Kitabı oku: «Schöner fremder Himmel», sayfa 2
3. PLATZ
Fishing Salmons and Stuff Jenifer Becker
Wir stranden in einer Kleinstadt und halten beim Supermarkt. Der Parkplatz ist fast leer, nur ein paar Kleinfamilien rollen ihre Einkaufswagen über die weißen Parkstreifen und weichen routiniert den eingezäunten Grünanlagen aus, um ihre Beute zurück zu den Geländewagen zu schaffen. Der Mediziner sieht etwas mitgenommen aus. Er sagt nichts und steigt aus dem Auto, ich bleibe noch kurz sitzen und beobachte, wie sich einzelne Rentner aus einem rotlackierten Reisebus hieven, der gerade am Ende des Platzes geparkt hat. Der Mediziner dreht sich um und hebt kaum merklich sein Kinn. Ich denke, lass uns ein verdammtes Hotelzimmer mieten und in der Sauna vögeln, so wie im Hundertwasserhotel in Magdeburg, sage aber nichts, weil wir diesen Wildcamping-Scheiß wirklich durchziehen wollen und außerdem ist es unser (vorerst) letzter Urlaub als richtiges Pärchen. Nächsten Monat fliegen wir mit neuen Partnern in südpazifische Urlaubs- oder Outdoorparadiese, darum sollten wir unser Vorhaben auch so umsetzen, wie wir es geplant hatten.
Ich steige aus dem Auto und knalle die Tür zu. Der Mediziner wartet auf mich, sodass wir uns im Gleichschritt in Richtung Schiebetüren und Wurstwarentafeln bewegen.
Der Mediziner wohnt sechs Blocks von meiner Wohnung entfernt. Ich habe ihn vor zwei Jahren in einem heruntergekommenen Club getroffen, mit blitzenden Augen und nach weiblichen Körpern lechzend. Nach den ersten drei Nächten änderte sich dieses brutale Flimmern, es schien weicher und sanfter, funkelnd, leuchtend, und ich wusste, der Mediziner war verliebt, und darum war ich es auch.
Er zeigte mir seine Geburtsstadt und seine Familie, kochte für mich, streichelte meinen Rücken und weinte an meiner Brust, bis wir genug von der absoluten Zweisamkeit hatten und jeden Abend Mangosorbet auf der belebtesten Straße der Stadt löffelten, um uns über die Passanten zu beschweren, sie wegwünschten oder ihre Kleidung und Stufenschnitte ändern wollten, damit die Welt ein besserer Ort wäre, zumindest ein für uns besserer Ort. Wir waren wirklich verliebt.
Bis wir nicht mehr verliebt waren. Er sagt, das ist eben so. Ich sage, lass uns trotzdem fliegen. Warum auch nicht, ein bisschen länger Pärchen spielen tut ja auch nicht weh.
Für die Tickets hat der Mediziner vierzig Euro gezahlt, freie Platzwahl, kein Gepäck. Ich bin mir nicht sicher, welche CO2-Bilanz Ryanair hat, aber dann hätten wir es einfach lassen sollen, wenn uns die CO2-Bilanz wirklich interessiert hätte.
Jetzt stehen wir im norwegischen Supermarkt und überlegen, ob wir uns einen Radiotransmitter kaufen sollen, um unsere iPods anzuschließen, weil wir vergessen haben, CDs zu brennen, stattdessen kaufen wir Café do Brasil für vier Euro (400 ml gezuckerter Eiskaffee aus dem Tetrapack) und eine Flasche Extra-Cola.
Die Kleinstadt ist so ruhig wie die Postkarten, die im Tourishop zusammen mit den Fellmützen an die deutschen Rentner verkauft werden, direkt neben dem Toilettenhäuschen. Als hätte mir jemand eine Plastiktüte über den Kopf gezogen, dabei fühlt sich die Stadt im Rücken auch nicht besser an, zumindest gab es dort Menschen auf zwei Beinen, mit zwei Händen, einem Gesicht, Frisuren und Urlaubswünschen, und jetzt sitze ich wieder alleine mit dem Mediziner im Auto, wo wir uns doch immer das Alleinsein gewünscht haben, zwischen der Kinowerbung und dem Thairestaurant.
