Kitabı oku: «Treue»
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Die italienische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Fedeltà bei Einaudi in Turin.
Die Übersetzung dieses Buches ist dank einer Förderung des italienischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und Internationale Kooperation entstanden.
Questo libro è stato tradotto grazie ad un contributo del Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.
E-Book-Ausgabe 2021
© 2019 Giulio Einaudi editore s. p. a., Torino. This edition published in agreement with the Proprietor through MalaTesta Literary Agency, Milan.
© 2021 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung: Julie August unter Verwendung einer Fotografie © Zissou / Gallery Stock.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
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ISBN: 978-3-8031-4305-1
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978-3-8031-3330-4
Alle Bezüge zu realen Ereignissen und Personen sind rein zufällig.
Leichte Veränderungen der geografischen und historischen Gegebenheiten beruhen auf erzählerischen Erfordernissen.
Wieder für Maddalena
Für Silvia Missiroli
Daran merken wir,
dass wir am Leben sind:
wir irren uns.
Philip Roth
»Deine Frau ist mir gefolgt.«
»Meine Frau.«
»Bis hierher.« Sofia sah ihn an: »Professore?«
Er warf einen Blick auf die Tür des Seminarraums.
»Sie ist im Hof, glaube ich.«
Carlo Pentecoste trat ans Fenster und erkannte Margheritas amarantroten Mantel, den sie seit dem zweiten warmen Frühlingstag trug. Sie saß auf einem Mäuerchen und las in einem Buch, immer noch Némirovksy, mit übereinandergeschlagenen Beinen, die freie Hand wachte über den Rucksack. Es war Ende März, und durch Mailand zog ein unerwarteter Nebel.
Carlo drehte sich wieder zu seinen Studenten um. Sofia hatte sich in die zweite Reihe gesetzt, ihren Block und die Mandeln ausgepackt. Sie wirkte jünger als zweiundzwanzig, mit ihrem zierlichen Gesicht und den grazilen Bewegungen, weswegen ihre Hüften umso mehr verwunderten. Sie sah ihn mit der gleichen Besorgnis an wie zwei Monate zuvor, als beide beim Rektor einbestellt waren, weil eine Studentin aus dem ersten Semester sie in der Toilette im Erdgeschoss überrascht hatte: er über ihr, seine Hände zärtlich an ihrem Hals oder so ähnlich, die Studentin hatte erst die eine Version erzählt, dann eine andere, dann unzählige, die am Ende alle das Gerücht erhärteten, dass es zwischen Professor Pentecoste und einer seiner Studentinnen zu einer uneindeutigen Annäherung gekommen war.
Statt mit dem Seminar zu beginnen, warf er sich die Jacke über und verließ den Raum, lief die Treppe hinunter, wurde in der Halle langsamer und sah zu den Toiletten hinüber. Damals war er mit einem Kollegen an den Ort des Geschehens zurückgekehrt, um die Sache zu klären, und später noch einmal mit dem Rektor. Für beide hatte er eine Re-Inszenierung dessen aufgeführt, was er »das Missverständnis« nannte: wie er die Herrentoilette betrat, pinkelte, in den gemeinsamen Vorraum ging, sich Hände und Gesicht wusch und abtrocknete, wie er dann einen dumpfen Laut aus der Damentoilette hörte, merkte, dass eine Tür nur angelehnt war und dahinter halb ohnmächtig – was genau meinte er mit »halb«? – seine Studentin Sofia Casadei fand. Wie er sich über sie beugte, sie mehrmals mit Namen ansprach, ihr half, sich aufzurichten und aufzustehen – dem Rektor hatte er vorgemacht, wie –, bis sie von ihm gestützt etwas wackelig in der Kabinenecke lehnte. Das Ganze hatte kaum ein paar Minuten gedauert, dann hatte sich die junge Frau erholt und sich – von ihm begleitet – das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen: Die andere Studentin war ihm gar nicht aufgefallen.
Er blieb kurz stehen und sah auf sein Telefon: Margherita hatte sich nicht angekündigt. Dann trat er in den Hof hinaus, wo seine Frau auf dem Mäuerchen saß und las.
»Dein Mantel ist einfach unverkennbar«, sagte er und wies auf das Fenster des Seminarraums.
»Ich lasse die Sehne ein bisschen ausruhen. Ich wollte gleich hochkommen.« Sie klappte das Buch zu und stand auf. »Das hast du vergessen«, sie reichte ihm ein Sprühfläschchen.
