Kitabı oku: «Praxisschock (E-Book)»
Marcel Naas
Praxisschock
Wie sich Nico Sommer über den Theorie-Praxis-Graben rettet
ISBN Print: 978-3-0355-1359-2
ISBN E-Book: 978-3-0355-1360-8
Gestaltung: Isabell Schmidt-Borzel, Konstanz
Illustrationen: Eugen U. Fleckenstein, Winterthur
1. Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© 2019 hep verlag ag, Bern
INHALTSVERZEICHNIS
Vorbemerkung
Prolog
Klassenführung
«Warum tun sie nicht, was ich sage?»
Wissenserwerb
«Warum wissen sie nichts mehr?»
Motivation
«Warum beginnen sie nicht zu arbeiten?»
Metakognition und Selbststeuerung
«Warum lernen sie nicht selbstständig?»
Verstehen und Anwenden
«Warum wenden sie das Gelernte nicht an?»
VORBEMERKUNG
«Praxisschock» steht groß auf dem Buchumschlag, und wenn der Untertitel nicht wäre, könnte man meinen, der Berufseinstieg sei eine hoffnungslose Angelegenheit. Das trifft selbstverständlich nicht zu. Angehende Lehrpersonen werden in vielen Praktika bestmöglich auf die bevorstehende Berufspraxis vorbereitet, sodass sie eben genau keinen Praxisschock erleiden. Wenn es – wie in diesem Buch beim fiktiven Berufseinsteiger Nico Sommer – trotzdem zu einem kommt, dann oft, weil die Verbindung von Theorie und Praxis nicht hergestellt wird. Oder anders formuliert: Wenn jemand denkt, nach der Ausbildung die Theorie endlich hinter sich lassen zu können, täuscht er sich gründlich. Wer geschockt und leicht desillusioniert nach schneller Hilfe sucht, landet meist bei Ratgeberliteratur. Dazu gehört dieses Buch definitiv nicht.
Als ehemaliger Sekundarlehrer weiß ich, dass allgemeine Tipps oft zu kurz greifen. Und nach meinem Studium der Erziehungswissenschaft und aus der jetzigen Sicht als Dozent an der Pädagogischen Hochschule liegt es mir umso ferner, eine Sammlung von Praxisrezepten zu veröffentlichen. Vielmehr möchte ich die Verbindung zwischen Theorie und Praxis aufzeigen und stärken. Es gibt für Situationen oder Fragen in der Schulpraxis immer viele und diskutierbare Lösungen – und es gäbe selbstverständlich auch andere Antworten als jene aus der Pädagogischen Psychologie und der Allgemeinen Didaktik. Ich analysiere und erkläre aus diesen Perspektiven, weil sie mir die vertrautesten sind.
Dieses Buch ist ein theoretisch gestützter Praxisbericht aus dem Leben eines Berufseinsteigers, der allerhand typische, zuweilen überzeichnete Situationen des Schulalltags erlebt. Nico Sommer ist erfunden. Ich habe mit ihm so etwas wie einen Wunschstudierenden oder eine Wunschlehrperson kreiert, denn er verlässt sich nicht nur auf die Versuch-Irrtum-Methode, um Erfahrungen zu sammeln und so qua learning by doing zum besseren Lehrer zu werden. Er versucht stattdessen, Theorie und Praxis zu verknüpfen, also gelernte Theorie in der Schulpraxis anzuwenden oder das Unterrichtsgeschehen theoretisch zu reflektieren – ganz im Sinne des reflective practitioners von Donald A. Schön.[1]
Die Grundidee des Buches ist, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, an Nicos Gedanken teilhaben können und so nicht nur sehen, wie er handelt, sondern verstehen, weshalb er so handelt. Zur besseren Übersichtlichkeit sind seine Gedanken jeweils kursiv gesetzt.
Da Nico kein Erziehungswissenschaftler ist, erklärt er in seinen Gedanken nicht immer die ganze dahinterstehende Theorie und definiert nicht jeden Fachbegriff. Wer sich also noch mehr in die Theorie vertiefen möchte, ist herzlich eingeladen, die am Seitenrand und im Index ausgeführten Begriffe in der Fachliteratur nachzuschlagen.