Wir fahren durch enggesäumte Wälder und sprechen über die Ölkrise, bis wir auf einen Straßenausläufer treffen, an dem wir parken können.
Vielleicht hatten wir das Mai-Wetter etwas unterschätzt – es ist saukalt, aber ich lasse mir nichts anmerken, wahrscheinlich, um dem Mediziner noch irgendetwas zu beweisen, auch wenn ich ihn genauso wenig behalten möchte wie er mich. Ich ziehe alle Kleidungsstücke an, die ich mitgebracht habe. Der Mediziner schlüpft in seinen dunkelblauen Wollpullover, den er sich zu Weihnachten selbst geschenkt hat.
Um einen passenden Platz für unser Nachtlager zu finden, stapfen wir eine Stunde lang durch das Unterholz, die Äste knacken, der Wald scheint ruhig. Wir bewegen uns wie Wesen mit gepolsterten Rucksäcken, die sich vorsichtig aus der Zivilisation verabschiedet haben, um das Glück und die Unabhängigkeit zu finden, im Gepäck eine Flasche Cola und digitale Musikgeräte mit 72 Stunden Akkulaufzeit. Ich verfluche Filme wie Into The Wild, die uns dieses romantische Naturbild in den Kopf gepflanzt haben, während wir das Ultra-Light-Zelt direkt an einem Flusslauf aufbauen. Ein unangenehmes Gefühl der Haltlosigkeit macht sich bemerkbar. (Wo sind die Menschen? Reklametafeln? Bläulich schimmernde Fenster? Motorengeheul? Pagenschnitte?) Auch wenn wir mit niemandem sprechen wollen, wenn wir abends die Wohnung verlassen, fühlt es sich doch behaglich an, zwischen den Fremden, die wir dann stets verfluchen und kaltblütig erschießen wollen (auch die Schwangeren, oder vor allem die Schwangeren), und jetzt sind wir völlig allein, in der skandinavischen Ödnis, völlig frei und unabhängig, nicht mal mehr an den anderen gebunden, unabhängige Körper mit Verdauungssystemen, emotional getrennt, in der absoluten Freiheit, am Flusslauf, zwischen kargen Bäumen, Mücken, Moos und Flechten, in der Jack Wolfskin-Werbung.
Wir kriechen ins Zelt und es wird kälter, doch die Sonne scheint niemals unterzugehen. Ich wünsche mir mein Bett oder zumindest eine Heizung. Wenn ich mich nach rechts drehe, berührt meine Wange die durchnässte Zeltwand, meine Zehen werden taub. Ich frage mich, ob uns das doch wieder zusammenschweißt und wir den neuen Partnern doch sagen, wir hätten uns geirrt und es war alles nur eine noch größere Illusion als die Illusion von mir und dem Mediziner, bis ich schließlich einschlafe und von blaugestreiften Löwen träume, die mir aufs Gesicht spucken, aber es ist nur das Kondenswasser, das von der Zeltdecke tropft. Neben mir liegt der Mediziner, eingemummelt in blauen Synthetikstoff, mit genauso blauen Lippen. Er sieht so friedlich aus, fast als wäre er tot. Zärtlichkeit überfällt mich und ich möchte seine Lippen berühren, stattdessen schäle ich mich aus dem Plastikbunker und suche einen Ort an dem ich pinkeln kann, was überall möglich ist, weil hier niemand, wirklich niemand ist, wir sind völlig allein in der Natur, der Fluss plätschert sanft, ganz ohne Stadtflussgehabe, Schleusen und Strandbäder. Mir fällt auf, dass das Zelt eingefroren ist.