»Du bist wegen eines Asthmasprays hier.«
»Dein Anfall letzte Woche hat mir gereicht.«
»Du sollst doch das Bein schonen.«
»Ich bin mit der U-Bahn gekommen.« Sie richtete ihm den Mantelkragen. »Ich an deiner Stelle würde das Seminar heute draußen abhalten, der Nebel hat seinen ganz eigenen Reiz.«
»Das würde sie nur ablenken.« Er legte ihr die Hand auf den Rücken wie an dem Abend, als sie sich bei einer Essenseinladung seiner Schwester kennengelernt hatten. Die Mulde in Höhe der Lendenwirbel hatte ihn schon damals den trainierten Körper erahnen lassen. »Kommst du mit hoch? Ich muss anfangen.«
Margherita liebte seine Hände, die nicht die eines Lehrers waren. Sie ließ sich mit dem Rucksack helfen und begleitete ihn zum Eingang.
»Du bist wirklich nur gekommen, um.«
»Ich bin gekommen, weil ich gekommen bin.« Sie deutete auf die Uhr, er musste sich beeilen, mit einem Lächeln wandte er sich ab.
Als er über die Treppe verschwunden war, ließ Margherita sich an die Glastür sinken und sah zu Boden. Warum hatte sie nicht den Mut gehabt, mit ihm in den Kurs zu gehen? Warum hatte sie nicht den Schneid, wie ihre Mutter immer sagte, über die Schwelle der Uni zu treten und genau die Toilette anzusteuern? Und warum zitterte sie jetzt? Langsam entfernte sie sich, sie wollte stehenbleiben, zwang sich aber zum Weitergehen, durchquerte das Tor und knöpfte auf der Straße den Mantel zu. Sie verharrte und schloss die Augen, suchte innerlich nach Halt gegen die aufsteigende Traurigkeit: Sie dachte an die kommenden fünfzig Minuten, die aus ihr eine andere machen würden. Eine andere, verführbare Margherita. Der Eintrag in ihrem Terminkalender lautete Physiotherapie, und das hieß auch Abenteuer. Sie spürte das und wappnete sich mit diesem Gefühl gegen die Unsicherheit, während sie das Universitätsgebäude hinter sich ließ und zum Taxistand ging. Ihr Bein schmerzte schon seit dem Morgen. Der Schmerz ging vom Schambein aus und strahlte bis ins Knie, zum ersten Mal war er drei Monate zuvor nach einer Übung auf dem Laufband im Fitnessstudio aufgetreten. Seitdem kreisten ihre Gedanken immer wieder um Kleinigkeiten, die sie traurig machten: die hohen Schuhe, die sie durch Sneaker ersetzt hatte, der Verzicht auf Wohnungsbesichtigungen in Gebäuden ohne Aufzug oder die Unfähigkeit, einem Kind hinterherlaufen zu können.
Sie zog das Telefon hervor und sah eine Nachricht der Eigentümerin der Wohnung am Corso Concordia: Liebe Margherita, ich habe unterschrieben. Jetzt sind Sie dran, und eine zweite von ihrem Mitarbeiter: Die Wohnungsschlüssel lagen in der Agentur bereit, um die Immobilie zum Verkauf anzubieten. Außerdem ein entgangener Anruf von ihrer Mutter. Sie ignorierte ihn und hielt das Telefon in der Hand, widerstand dem Impuls, auf Facebook zu gehen. Immer wenn sie sich Sofia Casadeis Profil ansah, kam sie auf komische Ideen, das Café, wo sie jobbte, die Bar, in der sie morgens frühstückte, ihr Wohnviertel, überlegte, sich irgendwie ihrem Umfeld anzunähern. Sie erreichte den Taxistand, nannte die Adresse des FisioLab, Via Cappuccini 6, ließ sich in den Sitz sinken und schloss die Augen. Der Taxifahrer fragte, ob er einen Umweg fahren solle wegen der Bauarbeiten auf dem inneren Ring, sie willigte ein und dachte an nichts mehr. Vor dem Fenster trieb Mailand vorbei, das Hin und Her der Passanten auf den Bürgersteigen und die Portiers vor den herrschaftlichen Häusern. Ihre Mutter fiel ihr wieder ein, und sie wählte die Nummer. Beim ersten Klingeln wurde abgehoben: »Mama.«
»Ich wollte gerade den Klempner anrufen.«
»Was ist denn passiert?«
»Das«, sie holte tief Luft, »die Scheißtherme.«
»Na, jetzt aber!«
»Ich habe immer gerne so geredet, nur dein Vater war der Ansicht, dass der Mund einer Frau schön rein bleiben muss.« Sie verstummte. »Jedenfalls wollte ich dich fragen, wie es mit der Wohnung am Corso Concordia steht.«