Die zu Beginn jedes Kapitels – Klassenführung, Wissenserwerb, Motivation, Metakognition und Selbststeuerung, Verstehen und Anwenden – etwas salopp formulierten Fragen mögen für die Phase des Berufseinstiegs besonders kennzeichnend sein, beschäftigen aber auch erfahrene Lehrpersonen in der täglichen Arbeit immer wieder. Insofern richtet sich das Buch nicht ausschließlich an Berufseinsteigende, sondern an alle an Unterricht interessierten Personen. Es soll dazu beitragen, den berüchtigten Theorie-Praxis-Graben weiter zuzuschütten oder, noch besser, ihn gar nicht erst entstehen zu lassen.
Zürich, im Herbst 2019
Marcel Naas
PROLOG
Nico Sommer macht sich auf den Weg zur Schule. Im August hat er in seiner ersten Anstellung als Sekundarschullehrer eine siebte Klasse übernommen. Der Start glückte ihm nicht besonders. Vieles, was ihm in der Ausbildung völlig plausibel und klar vermittelt worden war, wollte in der Praxis nicht so richtig funktionieren. Für praktische Probleme fand Nico oft keine Lösung, weil ihm die passende Theorie fehlte. Oder mangelte es einfach nur an Erfahrung? Damit trösteten ihn seine Teamkolleginnen und -kollegen. «Das wird schon. Am Anfang ging es mir wie dir.»
Nico genügte das nicht. An der Pädagogischen Hochschule war mantramäßig wiederholt worden, die Theorie sei zur Reflexion der Praxis unerlässlich, genauso wie die Praxis als Handlungsfeld der Theorie eminent wichtig sei. Das verhindere, dass sich ein Theorie-Praxis-Graben auftue. Erfahrung sei wertvoll, allerdings umso mehr, wenn sie mit theoretischen Kenntnissen verknüpft werden könne. Nico glaubte an die Wichtigkeit der Theorie – bis er als Klassenlehrer die erste Sekundarklasse übernahm und vom Berufsalltag so absorbiert wurde, dass für die Reflexion keine Zeit mehr blieb. Es war ihm, als würde er in einem Ruderboot im Sturm auf dem Meer treiben, bald von der einen, bald von der anderen Welle erfasst, und so sehr er auch ruderte, gelang es ihm kaum mehr, das Boot in die gewünschte Richtung zu steuern. So konnte es nicht weitergehen. Das beschloss Nico in den Herbstferien nach drei Tagen im Bett, als er realisierte, dass ihn nicht nur die Grippe so geschwächt hatte.
Nico verlangsamt seine Schritte. Noch um diese Kurve, dann steht er vor dem Schulhaus. Er fühlt sich unbehaglich.
Was ist los mit mir? Habe ich etwa Angst? Und wovor genau? Ich bin doch gerne Lehrer, oder nicht?
Er legt die Stirn in Falten und schluckt leer. In einer halben Stunde beginnt die erste Lektion nach den Herbstferien. Nico spürt, wie sich sein Puls beschleunigt.
Ich kenne das Gefühl. Es ist die übliche Unsicherheit, die ich vor jedem Praktikum oder nach den Sommerferien auch gespürt habe. Nehmen die mich ernst? Kann ich mich durchsetzen? Kann ich in meiner Rolle als Lehrperson genügen?
Vor einem Fenster der Turnhalle bleibt Nico stehen und betrachtet sein Spiegelbild. Er richtet sich auf und strafft die Schultern. Ihm blickt ein junger Mann entgegen, 24-jährig, sportlich und recht gut aussehend, wie er findet. Aber sieht er in ihm auch einen Lehrer?
Reiß dich zusammen. Du kannst das.
Kein Zweifel: Nico war ein interessierter Student gewesen. Wie die meisten anderen war er zwar auch an die Pädagogische Hochschule gegangen, um eine Berufsausbildung zu absolvieren, aber es war ihm immer klar gewesen, dass es hierfür eine erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Basis braucht. Deshalb hatte er nach der Abschlussfeier die Studienbücher nicht zum Altpapier gelegt, und auch die elektronischen Dokumente auf seinem Laptop hatte er behalten.