Lass uns zum Auto zurückgehen, schlage ich vor und strecke meinen Kopf durch den Reißverschluss. Der Mediziner sagt, er möchte eigentlich lieber weiterschlafen, dabei bewegt er sich kaum. Vermutlich befindet er sich in der zweiten Unterkühlungsphase, von ihm geht dieses bläuliche Schimmern aus, darum treibe ich ihn gewaltsam aus dem Zelt, packe alle Sachen zusammen und muss ihm gut zureden, damit wir den Weg zurück zum Audi schaffen. Das Unterholz fühlt sich an wie Schnee, in den wir einsacken und uns wieder befreien müssen. Mir schießt die Dokumentation über südamerikanische Männer in den Kopf, die um ein kaputtes Flugzeug im Schnee sitzen und winzige, gefrorene Fleischfetzen mit scharfen Gegenständen von leblosen Körpern schnitzen, um nicht zu verhungern.
Ich lasse mich auf die Fahrerseite fallen und schalte die Sitzheizung an. Der Mediziner sitzt lethargisch neben mir und greift nach meiner Hand. Langsam wird es warm, der Morgen fließt so ruhig dahin wie dieses ganze verdammte Land mit seinen rothaarigen Wikingern und Postkarten. Wir bleiben einfach sitzen und betrachten die wippenden Baumkronen, gleißendes Sonnenlicht fällt auf die Motorhaube. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie wir wirklich ein Pärchen geworden sind und warum wir uns wirklich verliebt haben. Es war wohl einer dieser schleichenden Prozesse, die sich aus regelmäßigem Geschlechtsverkehr entwickeln. Jetzt sitzen wir im tiefsten Norwegen und lassen uns den Arsch wärmen.
Den restlichen Tag verbringen wir an einem Strand. Neben dem Mediziner liegt Jack London, er hat sich in den Schneidersitz gesetzt und blickt aufs Meer, lässt seine Glieder von der Sonne bestrahlen, bis die letzte Nacht einfach weggebrannt ist. Ich sitze im T-Shirt vor ihm und zupfe Gras, während er über Alaska spricht. Sein Flug geht in vier Wochen. Der Mediziner fliegt ohne mich, um diesen Selbstfindungstrip durchzumachen, durch die echte Wildnis zu rennen und mit seiner Hand über unberührte Moose zu streichen. Vielleicht haben wir uns deswegen getrennt, weil der Mediziner in Alaska wirklich alleine sein will, so wie ich wirklich alleine in der Stadt das biologische Sorbet löffeln will. (Wobei ich ja eigentlich mit dem Grafiker zusammen allein sein will.)
Der Strand füllt sich mit norwegischen Paaren in den mittleren Jahren, die ihre eigenen Campingstühle mitbringen, lesen und schweigen. Ich lasse meinen Blick über das Meer schweifen, die Wellen sind ganz ruhig und schwappen monoton auf den Sand, so monoton wie die elektronische Loungemusik, die am Samstag in der Kneipe lief, in der ich dem Grafiker zwei Aperol Spritz spendiert habe. Der Mediziner war offiziell alleine oder mit der Medienmanagerin unterwegs. Der Grafiker stand ganz bedächtig neben mir und hat an seinem rotgefärbten Getränk gesaugt und über seine neue Stelle als Art Director gesprochen. Das scheint mir besser zusammenzugehen: Die Kulturschaffende und der Grafiker ist irgendwie seichter, runder und angenehmer, als die Kulturschaffende und der Mediziner, mehr wie ein Städteurlaub und nicht wie ein Outdoortrip. Dass ich mich noch mit dem Mediziner treffen werde, um Sorbet zu essen, steht außer Frage, dafür verstehen wir uns zu gut, aber eben auf eine andere Art und Weise, ohne das Fickgefühl und mit geschwisterlicher Vertrautheit.