»Sie haben mir im Moment zugesagt.«
»Und wie gefällt sie dir?«
»Sie hat keinen Aufzug, ist aber trotzdem interessant. Ich werde Carlo vorbeischicken, bevor ich sie in der Agentur anbiete.«
»Und dein Bein?«
»Was würdest du tun, wenn du einen Verdacht hast?«
»Du hast Schmerzen, ich wusste es.«
»Was würdest du tun?«
»Verdacht welcher Art?«
»Einen Verdacht eben.«
»Ein Verdacht ist ein Beweis.«
»Mama, das ist keine Gerichtsshow hier.«
»So ist das Leben, mein Schatz.« Sie zögerte: »Willst du mir nicht sagen, worauf du hinauswillst?«
»Ich bin da, ich muss Schluss machen.«
»Meine liebe Tochter«, sie räusperte sich, »bei deinem Termin morgen kannst du dir Klarheit über jedweden Verdacht verschaffen.«
»Oh Gott!«
Die Mutter seufzte. »Du willst seit Monaten dahin, und es war eine Heidenarbeit für mich, den Termin zu bekommen: halb elf, Via Vigevano 18, Klingel F.«
»Sag mir bitte noch mal, warum genau ich zugestimmt habe.«
»Weil Dino Buzzati immer dorthin gegangen ist. Schreib es dir auf die Hand.«
»Und du denk an den Geburtstag meiner Schwiegermutter.«
»Ich geh da nicht hin.«
»Und ob du das tust.«
»Sicher nicht. Schau du lieber hin und wieder bei deiner Mutter vorbei, aber natürlich nur, wenn du Lust hast.«
Nachdem Margheritas Mutter ihren Mann beerdigt hatte, war sie drei Tage und Nächte lang wachgeblieben und nicht einen Moment von dem Sessel aufgestanden, in dem er sonntagmorgens immer die Zeitung gelesen hatte. Schließlich hatte sie gesagt: Für wen soll ich denn jetzt kochen?, und wollte eine Weile nicht mehr über den Mann reden, der sie an Alltagsrituale, Flohmärkte und Tex-Willer-Comics gewöhnt und ihnen beigebracht hatte, wie man Haltung bewahrte. Er war ein schweigsamer Mann gewesen, und um den Schmerz des Abschieds nicht so zu spüren, hatten sie und ihre Mutter ein Hintergrundrauschen installiert. Sie telefonierten, zankten, echauffierten sich.
Vor dem FisioLab zahlte sie und stieg aus. Ihr war ganz warm, aus Vorfreude, wie sie wusste. Sie schaute in ihrem Rucksack nach, ob sie Badeanzug, Duschgel, Handtuch und Kamm dabeihatte. Dann meldete sie sich beim Empfangstresen, ging in die Umkleidekabine, zog unter die Shorts den Badeanzug – den sie sich extra gekauft hatte, nachdem sie begriffen hatte, um welche Art von Therapie es sich handelte –, band die Haare zusammen, ergriff Telefon und Kopfhörer und verließ die Umkleide mit der Befürchtung, die Kosmetikerin könnte nicht sauber gearbeitet haben. Sie nahm die Wasserflasche, die das Sportcenter allen Kunden schenkte, und betrat den Behandlungsraum. Andrea war auch an diesem Tag pünktlich. Er gab ihr die Hand und erkundigte sich, ob das Bein schmerze, sie erwiderte wie stets »Das wechselt«, zufrieden hörte sie, wie die Verbindungstür mit einem trockenen Klacken ins Schloss fiel, und gewöhnte sich wieder an die Aussicht, den engen Raum mit diesem ernsten Sechsundzwanzigjährigen zu teilen, der versuchte, ihre fast schon chronische Entzündung zu lindern. Er forderte sie auf, sich auf der Liege auszustrecken, sie tastete mit fragendem Blick nach dem Bund ihrer Shorts und zog sie aus, als er nickte. Der junge Mann nahm das Elektrotherapiegerät und hielt es an die Innenseite ihres Oberschenkels, wanderte bis zur Leiste, verweilte mit sanftem Druck auf dem Schambein. Margherita konzentrierte sich auf einen bestimmten Punkt im Raum und versuchte, ruhig zu atmen. Das Aufwärmen – wie er es nannte – dauerte zehn Minuten, die sie brauchte, um ihre Verlegenheit zu überwinden. Dann entspannte sie sich. Andreas Entschlossenheit überzeugte sie, seine sicheren Handgriffe, sein gesenkter Blick. Auch sie sah woanders hin, bis er schließlich – wie jetzt – das