Als Nico in den Herbstferien über die ersten zwei Monate seiner Schulpraxis als Klassenlehrperson nachdachte, kam er zum Schluss, dass ein Blick in Theoriebücher hilfreich sein könnte, um nach den Ferien gewisse Dinge zu ändern. Sobald er wieder gesund genug war, begann er deshalb nicht sofort mit der konkreten Unterrichtsvorbereitung. Stattdessen vertiefte er sich in sein dickes Lehrbuch der Pädagogischen Psychologie, um Antworten auf seine Fragen aus der Schulpraxis zu erhalten.
Mit einem letzten Blick auf sein äußeres Erscheinungsbild atmet Nico tief durch, dann überquert er mit bewusst sicherem Schritt den Pausenplatz.
Ah, da drüben stehen ja schon ein paar Schülerinnen und Schüler aus meiner Klasse. Also, Nico, keine Unsicherheit zeigen. Selbstbewusstsein demonstrieren – das wirkt!
Beim Betreten des Klassenzimmers reagiert sein Körper – Nico registriert ein Kribbeln im Bauch und zunehmende Nervosität.
KLASSENFÜHRUNG
«Warum tun sie nicht, was ich sage?»
Nico schaut auf die Uhr und dann zur Tür. Noch zwanzig Minuten bis die Lektion beginnt. Diesmal wird er bereits hier sein und nicht wie so oft vor den Ferien als Letzter ins Zimmer huschen. Er denkt an einige Tage, an denen ihm beim vorsichtigen Öffnen der Tür ohrenbetäubender Lärm entgegenschlug. Im Zimmer präsentierte sich ihm dann eine Meute herumlümmelnder und herumalbernder Schülerinnen und Schüler. Jedenfalls war niemand bereit für den Unterricht. Lässt sich das nur schon durch seine Präsenz im Zimmer ändern? Nico weiß es nicht. Noch fünfzehn Minuten. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals.
Ob sie auch nervös sind, wenn sie nach den Ferien wieder in mein Klassenzimmer kommen?
Nico erinnert sich an seine Lektüre in den Ferien: das Kapitel zum Behaviorismus und den Abschnitt zum klassischen Konditionieren.
Es ist gar nicht Nervosität. Es ist eine Form von Angst. Eine typische konditionierte Reaktion auf den anfangs neutralen Reiz «Klassenzimmer». Als ich in den Sommerferien das erste Mal hier eintrat, konnte ich keine solche Reaktion feststellen. Das wiederholte und zeitgleiche Auftreten der beiden Reize «Klassenzimmer» und «Gefühl des Überfordertseins» hat mich lernen lassen, auf den anfangs neutralen Reiz «Klassenzimmer» die nun konditionierte Reaktion «Unwohlsein» zu zeigen. Eine Form von Kontiguitätslernen. Meine Güte! Das ist wie Pawlows Hund, der auf ein Glockenzeichnen zu speicheln beginnt. Ich lasse mich doch nicht so plump konditionieren. Das muss sich wieder ändern.
Als die ersten Schülerinnen und Schüler ankommen, registriert Nico bei zwei Mädchen einen gewissen Widerwillen.
Was machen denn Lisa und Anna für ein Gesicht? Denen geht’s nicht gut, wenn sie hier hereinkommen. Sind die auch bereits klassisch konditioniert und zeigen aversive Reaktionen auf den Reiz «Klassenzimmer»? Ich muss versuchen, diesen Reiz mit einer anderen Reaktion als Angst oder Niedergeschlagenheit zu verknüpfen. Sie sollen sich wohlfühlen, wenn sie hier eintreten.
«Hallo Lisa, hallo Anna!» Nico geht auf die Schülerinnen zu, streckt ihnen die Hand entgegen und lächelt sie an. Die Mädchen schauen ihn verwundert an, entspannen sich aber sichtlich.
Geht doch. Ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre gemacht. Vielleicht war ich bisher zu distanziert und habe zu sehr versucht, nicht Berufseinsteiger, sondern Autoritätsperson zu sein. Widerspricht sich das überhaupt? Eigentlich nicht, oder? Authentisch sein solle man, habe ich wiederholt gelesen. Authentisch wäre nun aber, dass ich nicht künstlich streng schaue, sondern jeden freundlich begrüße.