Und beim Anblick von drei Schwänen, die über die Wellen reiten und sich stetig nähern, wird plötzlich alles so elementar in dieser Einsamkeit, ein Gefühl von purer Isolation oder gnadenloser Abgrenzung, wie ein Gefängnis, so grau wie Elefantenhaut, nichts mehr von dem glühenden Orange des Mangosorbets, das so weit weg scheint. Ich denke, dass ich wahnsinnig werde hier am Meer und die Schwäne töte oder den Mediziner. Warum auch nicht, ich könnte zurückfliegen bis sie mich finden, wenn ich mein Eis auf der Hauptstraße löffle und die geschäftigen Tiere an mir vorbeihuschen, auf ihrem Pilgerzug zum Supermarkt, ob mit oder ohne Mediziner spielt auch keine Rolle mehr, seit die Liebe vorbeigezogen ist wie ein grauer Vogelschwarm oder schon immer einer gewesen ist.
Ich betrachte den Mediziner, der auf der Isomatte liegt und liest, ganz ruhig und bedächtig, als wäre er ein atmender Stein, ein totes Wesen mit Augen und einem Puls, ohne jegliche Spur von Leidenschaft oder Zerbrechlichkeit. Ein bisschen ausgesaugt, und dann dieses Gefühl, dass es schon immer belanglos war, noch nie anders, und dieses kurze Aufflammen von Ratlosigkeit und Verlorenheit, nur eine Reflektion der Wildnis, in der es kein Mangosorbet gibt und die Ameisen in Kaufhausmode fehlen, vor allem der Grafiker, der Pixel über den Bildschirm schubst und dem das Verliebtsein noch nicht ausgesaugt wurde.
Die Nacht bleibt hell. Wir schlafen im Auto und fahren direkt zum Flughafen, auf einer Straße, die dahin fließt wie der Amazonas, in dem sich Piranhas an ihre bunten Koffer klammern und nach öffentlichen Toiletten Ausschau halten.
Rolf Polander
Albert
Lieber Herr Skepinski, ich sage es am besten gleich: Natürlich hatte ich an dem Abend, von dem ich Ihnen jetzt erzählen werde, etwas getrunken. Ich bin in einem Restaurant zum Abendessen gewesen und – na, Sie kennen mich – ich werde doch nicht irgendwo zu Abend essen, ohne ein Glas zum Essen zu trinken. Es kann auch durchaus sein, dass ich, wie ich es hin und wieder tue, nach dem Essen noch ein bisschen sitzen geblieben bin und noch zwei oder drei Glas über das Essen hinaus getrunken habe, das alles will ich gar nicht abstreiten. Aber, Herr Skepinski, ich sage Ihnen, dass ich ganz bestimmt nicht betrunken war, als ich dann nach Hause ging, dass also das, was ich auf dem Nachhauseweg erlebt, oder besser gesehen habe, mir nicht von einem alkoholisierten Gehirn vorgespiegelt wurde, sondern dass ich es tatsächlich gesehen habe, gerade so wie ich Sie jetzt vor mir sehe.
Ich ging also langsam durch die nächtliche Stadt nach Hause, und zwar durch diese Straße – Sie werden sie kennen –, in der ein Antiquitätengeschäft neben dem anderen liegt. Im Vorbeigehen schaute ich immer mal wieder in die Schaufenster hinein, aus denen – von der Nachtbeleuchtung erhellt – das matte Furnier alter Möbel glänzte, in auf schwarzem Samt ausgelegtem Granat- und Straßschmuck Lichter aufblitzten und die blassen Gesichter von Gips- und Marmorbüsten mich ernst ansahen.
Plötzlich nahm ich in einem der Fenster eine Bewegung wahr – und da sah ich ihn: einen Stuhl aus dunklem, rötlich schimmerndem Holz, der langsam auf den hinteren Beinen hin und her wippte, während er die vorderen, als ob sie mit Gelenken versehen wären, übereinandergeschlagen hatte. Ich war einigermaßen perplex, denn wer hat schon jemals einen Stuhl gesehen, der ein Beinpaar übereinander schlägt und, ohne dass jemand auf ihm sitzt, auf dem anderen hin und her wippt. Die Lehne mit ihren Verstrebungen erinnerte dabei entfernt an ein Gesicht, das einen entspannten und zufriedenen Ausdruck zeigt.