Gerät weglegte und den Badeanzug behutsam ein Stück beiseiteschob: In diesem Moment glaubte Margherita bei ihm jenseits der Pflichterfüllung einen Anflug von Erregung zu erkennen. Sie spürte dem Druck seiner Finger nach, ob sie nicht doch ein klein wenig Unsicherheit verrieten, während sie auf der Suche nach der Sehne das Schambein abtasteten. Er setzte den Daumen, den Mittelfinger und manchmal auch den Zeigefinger ein, bohrte in ihr Fleisch, als grabe er nach etwas. In der ersten Sitzung hatte er ihr den Ablauf der Behandlung erklärt: die entzündungshemmende Wirkung der Geräte, die abschwellende Wirkung der Massage, die Übungen, die sie anschließend im Fitnessraum machen sollte. Fünfundzwanzig Sitzungen plus Nachuntersuchungen und Ultraschall zu einem Gesamtbetrag von zweitausendachthundertzwanzig Euro. Das konnte sie sich nicht leisten, zumindest nicht komplett, deshalb hatte sie zunächst beim Gesundheitsdienst nachgefragt, um sich dann nach endlosen Wartezeiten entnervt für den einfachen Weg zu entscheiden, wie ihr Vater gesagt hätte. Es war einfach, aus eigener Tasche knapp dreitausend Euro für einen Physiotherapeuten zu bezahlen, es war einfach, sich nach der Schule ein Interrail-Ticket schenken zu lassen, obwohl man nicht zu den Jahrgangsbesten gehörte, es war einfach, sich mit einem Job als Immobilienmaklerin zu begnügen, obwohl man das Zeug zur Architektin hatte. Und wahrscheinlich war es auch einfach, eine Massagetherapie mit Unzucht zu verwechseln.
Und während sie sich nun von ihrem Physiotherapeuten mit angemessener Intensität in einem Grenzgebiet berühren ließ und darauf wartete, ihm zu sagen, an welcher Stelle der Schmerz genau saß, kehrte Margherita innerlich zurück: zu ihrem Mann, der Tür zu den Toilettenräumen, Gebäude 5 der Universität, Erdgeschoss, die Damentoilette. Dies war die genaue Stelle, wo seit zwei Monaten der Schmerz saß. Sie schob den Gedanken beiseite, wie immer in den letzten Wochen, und versuchte die Dinge umzukehren: War sie eine aufmerksame und hilfsbereite Tochter? Sie konnte auch anders. War sie eine Immobilienmaklerin, die ihre Zeit zwischen zwei Besichtigungsterminen nicht für andere Dinge nutzte? Sie konnte sie auch anders nutzen. War sie eine Patientin, die sich niemals von drei geschickten Fingern verführen lassen würde? Auch das konnte sie, wenn sie wollte. Immer wenn sie an die Tür zu den Toilettenräumen denken musste, konnte sie aus ihrer Haut schlüpfen und sich vom Verdacht ablenken.
Andrea fragte, ob der Schmerz genau an der Stelle sitze, die er gerade massierte. Sie hätte nur »Weiter rechts« sagen müssen, um ihren Phantasien nachzugeben. Andrea hätte weiter rechts massiert, und sie hätte nichts weiter getan, als es zu genießen, Himmel noch mal.
Stattdessen sagte sie: »Weiter links.«
Er rutschte mit den Fingern an eine andere Stelle. »Nimmt der Schmerz abends zu?«
»Je nach Tagesform.«
»Machst du deine Übungen?«
»Je nach Tagesform.« Sie rückte ihren Körper auf der Liege zurecht. »Eigentlich bin ich eine sehr pflichtbewusste Frau.«
»Das sagen alle.«
»Alle?«
»Und dann kneifen sie.«
»Inwiefern?«
»Sie stellen sich nicht wirklich dem Problem.« Er drückte ganz leicht: »An der Stelle ist sie etwas verdickt, spürst du das?«
Sie schwieg. Sie war also alle Frauen, die hier ein und aus gingen, mit neuer Unterwäsche, mit Perlenohrringen, mit einer Wohnung in der Innenstadt und einem Ehemann von zweifelhaften Verhaltensweisen, mit ihrer Fügsamkeit.
»Man merkt, dass du deine Arbeit liebst, Andrea.«
Der Druck seiner Finger ließ etwas nach.
»Ich meine, du bist gut. Hörst du das manchmal, dass du gut bist?«
»Ist schon vorgekommen.« Er ließ von ihr ab und ging um die Liege herum, setzte am unteren Teil des Beines neu an und massierte langsam nach oben.