Nico stellt sich in den Türrahmen und wartet auf den Rest der Klasse.
Der Lehrer soll «Gastgeber» sein, heißt es. Ich werde dafür sorgen, dass man sich in meinem Klassenzimmer wohler fühlt. Meine Freundin meint ja, ich solle damit beginnen, die Pflanzen im Zimmer nicht sterben zu lassen. Vielleicht hat jemand aus der Klasse einen konkreten Vorschlag zur Sitzordnung oder dazu, wie alle besser arbeiten könnten. Ich traktandiere das mal für den nächsten Klassenrat.
Er nickt zufrieden. Der kurze Kontakt zu allen Schülerinnen und Schülern beim Händeschütteln scheint Wirkung zu zeigen. Es ist viel weniger hektisch als sonst, wenn er jeweils am Pult sitzt und ein Teil der Klasse ins Zimmer gestürmt kommt. Nico stellt einen doppelten positiven Effekt fest. Zum einen ist da der kurze freundliche, persönliche Kontakt, zum anderen markiert er so, unter dem Türrahmen stehend, auch physisch, dass hier seine Schulstube ist, wo man sich als Gast auch so verhält, wie es sich gehört. Ein erster Schritt zur neuen Klassenführung, wie er sie sich nach den Herbstferien vorgestellt hat, ist also gemacht.
Inzwischen ist die Klasse vollzählig. Die Schülerinnen und Schüler wühlen geschäftig in ihren Schultaschen und Rucksäcken, einzelne setzen sich an ihre Plätze und legen den Kopf auf ihre Arme, andere sind in laute Gespräche vertieft. Der Schulhausgong ertönt. Keine Reaktion.
«So, ich möchte beginnen … – Blick nach vorne, bitte.» Wenig Aufmerksamkeit. Zwei Schülerinnen unterbrechen ihr Gespräch und schauen kurz zu Nico. Andere haben ihn nicht gehört oder tun zumindest so. «Es hat geläutet, darf ich euch bitten …?»
Warum muss ich die Klasse überhaupt bitten? Die sollten doch einfach automatisch ruhig sein. Die Theorie des Kontiguitätslernens besagt, dass ein zeitgleiches Auftreten von zwei unkonditionierten Reizen – hier also die Reize «Gong» und «die auf Ruhe wartende Lehrperson» – mit der Zeit dazu führen, dass die gelernte konditionierte Reaktion, also «die Gespräche abbrechen und nach vorne schauen», auch schon auf den neu konditionierten Reiz des Gongs gezeigt wird – ganz ohne dass die Lehrperson mahnend vor der Klasse stehen muss. Warum sind sie denn nicht ruhig?
Nico wird lauter: «Ruhe, bitte!» Zwei Schüler beenden ihr Gespräch, aber noch immer wenden ihm viele den Rücken zu, weil sie mit ihren Klassenkameraden in den hinteren Bänken sprechen.
Wollen die mich provozieren? Oder haben sie mich echt nicht gehört?
«Wer jetzt nicht nach vorne schaut, bleibt heute Mittag länger hier.» Nico hat noch einmal lauter und bestimmter gesprochen. Die Gespräche verebben, und alle wenden sich ihm zu. Endlich kann es mit der Lektion losgehen. Nico hat zu schwitzen begonnen und fühlt sich nach dem ersten Machtkampf des Tages bereits nicht mehr so frisch wie noch vor fünf Minuten. Das hat er sich anders vorgestellt.
Klassenführung mit angedrohten Strafen ist eigentlich nicht das, was ich mir vorgenommen habe. Eine direkte Bestrafung durch Hinzufügen eines Reizes, hier also das Nachsitzen, wäre das gewesen. Ich hätte auch eine indirekte Bestrafung in Aussicht stellen können, also denjenigen, die noch immer nicht bereit waren, mit einem Entzug drohen. «Wer jetzt nicht aufpasst, darf heute nicht am Computer arbeiten.» Lächerlich. Zu Recht heißt es wohl in der Theorie, man solle lieber gewünschtes Verhalten ermutigen oder verstärken als unerwünschtes Verhalten mit Strafen unterdrücken.