Unwillkürlich trat ich näher an das Schaufenster heran, aber da hörte der Stuhl zu wippen auf, richtete seine beiden vorderen Beine wieder gerade, setzte sie auf den Boden und rührte sich nicht mehr. Seine Lehne schien jetzt blasiert und unbeteiligt aus dem Fenster zu sehen. Ich blieb noch eine Weile mit gesenkten Lidern und ohne mich zu bewegen stehen, wobei ich den Stuhl genau beobachtete, ohne ihn direkt anzusehen. Aber die Lehne veränderte ihren Ausdruck nicht, und Anzeichen einer Bewegung waren auch nicht mehr zu erkennen, so dass ich irgendwann meinen Heimweg fortsetzte, während mir der Stuhl und das, was ich gerade gesehen hatte, nicht aus dem Kopf gehen wollte.
Auch in den nächsten Tagen musste ich zwischendurch immer wieder an diesen Stuhl und sein ungewöhnliches Verhalten denken, und als ich wieder einmal in der Nähe war, bog ich in die Straße ein, in der das Antiquitätengeschäft liegt, in dem ich ihn gesehen hatte, sah, dass er noch immer auf demselben Platz im Schaufenster stand, und ging in den Laden.
Ich sagte dem Verkäufer zuerst, ich wolle mich nur etwas umsehen, schlenderte durch die Gänge, schaute mir einen Kirschbaumsekretär näher an, blieb bei einer silbernen Teekanne einen Augenblick stehen und näherte mich auf diese Weise langsam dem Stuhl. Weil ich nicht direkt nach dem Preis fragen wollte, sagte ich wie beiläufig: „Und was ist das hier für ein Stuhl?“ Der Verkäufer schien nur auf meine Frage gewartet zu haben und erzählte mir, der Stuhl sei ein englisches Möbel aus den 1870er Jahren, ein „Smee & Sons“ und wahrscheinlich von E. W. Godwin entworfen, was mir beides gar nichts sagte. Der Mann erging sich in weiteren Einzelheiten, die ich vergessen habe, und tat das, wie mir schien, um den Preis zu rechtfertigen, den er mir anschließend nannte. Ich fand diesen Preis sehr hoch und wollte Einwände erheben, aber ich sah den Stuhl an, und es schien mir, als ob auch er mich anblickte. Da war es mir peinlich, in seiner Gegenwart um ihn zu feilschen; ich akzeptierte den Preis und machte den Handel perfekt.
Als der Stuhl dann am darauffolgenden Tag gebracht wurde, stellte ich ihn in mein Bücherzimmer, setzte mich in den bequemen Ledersessel, der meiner Neuerwerbung nun gegenüber stand, und betrachtete ihn. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, ihm einen Namen zu geben, und fand, dass Albert ein passender Name für ihn wäre – und zwar mit englischer Aussprache, also „Ålbört“, weil er ein englisches Möbel ist. Ich sagte an diesem Abend also zu ihm: „Na, Albert, hier bist du nun zu Hause“, und vertiefte mich dann in meine Zeitung, denn ich wollte nicht zu aufdringlich sein.
Natürlich warte ich seitdem gespannt darauf, dass Albert irgendwann wieder die Beine übereinander schlägt, so wie ich es in dem Schaufenster gesehen habe, aber ich bin mir darüber im Klaren, dass er sich erst einmal an seine neue Umgebung gewöhnen muss. Ich will ihn nicht drängen und denke, wenn er sich richtig eingelebt hat und bei mir heimisch geworden ist, wird das schon von selbst kommen.
Und so begrüße ich Albert jeden Abend, wenn ich ins Zimmer komme mit ein paar freundlichen Worten, nicke ihm zu, setze mich ihm gegenüber in den Sessel, lese – genauso wie ich es auch sonst getan habe – in der Zeitung oder in einem Buch, trinke ein Glas Wein dabei und sehe hin und wieder zu Albert hinüber. Und – ob Sie es glauben oder nicht – obwohl ich eigentlich das Gleiche tue, was ich all die Abende zuvor auch ohne Albert getan habe, kommen mir die Abende jetzt gemütlicher vor als früher. Ich habe das Gefühl, dass Albert eine große Gelassenheit ausstrahlt, und das muss sich irgendwie auf mich übertragen, denn ich fühle mich in seiner Gesellschaft entspannt und ausgesprochen wohl.
