zorn der Frau bändigen und sie so auch von ihrer schweren Last befreien.
»Einmal werde ich dir jemand schicken, einmal wirst du mir helfen, einmal wirst du mir dann wie eine echte Schwester sein«, hatte sie ihr damals eröffnet.
Skylla hatte gelacht, laut und unnatürlich, ihre Schuppenhaut hatte sich gekräuselt. Mit ihrem doppelten Fischschwanz, der dem saugenden Rüssel eines Kraken glich, hatte die Frau sie umschlungen. »Ich habe Meerfrauenblut in mir, aber mehr jenes der Sirenen als Eures! Und ich liebe und begehre den Mann, der Euch Königin der Meere nennt! Warum also sollte ich mich darauf einlassen?«
Amphitrite hatte sich aus ihrer Umklammerung gelöst, die von einem Brennen begleitet wurde. »Soll ich den König rufen? Wohl kaum! Doch wenn Ihr warten könnt und wenn Ihr auf den Schwur eingeht, so kommt der Tag, an dem ich gehe und Ihr meinen Platz einnehmen könnt.«
»Und du lügst mich auch nicht an?«
Amphitrite stieß eine pfeifende Lautfolge aus, auf dessen letzten Ton ein Wellenreiter herankam. Der Delfin trug einen aquamarinblau funkelnden Stein, der in ein metallenes Quadrat eingefasst war und an einer breiten Silberkette hing mit sich, ein Medaillon, dessen Stein zerbrochen war, als Circe den bösen Zauber über Skylla gebracht hatte und der daraufhin von den Tiefen des Ozeans verschlungen worden war. »Sicher wisst Ihr, welches das ist? Die Macht des Dreizacks hat es geeint, die Kraft ist noch immer darin und sie wird auf Euch übergehen, solange der Stein nicht mehr gespalten wird. Eine Bedingung gibt es allerdings: Ihr müsst Euch an Land begeben und auch dort verweilen, denn allein in Verbindung von Sand, Erde und Luft kann seine Wirkung entfaltet werden. Regen und Sturm bleibt es standhaft, solange ihr es wieder tragt.«
Lange hatten sie daraufhin geschwiegen, bis Skylla begonnen hatte einen Wassertanz um sie aufzuführen. Mit jeder Figur hatte sie sich dabei mehr in eine Sirene verwandelt, ein tötendes Biest mit den feuerroten Augen der Unterwelt. »Einmal werde ich dir helfen, einmal werde ich dir wie eine Schwester sein, einmal werde ich Königin sein«, rief die Frau, die sowohl an Land als auch im Meer zuhause war.
»Das war nicht ganz, was ich sagte«, erwiderte Amphitrite und verschränkte die Arme vor ihrer nackten Brust. Hier im Meer, vor ihresgleichen, trug sie lediglich ein Flossenkleid, der Oberkörper aber war frei. Allein Fischschwärme, Muscheln und Tang verhüllten ein wenig die von Männern so begehrten Formen der Weiblichkeit. Während Skylla ein eher üppiges Décolleté vorzuweisen hatte, war das von Amphitrite eher rasch von einem Schwarm Clownfisch verdeckt. Doch Poseidon schien das zu gefallen. »Du bist geformt wie die Stromlinien des Ozeans, weich, zart und eins mit der See, wärst du eine Koralle, so wärst du die süßeste und strahlendste die es hier zu ernten gibt!«, schwärmte er oftmals.
Skylla hatte sich wieder zu ihr begeben, sich auf ihren Schoß gesetzt. »Mein Blut, siehst du - dein Blut, siehst du«, mit ihren Fingern hatte sie ihr eine Schuppe am Becken gerissen. »Blut besiegelten unseren Schwur. Es wird mir eine Freude sein und ich bin gespannt, was du mir schickst!«
»Einen gefallenen Stern. Du wirst ihn erkennen, wenn er vor dir steht. Behandle ihn dann gut, hörst du?«
»Solange, wie du dein Versprechen hältst. Solange du Kontakt zu mir hältst. Vergiss nur nicht, dass du ebenso lange Königin bleiben musst!« Skyllas Augen glühten wie eine Ermahnung auf.
»Ich werde dir Fisch an Land schicken«, sagte die Meerfrau. »Fisch, den du nicht mehr erreichen wirst.«
Und sie dachte bei sich: So sorge ich für Frieden unter dem Meer, so wird meinem Stern die Irrfahrt durch das Meer ermöglicht und so weiß ich immer, wo Skylla ist.
Jetzt fragte sie sich, was passieren würde, wenn der gefallene Stern ihre letzte Botschaft an Skylla bleiben würde. Denn wie sollte sie Fischspeisen entsenden, wo sie doch durch das Portal ins Jenseitsmeer übergegangen waren? Sie würde erneut einen Boten finden müssen, einen der ihr treuer ergeben war als dem Herr der Meere selbst, zumindest in gewisser Weise. »Ich muss unseren Sohn Triton finden und erreichen, nur er kann mir jetzt noch helfen«, murmelte sie. Doch wo und wie sollte sie den verschollenen Sohn finden? Neben ihr gab einer der Wellenreiter eine mitfühlende Tonfolge von sich. Es war der Ältestes, jener der treu zu Poseidon stand und auch sie seit Ewigkeiten kannte: Delphur. »Du würdest alles für ihn tun, nicht wahr?«
Wieder antwortete er mit einer Tonfolge und hob dabei seinen Kopf ähnlich einem Nicken.