«Ich hoffe, ihr hattet schöne Herbstferien.» Nico will nicht mit einer Standpauke einsteigen. «Gut, dass ihr alle am Platz wart und eure Sachen bereitlagen, als es geläutet hat.» Die Atmosphäre verbessert sich merklich. «Ziel ist es, dass wir dann auch gleich mit dem Unterricht beginnen können. Das nehmen wir uns für dieses Semester vor.» Viele lächeln, einige grinsen etwas schuldbewusst.
So kann ich sie vielleicht ins Boot holen. Ich beschuldige niemanden direkt, sondern formuliere ein gemeinsames Ziel. Zudem muss ich einzelne Teilschritte auf dem Weg zum Ziel positiv verstärken. Dass sie alle am Platz waren und die Sachen ausgepackt hatten, war ja wirklich schon mal ein guter Anfang.
«In der heutigen Deutschdoppelstunde befassen wir uns noch einmal mit den Wortarten. Ziel ist es, dass ihr am Ende der beiden Lektionen in einem beliebigen Text die Nomen und Pronomen finden und bestimmen könnt.» Nico hat nun die ungeteilte Aufmerksamkeit der Klasse und ist froh, dass er seinen Input ungestört geben kann. Er macht einen Beispielsatz.
«Die Ente schwimmt im Teich. Welches sind die Nomen, welches die Pronomen?» Er wendet sich von der Klasse ab, um den Satz an die Wandtafel zu schreiben, ist aber noch nicht beim zweiten Wort angelangt, als es hinter ihm bereits unruhig wird. Er blickt über die Schulter. Außer verdächtig scheinheiligen Gesichtern kann er aber nichts Besonderes erkennen. Er schreibt weiter – mit ungutem Gefühl.
Ich hätte diesen Beispielsatz vorher an die Tafel schreiben sollen. Der Klasse den Rücken zuzuwenden, während alle warten müssen, schreit ja danach, dass jemand etwas Dämliches tut.
Hinter ihm wird ein Stuhl gerückt. Nico zwingt sich, den Satz fertigzuschreiben. Jemand kichert.
Du bist selbst schuld. Der Unterricht sollte keine Brüche haben. «Zügigkeit und Reibungslosigkeit» als Mittel zur Störungsprävention. Von wem stammt das schon wieder …?
Nico dreht sich um und sieht aus den Augenwinkeln, wie einer seiner Schüler mit den Armen schlägt, als hätte er Flügel. Er macht die Bewegungen aus dem Ententanz. Die anderen scheinen sich köstlich zu amüsieren und können sich nur knapp lautes Lachen verkneifen.
«Was läuft da, Luca?»
«Sie, Herr Sommer», Luca hebt seine Schultern und dreht die Handflächen mit gespielter Empörung nach oben, «ich habe nichts gemacht.»
«Und warum schauen alle zu dir?»
«Das weiß ich doch nicht. Das müssen Sie die anderen fragen.»
Das werde ich bestimmt nicht tun. Am besten ignoriere ich das Ganze.
«Zurück zu unserem Beispielsatz. Wer kann die Wortarten bestimmen?»
«Ente ist ein Nomen!», ruft Tobias.
«Wie war das schon wieder mit dem Handheben?» Langsam, aber sicher ist Nico gereizt.
Omar streckt auf und wiederholt den Satz, worauf sich Nico umdreht und das Nomen braun unterstreicht.
«Quaaaak!», ertönt es in seinem Rücken. Einige lachen laut.
Ruhig bleiben, Nico. Es ist wieder Luca, er will dich provozieren.
Nico blickt Luca lächelnd an.
«Was ist los?», fragt Luca unsicher. «Ich war das nicht.»
«Der Kindergarten ist zwei Häuser weiter, Luca.»
Vereinzeltes Kichern.