Margherita spürte, wie er sich allmählich ihrer Leiste näherte, die Sehne Zentimeter für Zentimeter traktierte. Sie gab sich kurz der Überlegung hin, wie er wohl im Bett war. Vielleicht grob, wahrscheinlich unerfahren. Einen Moment lang kamen ihr die zwei leerstehenden Wohnungen in den Sinn, in die sie mit ihm gehen konnte: Viale Sabotino 3, die Immobilie, die sie nicht loswurde wegen der unverhältnismäßig hohen Betriebskosten, und Via Bazzini 18, die Dreizimmerwohnung mit dem kleinen Jacuzzi.
»Weiter rechts«, hörte sie sich plötzlich zu ihrem eigenen Erstaunen murmeln.
Er hielt inne: »Weiter rechts?«
»Ein bisschen.«
Er wusste, dass weiter rechts nicht stimmen konnte. Die schmerzende Stelle an der Sehne lag genau unter seinen Fingern, und er bearbeitete sie schon, so gut es ging. Weiter rechts bedeutete Gefahr, schon bei der kleinsten Bewegung: Es genügte, den kleinen Finger sinken zu lassen, um die Wärme zu ertasten, die Feuchtigkeit, die andere Beschaffenheit der Haut, ihn dann wieder anzuheben, ohne die Massage auch nur eine Sekunde zu unterbrechen. Er hatte es nie ausprobiert, doch seine Kollegen hatten ihm gezeigt, wie man es machte und dabei ganz professionell dreinschaute. Immer wenn eine Patientin zur Behandlung einer Adduktoren-Tendopathie hereinkam und interessant war, fuhren sie alle die Ellbogen aus, um sie zu übernehmen. Margherita war wegen ihrer vordergründigen Unscheinbarkeit bei ihm gelandet. Eine hübsche Frau, aber ein bisschen blass. Ihr Körper jedoch hatte Erstaunliches offenbart: nicht wegen ihrer harmonischen Muskulatur oder ihrer wohlgeformten, kräftigen Beine oder der runden Hüften, es war die Art, wie sie sich in diese fünfzig Minuten heilsamer Anspannung hineingab, ihre Sehnen, ihre Glieder, sich selbst. Er mochte die Schweigsamkeit dieser Frau, die ihn konzentriert arbeiten ließ, Margherita wirkte manchmal, als denke sie überhaupt nichts und sei plötzlich doch voller Ideen. Er versuchte sie daher nicht anzusehen, als schrecke ihn die Vorstellung, sie bei diesen Gedankenblitzen zu überraschen. Ihren Geruch nahm er dafür umso stärker wahr, einen Duft, den er so noch nie gerochen hatte – beinah wie Milch – und der bis unter die Dusche an ihm haften blieb.
Er sah auf die Uhr, noch fünf Minuten. Er half ihr, das Bein anzuwinkeln, fragte, wo die Beugung den Schmerz verstärkte, und schloss aus ihrer Antwort, dass noch eine kleinere Verspannung der ischiocruralen Muskulatur zu lösen war. Er legte sich den Fußknöchel auf die Schulter und bearbeitete mit leichtem Zupfen den Muskelstrang auf der Rückseite des Beins, fand die Blockade und drückte zu. Er hörte sie aufstöhnen wie in den ersten Sitzungen, eher ein Winseln als ein Schrei. Noch ein letztes Mal, kündigte er an und drückte zu, er wollte noch einmal das Stöhnen hören, das nach etwas anderem klang. War er also doch wie seine Kollegen? Schneller und weniger fest massierte er weiter, bis sein Arm schmerzte. Er legte das Bein auf die Liege zurück. »Jetzt gehst du eine Runde auf den Crosstrainer, dann macht Alice die Übungen mit dir.«
»Alice?«
»Ich muss heute früher weg. Aber du solltest morgen wiederkommen. Die Entzündung gefällt mir nicht.«
»Morgen schon?«
»Wenn du Zeit hast, ja.«
Sie dachte nach. »Neun Uhr schaffe ich.« Sie setzte sich auf und ließ die Beine baumeln. »Was hast du denn Schönes vor heute Nachmittag?«
Er öffnete die Tür des Séparées.
»Entschuldige, das geht mich natürlich nichts an.« Sie schlüpfte in ihre Shorts. »Aber ein freier Nachmittag ist in Mailand nun mal was Besonderes.«
»So frei nun auch wieder nicht.«
»Ach ja?« Margherita machte eine verlegene Miene. »Sorry, ich kann einfach nicht anders.« Sie schob sich an ihm vorbei und ging zum Crosstrainer in den Geräteraum.