Entschuldigen Sie, Herr Skepinski, aber ich rede die ganze Zeit über Albert, und Sie haben ihn noch gar nicht kennengelernt. Kommen Sie doch einfach mal mit, ich werde Ihnen Albert vorstellen. Warten Sie, hier entlang! Das hier ist meine „Bücherhöhle“, und das ist Albert. – Albert, das ist Herr Skepinski, ein guter Bekannter von mir.
Was sagen Sie? Ganz nett, aber nichts Besonderes? Ich bitte Sie, immerhin ist er von E. W. Godwin entworfen, einem nicht ganz unbedeutenden Möbeldesigner seiner Zeit, ich habe mich da inzwischen kundig gemacht. Albert ist ganz ohne Zweifel ein ausgesprochen schönes Exemplar der Gattung Stuhl. Obwohl es darauf ja eigentlich gar nicht ankommt, denn er hat andere, viel tiefer liegende Qualitäten, wie ich Ihnen ja vorhin … Nein, bitte um Gottes Willen nicht hinsetzen! Ich kann mir nicht vorstellen, dass Albert das gerne hätte. Ich selbst habe mich noch nie auf ihn gesetzt, das würde ich mir nicht verzeihen, dazu achte ich ihn als Persönlichkeit viel zu hoch. – Da brauchen Sie gar nicht so zu grinsen! Ich habe Ihnen Alberts Geschichte doch erzählt. Albert ist etwas Besonderes, kein normaler Stuhl. Ich versuche seit Wochen, sein Vertrauen zu gewinnen, und Sie sind derart unsensibel. Also wirklich! Kommen Sie, wir gehen wieder ins andere Zimmer, und … Ja, entschuldigen Sie, dass ich gerade etwas heftig geworden bin. Aber auch wenn Sie alles, was ich Ihnen vorhin erzählt habe, für Mumpitz halten, so ist die Geschichte doch wahr und hat für mich eine große Bedeutung. Wenn Sie keinen Sinn dafür haben, lassen Sie uns also lieber von etwas anderem reden. – Sie müssen ohnehin jetzt weg, sagen Sie? Aber bitte nicht deswegen! – Wirklich nicht? Na gut, dann auf Wiedersehen, Herr Skepinski, wir telefonieren miteinander!
So Albert, der ist weg. Na, was sagst Du dazu? Wollte sich einfach auf Dich setzen, der Kerl! Was er sich wohl dabei gedacht hat? Da erzähle ich ihm die ganze Geschichte, und er …! Am Ende hätte ich gar nicht darüber sprechen sollen, was meinst Du? Hast Du sein debiles Grinsen gesehen? Sollte wohl überlegen wirken. Ich hätte wirklich gedacht, dass er ein bisschen mehr begreifen kann, als dass eins und eins zwei ist. Wie man sich doch in einem Menschen täuschen kann. Weißt du, Albert, ich kann mich jetzt richtig ärgern, dass ich ihm diese Sache erzählt habe. Eigentlich geht sie doch nur uns beide an. – Ach was! Ich schenke mir jetzt noch einen Wein ein und dann denken wir zwei an etwas anderes, nicht wahr?
Nach einer Weile ist mein Glas halb leer. Ich bemerke, dass sich in Alberts Richtung etwas bewegt und schaue von meinem Buch auf. Ganz allmählich streckt er seine vorderen Beine aus und schlägt sie übereinander. Dann beginnt er langsam und regelmäßig auf den beiden hinteren hin und her zu wippen.
Ich sehe ihm zu, und für einen kurzen Moment steht mir das Herz still vor Freude und Glück. Dann nehme ich noch einen Schluck Wein und sage zu Albert: Du hast ja recht, wir lassen uns den Abend nicht verderben, von allen Skepinskis der Welt nicht!
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