Es ist total unprofessionell, auf eine Provokation ebenfalls mit einer Provokation zu reagieren. Das schaukelt den Konflikt nur unnötig hoch und gibt dem Störenfried die gewünschte Plattform. Zudem steht so die Störung im Vordergrund, was eigentlich nicht sein soll. Viel eher sollte ich gemäß dem Low-Profile-Ansatz von Borich die Störung klein halten, sie möglichst präventiv zu verhindern versuchen oder zumindest so niederschwellig behandeln, dass nicht alle anderen gestört werden. Das habe ich nun allerdings verpasst. Ich versuche etwas anderes.
«Nun mal ehrlich», Nico schüttelt mit gespielter Enttäuschung den Kopf und blickt in die Klasse, «sind wir heute besonders lustig drauf? Macht es euch solchen Spaß, wenn jemand wie eine Ente schnattert?»
Verstohlenes Grinsen.
«Na gut, dann bitte alle mal schnattern.»
Ungläubige Blicke.
«Ich meine es ernst. Los, schnattert! Alle!»
Sättigung nennt sich das Prinzip. Das wird in meinem Lehrbuch zwar eher nicht empfohlen.
Die Klasse schnattert und grölt.
Nun verstehe ich auch, warum. Wenn bloß der Schulleiter nicht plötzlich hereinkommt! Im besten Fall legt sich ja der Tumult wieder, weil es der Klasse zu blöd wird. Das kann ich nun aber nicht bei jedem unerwünschten Verhalten anwenden, sonst drehe ich durch. Und was ist, wenn sich das Verhalten nicht «sättigt»?
Überrascht stellt Nico fest, dass der Lärm nach zwei Minuten tatsächlich verebbt. Er atmet tief durch. So schnell wird er diese Methode dennoch nicht wieder einsetzen. Nico verteilt ein Arbeitsblatt. Die Schülerinnen und Schüler sollen nun in Einzelarbeit Nomen und Pronomen bestimmen. Er setzt sich hin und beobachtet die Klasse.
Kounin! Jetzt weiß ich es wieder. Der Klassiker, wenn es um classroom management geht. Er spricht davon, dass die Gestaltung des Unterrichts wesentlich dazu beiträgt, Störungen zu vermeiden.
Nico kneift die Augen zusammen und denkt scharf nach.
Unter dem Oberbegriff «momentum» sind die Begriffe «Zügigkeit», «Reibungslosigkeit» und «Schwung» aufgeführt. Es geht um eine gute Planung, die sowohl Hektik als auch Langeweile im Unterricht vermeidet. Das hat schon was!
Mit Unbehagen denkt Nico an die Zeit vor den Herbstferien. Wie oft hatte er seinen Unterricht unterbrochen, um die Klasse zurechtzuweisen.
Dabei sollte doch der Unterrichtsfluss oberste Priorität haben. Störungen gilt es durch withitness – also Allgegenwärtigkeit – vorzubeugen, sagt Kounin. Alle Schülerinnen und Schüler sollen merken, dass ich sie im Blick habe, dass meine Augen und Ohren überall sind.
Demonstrativ steht Nico auf und geht durch die Reihen. Alles ruhig.
Und wenn es dann doch zu Störungen kommt, soll durch das Prinzip des overlapping ganz nebenbei – quasi überlappend – reagiert werden, damit der Unterrichtsfluss möglichst nicht unterbrochen wird. Das ist dann auch mit smoothness – Geschmeidigkeit – gemeint. Ein Unterricht ohne sachlogische Brüche und mit jederzeit aktiven Lernenden.
Die Klasse scheint konzentriert zu arbeiten. Alle Augenpaare sind auf die Arbeitsblätter gerichtet. Nico nimmt eifriges Unterstreichen wahr.
Der group focus – die Gruppenaktivierung – verweist darauf, dass nicht nur jemand, sondern alle beschäftigt sein sollen.
Ein weiteres Stichwort aus Kounins Buch fällt Nico ein.
Vermeiden von vorgetäuschter Teilnahme – avoiding mock participation. Mal schauen, ob nicht jemand nur so tut, als würde er arbeiten. Beschäftigt wirken, die Stirn betont in Falten legen oder zustimmend mit dem Kopf nicken, um Verstehen zu signalisieren … – das können sie alle gut. Jetzt sieht es aber wirklich so aus, als wären sie gut herausgefordert und mit der Aufgabe voll beschäftigt.