Andrea sah ihr nach. Dann ging er in die Umkleidekabine, zog sich schnell um, und als er das FisioLab verließ, dachte er schon nicht mehr an sie oder die anderen Patienten. Früher hatte er ihre Körper mit nach Hause genommen: auf welche Art und in welchem Zeitraum er sie therapieren, wie er die Sitzungen optimieren könnte. Dann hatte er gelernt, sie zu vergessen, indem er durch die vornehmen Mailänder Straßen rund um die Via Cappuccini lief, durch das plötzliche Gewimmel auf dem Corso Buenos Aires, den aggressiven Verkehr des inneren Rings, durch Mailand in all seiner Kompliziertheit. Kompliziert, dieses Adjektiv hatten ihm die Lehrerinnen als Kind immer angehängt. Kompliziert: Der Junge redet so wenig. Kompliziert: Er hört nicht zu. Kompliziert: Er hat einen Mitschüler verprügelt. Kompliziert: Er hat von heute auf morgen seinen Hund ausgesetzt. Kompliziert: Er hatte nie eine Freundin, dann immer nur die falschen. Kompliziert: Andrea Manfredi. Und als seine Mutter einmal gesagt hatte, ihr Sohn sei so kompliziert wie Mailand – schwierig nämlich nur auf den ersten Blick –, hatte er begriffen, was es hieß, verstanden zu werden.
Jetzt brauchte er dieses Gefühl der Zugehörigkeit; er kam an der Villa Invernizzi vorbei, dem kleinen Park mit seinen absurden Flamingos im Brunnen, an den prächtigen, von Abgasen geschwärzten Jugendstilfassaden, tauchte in die Straßen ein, die auf die Porta Venezia zuliefen, mit ihrem Dicht-an-Dicht von Schwulen, Afrikanern und Kleinbürgern, entlang der mit frischem Gras bewachsenen Straßenbahngleise des Viale Piave. Er folgte der Straße rund einen Kilometer lang – er hatte eine fast elegante Art zu gehen, die Hände in den Taschen vergraben, die Schultern etwas gebeugt –, erreichte die Piazza Tricolore, stieg in die 9 und fuhr bis Porta Romana, das sich von der Mailänder Borgata zum In-Viertel gewandelt hatte. Hier war er aufgewachsen, seine Eltern führten seit dreiundzwanzig Jahren den Zeitschriftenkiosk gegenüber der Kirche Sant’Andrea. In dem Kiosk hatte er sich seine Ausbildung zum Physiotherapeuten verdient, hatte sechs Sommer in Folge die Frühschicht übernommen und zwei ganze Winter durchgearbeitet. Er hatte Routine mit den Rücksendungen der Tageszeitungen und verfolgte bei der Präsentation der Auslage seine eigene Philosophie. Zwischen den Zeitschriften platzierte er immer einen »Eindringling«, einen Marvel-Comic, eine Illustrierte über Tiere oder die Panini-Alben. Der Vater ließ ihn gewähren und sortierte anschließend alles wieder um. Sein Vater war ununterbrochen am Sortieren, auch an diesem Tag kniete er über einem Karton und ordnete die gebrauchten Urania-Ausgaben für je zwei Euro zu handlichen Stapeln. »Ich komme nicht mit«, sagte er, als er Andrea kommen sah.
»Er ist so ein Sturkopf.« Die Mutter trat vor den Zeitungsstand und machte ihm ein Zeichen. Andrea nahm seinen Vater am Arm, er hatte ganz wässrige Augen, half ihm hoch und ließ sich von der Mutter die Mappe mit den Arztbefunden geben.