»Wenn du mir hilfst, hilfst du in gewisser Weise auch deinem Herrn. Ich möchte meinen König nicht unglücklich machen, verstehst du, aber ich muss meinem Herzen folgen.« Sie gab Delphur einen Kuss oberhalb des Schnabels. »Du kennst mich und ihn, und du kennst unseren ersten Sohn. Finde ihn!«
»Was schickt sie mir? - Was für ein schuppenloser Fisch ist das? Sollte tatsächlich die Zeit gekommen sein und ich nun erkennen?«
Wer sprach dort solche unverständliche Silben und Sätze? Nicolas Brighton wollte sich aufrichten, doch er konnte nicht. Prustend spuckte er Salzwasser aus, während sein Hinterkopf ein weiteres Mal auf den schlammigen Boden klatschte. Seitlich spürte er die Arme und versuchte sie zu heben, um sich Sand und Dreck aus den Augen zu wischen. Auch dieser Versuch ging daneben.
»Töten? Leben lassen?«, zische die weibliche Stimme, die er schon zuvor gehört hatte.
Er öffnete seine Lider, blinzelte, da das Sonnenlicht in seinen Augen brannte. Tränen quollen heraus, doch er wollte nicht mehr wegsehen. Die Frau, die sich über ihn beugte, hielt ein Messer in der rechten Hand und war bereit, damit zuzustechen; mit der linken befühlte sie seinen Körper. Ihr Gesicht war gezeichnet von Zorn und Wut. Bitterkeit schwappte wie eine Suppe zu ihm herüber. Nein, ihr würde er sicher nicht seinen wahren Namen nennen. Aber was sollte sie schon mit seinem Spitznamen anfangen können? »Blue-boy«, krächzte er. »Mein Name ist Blueboy.«
Die Frau, die über ihn gebeugt stand lachte. »Und meiner Skye, Junge aus dem Meer. Bist du vom Schiff gefallen? Wohin warst du unterwegs?« Ein lauernder Unterton lag in ihren Worten.
»Ich… ich weiß nicht mehr.«, murmelte er.
Ein Klatschen folgte, daraufhin fing seine Wange zu brennen an. »Du hast mich geschlagen!«, rief er und spürte, wie sich sein Blickfeld verfinsterte. Er drohte wieder das Bewusstsein zu verlieren.
»Und du hast die Wahrheit verschwiegen.«
Wieder spürte er trommelnde Schläge auf seinem Körper - leichter diesmal. Doch er hatte erfahren, wozu sie in der Lage war, er musste vorsichtig sein bei dieser Frau. Dieser Tag steht unter keinem guten Stern, dachte er und da fiel ihm wieder ein, wie ihn die Meerfrau genannt hatte. »Gefallener Stern…«, murmelte er.
»Was? Was hast du gesagt?«
Nico schluckte. Wie konnte man nur so unvorsichtig sein und auch noch laut aussprechen, was man dachte? Endlich erweiterte sich sein Blickfeld wieder, die bunten Punkte vereinten sich wieder zu dem Bild von ihr, das er kannte. Nur, dass die runden Augen der Frau jetzt dicht vor seiner Nase waren, so nah, dass er das funkelnde Rot hinter dem tiefen Blau der Iris erkennen konnte. Ein wenig erinnerten ihn ihre Augen an die der Meerfrau, aber es gab im ersten Moment zu vieles, was dagegen sprach ihr zu vertrauen. Erst jetzt fiel ihm das Schmuckstück auf, dass den Kopf der Frau zierte wie ein Haarkranz: Ein breites, silbernes Band zog sich unter ihren Haaren hindurch über die Haut und lief über der Nase in einer Spitze aus, in der ein geheimnisvoller Stein leuchtete. Das Kleinod erinnerte ihn an die hohen Priesterinnen aus dem Osten, die ein solches bei ihren Zeremonien trugen. Aber wir sind hier weit entfernt von Ägypten, dachte er, sehr weit.
»Wiederhole deine Worte und folge mir!« Die Stimme holte ihn aus seinen Gedanken zurück. Der Klang der Worte war so zwingend, dass ihm keine Wahl blieb, außerdem wollte er nicht noch einmal geschlagen werden. Also schleifte er sich hinter ihr er und sagte: »Gefallener Stern.«
Die Frau schüttelte ihren Kopf. »Wie kann man solch eine Wahl treffen? Abgesehen von den tiefbraunen Augen ist nichts hübsch an dir! Aber deine Augen, sie würde ich dir gerne heraustrennen.«
Sein Herz fühlte sich an, als würde man einen Knoten darum binden und diesen wie ein Schuhband festziehen.
Sie gingen über eine Steinküste tiefer ins Landesinnere. Palmen und Farne, Gräser und Sand formten dieses Stück Land und gaben ihm dem Anschein einer Insel in der Südsee. Die Frau führte ihn zu einem Platz mit einer aus Holz und Schilfgras geflochtenen Matte und stieß ihn an dieser Stelle zu Boden. »Schlaf nun, die Sonne ist schon fast untergegangen.« Wieder traf ihn ihre Hand und er konnte nichts dagegen tun, als ihn die Schwärze zu sich holte.
Ein Feuer brannte, als Nicolas Brighton erwachte. »Du solltest etwas trinken. Magst du auch etwas zu essen?« Die Frau saß in einiger Entfernung. Ein weißes Pferd war bei ihr, dessen Zunge unablässig über ihr Gesicht leckte. Das Schnauben des Tieres war nicht zu überhören und erinnerte ihn an seine Kindheit. Wie lange hatte er keine Pferde mehr gesehen, wie lange war er nicht mehr geritten?
»Wo sind wir hier? Wie weit ist der Norden entfernt?«, fragte er, denn ihm fiel wieder ein, dass er mit der STURMNACHT unter Kapitän Robbys Kommando zum Treffpunkt Nord unterwegs gewesen war. In Richtung seiner Heimat.
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