Die Hälfte der Lektion ist vorüber, es wird Zeit für den nächsten Auftrag.
Aufpassen! Managing transition – also der Umgang mit Übergängen – ist zentral. Wenn ich jetzt unterbreche, nehme ich der Stunde den Schwung. Endlich arbeiten alle. Die geplante Überleitung zur nächsten Phase – das gemeinsame Korrigieren des Arbeitsblattes – wäre jetzt eventuell ein Bruch. Ich mache das anders.
Da Nico bisher mit der Klasse kein Ritual, also etwa kein akustisches Signal oder eine bestimmte Geste für das Herstellen von Aufmerksamkeit vereinbart hat, schreibt er zunächst einfach mal den nächsten Auftrag an die Wandtafel. Zwei Schülerinnen heben beim Schreibgeräusch kurz den Blick, sonst lässt sich niemand davon ablenken.
Vielleicht sollte ich mir eine Tischglocke anschaffen, wie an einer Rezeption. Das Klingeln hieße, dass eine Arbeitsphase abgeschlossen ist und eine neue beginnt. Ziel wäre, dass alle ruhig nach vorne schauen und ich möglichst zügig für eine Überleitung zu einer Anschlussaktivität sorgen kann.
Nur wenige haben den neuen Auftrag an der Wandtafel gelesen und sich darangemacht, die Theorie über Pronomen im Buch zu studieren.
Mal schauen, ob der Lichttrick funktioniert, den mein Lehrerkollege anwendet.
Nico löscht das Licht, um es gleich wieder anzuknipsen. Als alle verwundert aufblicken, zeigt er wortlos an die Wandtafel. Die meisten nicken. Ohne große Unruhe gehen sie dazu über, den Theorietext zu lesen.
Nun werden einige diesen Leseauftrag aber deutlich vor den anderen abschließen. Und ich habe vergessen zu sagen, wie es weitergeht. Ein Anfängerfehler.
Eine Situation aus seiner Ausbildung kommt Nico in den Sinn. Er unterrichtete damals zum ersten Mal Sport und begann die Lektion mit dem Auftrag, einen Fitnessparcours aufzustellen. Alles war gut durchdacht. Wer mit wem wie wo und sogar warum, war allen klar. Nur «was dann?» nicht – und das führte zum Chaos. Als alles aufgestellt war, kehrte nämlich niemand zum Mittelkreis der Turnhalle zurück. Manche kickten einen Ball quer durch die Halle, andere lümmelten auf der dicken Matte herum, und zwei Jungs sprangen wie Affen – zumindest was die Geräusche anging – durch den Geräteraum.
Nico räuspert sich. «Hört kurz zu, bitte. Wer mit Lesen fertig ist, schreibt seinen Namen an die Tafel. Sobald drei Namen dastehen, ist das eine Gruppe. Die dritte Person, die nach vorne geht, löscht alle Namen, sodass sich wieder drei neue als Gruppe formieren können, und so weiter. Die so gebildeten Gruppen bekommen von mir eine Pronomenart inklusive schriftlichen Auftrags zugewiesen. Alles klar?» Es gibt keine Fragen. Lerntempoduett nennt sich das. Gut, dass mir das eingefallen ist – ein probates Mittel, wenn diejenigen mit gleichem Lerntempo unter sich einen Partner finden oder eben auch eine Gruppe bilden sollen.
Die Gruppenbildung verläuft zügig, und die Klasse arbeitet einigermaßen konzentriert bis zur Pause. Als der Schulhausgong ertönt, reagieren die Schülerinnen und Schüler sofort. Sie legen die Stifte zur Seite, schieben ihre Stühle von den Tischen weg, stehen auf und beginnen, laut miteinander zu sprechen.
Hier ist die Reiz-Reaktions-Kette offenbar gefestigter als am Stundenbeginn. Kein Wunder, wenn eine längere Pause als positiver Verstärker wirkt. Mal schauen, ob der Gong auch nach der Pause eine unmittelbare Wirkung hat.
Überraschenderweise sind alle bereits am Platz, als das Zeichen zur nächsten Stunde ertönt.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.