»Sagt Bescheid, wenn ihr etwas wisst.«
Sie überquerten die Straße und gingen aneinandergedrängt an der Kirche vorbei, als sei ihnen kalt, dann wiederholte der alte Mann: »Ich gehe da nicht hin.«
»Der Termin steht seit zwei Monaten fest.«
»Du redest wie deine Mutter.«
»Es ist doch nur eine Kontrolle.«
»Hör auf.«
»Mach, was du willst.«
Das machte er schon, seit die Jungs von der Bar Rock ihn auf dem Boden vor seinem Kiosk gefunden hatten, wo er sich den linken Arm hielt und über Schmerzen in der Brust klagte; wenig später war er mit drei Bypässen aus dem Krankenhaus entlassen worden und hatte erklärt, den Herzkasper hätten ihm der Vatikan – nicht der Papst persönlich, sondern die Kardinäle – und Inter Mailand – nicht Vereinspräsident Moratti, sondern die Spieler – beschert. Dann sagte er: Der Kiosk war’s. Und die Ärzte hatten ihm recht gegeben, dass ein Leben mit nur vier Stunden Schlaf seinem Herzmuskel schadete. Seitdem schlief er nachts eine Stunde länger, schimpfte nicht mehr so viel, wenn er Domenica Sportiva schaute, regte sich insgesamt weniger auf und gewöhnte sich ab, ein paar Züge von der Marlboro seiner Frau mitzurauchen. Er hörte auf, sich um Notlagen zu sorgen, die es noch gar nicht gab. Andrea kam allein zurecht. Maria kam allein zurecht. Seine einzige Aufgabe lautete nun: auf sich selbst zu achten.
»Lass dich einfach untersuchen und fertig.«
»Leg dir wieder einen Hund zu und lass mich in Ruhe.«
Andrea folgte ihm mit einem halben Meter Abstand bis zu einer Parkbank bei einem Spielplatz. Sie setzten sich, die Sonne schien schwach durch den diesigen Himmel, und der Vater knöpfte sich das Polohemd zu. Er versank fast in seiner Jeans mit den schlackernden Hosenbeinen. »Hol dir einen Schäferhund, dann geht’s dir besser.«
Auf der Bank gegenüber saß eine junge Frau mit einem Lederrucksack auf dem Schoß, aus dem sie etwas hervorzog und zu essen begann. Andrea betrachtete sie, sie sah melancholisch aus.
»Oder einen Maremma-Hund.« Der Vater richtete sich auf und fasste sich an die Schulter.
»Hol dir doch selbst einen.«
»Dann lässt du mich wenigstens in Ruhe.« Er hielt sich weiter die Schulter.
»Was hast du?«
»Verspannungen vom Hocker.«
Andrea starrte auf seine Hände. Sie waren groß und glatt, der Ringfinger länger als der Zeigefinger. Er rieb sie ineinander wie immer, wenn er unentschlossen war, und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sein Vater sich an die Schulter fasste. Dann wanderte sein Blick wieder zu der melancholischen Frau, und er bemerkte, dass auch sie ihn beobachtete, während ein paar südamerikanische Kindermädchen sich an der Schaukel unterhielten. Er legte sich die Hände vors Gesicht. Sie rochen immer noch nach Margherita. Er ließ sie sinken. »Wo sitzt die Verspannung?«
»Signora Venturi kauft den Corriere della Sera nicht mehr, sie sagt, ihr Mann liest ihn jetzt am Computer.«
»In der Schulter?«
»Du musst den Stand sofort verkaufen, wenn ich nicht mehr da bin.«
»Nur in der Schulter?«
»Ein bisschen im Nacken.«
»Lehn dich aufrecht zurück und lass die Arme seitlich runterhängen.«
»Du musst sofort verkaufen, hast du gehört?«
»Tu, was ich dir sage.«
Der Vater rührte sich nicht, und Andrea ging um die Bank herum, half ihm, sich anzulehnen; bei den ersten Massagegriffen spürte er, wie zerbrechlich sein Vater war, und bekam Angst, ihm wehzutun. Sie hatten die gleiche Nase, doch es war eher der verschlossene Gesichtsausdruck, der sie zu Vater und Sohn machte. Sofia wandte den Blick ab, steckte die letzte Mandel in den Mund und setzte den Rucksack auf. Sie hatte Pentecostes Kurs mitten in der Stunde verlassen und war in den 91er gestiegen. Als sie durch das Fenster des Oberleitungsbusses den Parco Ravizza sah, stieg sie aus. Seit sie Rimini verlassen hatte, verspürte sie eine ständige Sehnsucht nach offenen, weiten Räumen. Vor sechs Monaten war sie am Mailänder Hauptbahnhof angekommen, voller Vorfreude und in der Gewissheit, dass sich ihr Leben nun verändern würde. Stattdessen stand sie jetzt wieder ganz am Anfang: eine Zweiundzwanzigjährige vom Land, die der Provinz nachhing und Dinge tat, die sie später bereute.
Sie lief über den Rasen zur Straße, sah sich noch einmal nach dem alten Mann und dem Jungen um, der ihn massierte, bis sie im Nebel verschwammen. Langsam ging sie weiter, Porta Romana mit seinen niedrigen Dächern und den kleinen Läden war ein Viertel, das ihr Sicherheit gab. Als sie an der Kirche vorbeikam, blieb sie stehen und gestand sich ein, dass sie sich bei Pentecoste entschuldigen wollte. Dass sie ihn vor dem versammelten Kurs vorne am Pult angesprochen hatte, musste ihn neuen Spekulationen aussetzen. Sie würde ihm sagen, dass seine Frau ihr nicht gefolgt war, sondern sie nur zufällig denselben Weg wie sie genommen hatte. Aber was sollte sie antworten, wenn er sie fragte, warum sie gelogen hatte? Sie wusste es doch selbst nicht. Als sie Pentecostes Frau in der U-Bahn entdeckte, hatte sie sie zuerst heimlich beobachtet und war ihr dann mit Sicherheitsabstand bis zur Uni gefolgt. Sie hatte gesehen, wie sich die Frau in den Hof setzte, war dann in den Seminarraum gegangen und hatte dem Professore ihre kleine Lüge aufgetischt. Und währenddessen hatte sie sich insgeheim im Recht gefühlt: Nach dem Missverständnis auf der Toilette war er auf Distanz zu ihr gegangen, hatte ihr keine Gelegenheit zu einem Gespräch gegeben, nicht einmal über die Kurzgeschichte, die sie vor fast zwei Monaten eingereicht hatte, und hatte sie alleingelassen mit seiner Kritik der ersten Erzählung, die er als »gehaltlos« abgeurteilt hatte.
»Gehaltlos?«
»Gehaltlos.«
Darum hatte sie ihm die zweite Kurzgeschichte gegeben, sieben handgeschriebene Seiten, auf denen sie erzählte, was damals im Fiat Punto mit ihrer Mutter geschehen war. Sie hatte sie Wie die Dinge liegen genannt. Als sie sie an einem Mittwochmorgen abgeben wollte, hatte der Professore gesagt, er akzeptiere keine unverlangt eingereichten Arbeiten. Mit den Blättern in der Hand stand sie vor ihm, legte sie dann einfach auf das Dozentenpult und ließ sie den Kurs über nicht aus den Augen. Nach Unterrichtsende hatte er sie zusammen mit den Büchern und dem Laptop in die Tasche gepackt, ohne aufzuschauen, genau wie damals beim Rektor, als er sie auch keines komplizenhaften Blickes gewürdigt hatte, obwohl er doch wusste, dass für ihn alles von ihrer Aussage abhing. Sie hatte sich brav ans Drehbuch gehalten: die Unpässlichkeit auf der Toilette, er kommt ihr zu Hilfe, stützt sie, damit sie aufstehen kann. Der Rektor hatte ihnen versichert, dass er von weiteren Schritten absehen würde, und hätte nicht weiter nachgefragt, hätte nicht Pentecoste selbst auf Klärung bestanden. Um sich auf eine gemeinsame Version zu verständigen, hatten sie sich zwei Tage zuvor in einer Bar in Chinatown getroffen. Sie hatten eine minutiöse Chronologie entworfen mit glaubwürdigem Handlungsablauf und Timing. Mehrmals hatten sie alles durchgespielt und in der übrigen Zeit über Gott und die Welt geplaudert. Nach dem Treffen – er hatte gezahlt –, hatte sie auf der Straße Richtung des Cimitero Monumentale ihr Telefon hervorgeholt und die Aufnahme gestoppt, hatte die Kopfhörer aufgesetzt und die Datei einmal, ein zweites Mal und ein drittes Mal angehört. Dass sie beschlossen hatte, alles aufzuzeichnen, konnte nur eins bedeuten: Der Apfel fiel nicht weit vom Stamm. Sich absichern, sich wappnen, sich gegen eine Wirklichkeit verteidigen, die unendliche Qualen bereithielt – das war die Obsession ihrer Familie. Von Zahlen kannst du leben, von Büchern nicht: ein dreijähriges Studium in Tourismusmanagement. Mach mit dem Ballett weiter, vielleicht kommst du ja bei einem namhaften Ensemble unter. Lass die Finger von Männern, die älter sind als du. In Mailand vergeudest du nur deine Zeit. Dass sie die einundfünfzig Minuten und siebenunddreißig Sekunden aufgenommen hatte, war der Beweis, dass auch sie genau das war. Eine Kleinigkeit allerdings führte sie wieder zu sich zurück: das Timbre in Pentecostes Stimme. Die weiche Aussprache, die klingenden Vokale, vor allem das »U«, das erst scheue, dann vergnügte Lachen erregten sie. Vielleicht war sie stattdessen ja genau das, jemand, der Gefallen daran fand, in seinem Monolog in Minute einundzwanzig zu schwelgen: