Kitabı oku: «Papaverweg 6»

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Inhaltsverzeichnis

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III

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Epilog

Schlussbemerkung

Copyright

Margarita Kinstner

Papaverweg 6

Roman

Leykam

Für Hannes

I
1

An einem Morgen Anfang September (es ist ein Freitag, kurz nach neun Uhr) biegt ein anthrazitfarbener Audi A6 in die kleine Gasse und hält auf dem Besucherparkplatz des Wohnhauses mit der Hausnummer 6.

Die Gegend wirkt wie aus früheren Zeiten, so ruhig ist es hier. In den Vorgärten der Einfamilienhäuser klettern Prunkwinden und Rosen die Maschendrahtzäune hoch, in den Staudenbeeten blühen blaue, zartrosa und pinke Hor­-tensien. Dichte Hecken braucht es hier keine, man vertraut einander, hat nichts zu verbergen, lässt die Blicke der anderen zu.

Auch zwei Mehrfamilienhäuser gibt es in der Gasse. Eines ganz oben, auf Nummer 2, das andere, mit der Hausnummer 6, befindet sich in etwa der Mitte der Gasse. Weiter unten spuckt ein Apfelbaum seine Früchte auf den Gehsteig, wo sie nicht lange liegen bleiben werden, denn hier achtet man noch auf Sauberkeit. Laub und Früchte werden am Papaverweg ebenso schnell beseitigt wie im Winter der Schnee.

Im Haus mit der Nummer 5 – einem Einfamilienhaus aus den Fünfzigern – tritt der sechsundachtzigjährige Oskar Zimmermann ans Küchenfenster. Es ist der letzte Tag des Sommers, schon kann man den Regen ahnen, den der Wetter­moderator in den Nachrichten angekündigt hat. Der letzte schwüle Morgen, in wenigen Minuten wird die ersehnte Abkühlung kommen, auf die Oskar seit Wochen hofft.

Draußen knirschen die Autoreifen auf dem Kies. Dann verstummt der Motor und überlässt die Bühne wieder dem Vogelgezwitscher. Seltsam, denkt Oskar, der den Wagen sofort erkennt. Was macht denn der Sucht hier?

Seitdem der Immobilienmakler einen Subunternehmer hat (und das sind jetzt auch schon bald vier Jahre), kommt er nur noch selten in die Gasse. Die Wohnungen am Papaverweg 6 bringen nicht genügend Provision, als dass sich Herbert Sucht persönlich um die Besichtigungstermine kümmern will.

Oskar wendet den Blick wieder ab und geht (wie er es ursprünglich vorgehabt hat) in die Speis. Er ist spät dran mit dem Frühstück, weil er bereits einmal, sehr früh am Morgen, aufgestanden ist und sich dann nochmals schlafen gelegt hat. Ein Rat seines Schwiegersohnes. Jan ist Psychologe. Dass er sich nicht lange mit Wiedereinschlafversuchen quälen, sondern lieber gleich aufstehen soll, hat er Oskar empfohlen, das schlage weniger aufs Gemüt.

Als sich Oskar kurz nach vier Uhr an seinen Küchentisch ge­­setzt hat, hat noch nicht einmal bei den Bosićs Licht gebrannt.

Die Bosićs sind jene Mieter im Haus gegenüber, die als Erste aufstehen. Auch heute wurden die Rollos der linken Dach­geschoßwohnung um vier Uhr dreißig hochgezogen. Zehn Minuten nach fünf stieg Herr Bosić in seinen weißen Toyota, seine Frau kam zwanzig Minuten später aus dem Haus, um zur U-Bahn zu gehen. Danach war es in der Gasse wieder still. Oskar hörte den Vögeln zu, döste ein wenig vor sich hin und schrieb ein paar Zahlen in das Sudoku. Kurz nach halb sieben trat dann der Mann mit dem Haarknödel auf seinen Balkon. Zündete sich eine Zigarette an und starrte auf das Dach seines schwarzen Geländewagens. Noch während er rauchte, wurden in der mittleren Erdgeschoßwohnung die Fenster geöffnet. Oskar hob die Hand zum Gruß, um dem Ägypter zuvorzukommen. Wenn Hamed El Sayed am Morgen lüftet, winkt er stets zu Oskar hinüber, und Oskar winkt, wenn er es recht­zeitig sieht, zurück – ein Ritual, das die beiden seit fast zwei Jahren vollführen.

Gegen sieben Uhr fielen Oskar die Augen wieder zu. Also verschob er das Frühstück auf später, stieg die Treppen hinauf, schlüpfte aus seiner Weste und legte sich in sein Bett. Zwei Minuten später sprang er wieder auf (sofern man die schnellstmögliche Aufstehbewegung eines Sechsundachtzigjährigen als Springen bezeichnen kann), lief die Treppen hinunter (Schlurfgeräusche), sah nach, ob die Kaffeemaschine ausgeschaltet war, und stellte fest, dass er sogar den Stecker gezogen hatte. Also füllte er für den Kater eine Schüssel mit Futter (wenn er schon hier war) und stieg abermals die Treppen hoch. Schob die blickdichten Seitenvorhänge, die seine verstorbene Frau vor mehr als dreißig Jahren genäht hatte, vor die Fenster, setzte sich auf das Bett, streifte die Hausschuhe von den Füßen, seufzte, kroch unter die Decke und schloss die Augen.

Als er wieder aufwachte, war es dreiviertel neun.

Jetzt steht er in der Speis und blickt auf die Gläser mit der Marmelade, die ihm seine Tochter auf die Regalbretter geschlichtet hat. Apfel mit Zimt und Koriander, Marille mit Marzipan, Zwetschken mit Walnüssen und Bitterschokolade, Birne mit Rosmarin. Kreationen seines Schwiegersohnes Jan (dem Psychologen). Oskar wählt ein Glas Quittengelee, darin sind nichts als Quitten und ein Schuss Quittenlikör (»Zwecks der Haltbarkeit«, wie Jan behauptet). Er greift nach dem Glas und schnappt sich beim Hinausgehen eine der Mineralwasserflaschen. Bleibt mit der Strickweste am Haken für die Schaufel hängen, stößt bei der Rückwärtsbewegung mit dem linken Ellenbogen gegen die Türschnalle und öffnet ganz auto­­-matisch die linke Hand, worauf das Marmeladeglas auf den Steinboden fällt und zerbricht. Ein Splitter springt ab und landet hinter dem Staubsauger.

Himmel, Arsch und Zwirn!

Er lässt das kaputte Glas, aus dem jetzt das Gelee quillt, liegen und stellt die Mineralwasserflasche auf die Küchen­anrichte. Holt das Brot aus dem hölzernen Kasten und greift nach dem Schneidbrett. Legt es auf die Anrichte und stellt sich abermals ans Fenster.

Der Makler steht noch immer neben seinem Audi. Gerade bindet er sich etwas um den Kragen seines weißen Hemdes – nein, keine Krawatte, es ist ein grünes Trachtenbändchen. Sodann öffnet er die hintere Wagentür, holt einen beigen Lei­nenjanker vom Rücksitz, schlüpft hinein, zieht ein Taschentuch aus dem linken Jackensack, hustet, schnäuzt sich, hustet abermals und spuckt den Schleim ins Papier. Steckt das Ta­schen­tuch wieder weg, beugt sich nochmals ins Innere seines Wagens und holt eine schmale Mappe hervor. Streicht sich mit der freien Hand über die kahle Stelle am Hinterkopf, richtet sich auf und wirft die Autotür zu. Ein kurzer Blick auf die Fassade des Wohnhauses, dann fischt er die Fernbedienung aus der Tasche seiner Bluejeans und drückt mit dem Daumen auf den Knopf. Die Zentralverriegelung des Audi gibt einen kurzen Fiepton von sich, der Makler verschwindet hinter der Hecke. Wenn Oskar sich nicht täuscht, wird sein Kopf in spä­­­testens einer Minute im Dachgeschoß auftauchen. Oskar weiß, dass die Wohnung mit der Nummer 10 seit Ende Mai leer steht.

Er lässt den Blick zu den Fensterreihen wandern. Im ersten Stock, hinter der zweiten Scheibe von links, sitzt die junge Lebensmittelretterin vor dem Computerbildschirm. Alice heißt sie. Ein liebes Mädchen, wie Oskar findet, und sehr gescheit. Die restlichen Fenster der Reihe sind noch hinter blickdichten Außenrollos versteckt. Im Dachgeschoß steht der Mann mit dem Haarknödel hinter der Balkontür und glotzt herüber. Als sein Blick den von Oskar streift, huscht er rasch zur Seite. Oskar schüttelt den Kopf. So ein Angsthase!

Jetzt endlich wird die Glastür der rechten Dachgeschoß­wohnung geöffnet. Der Makler tritt auf den Balkon, beugt sich über das Geländer, blickt auf den Parkplatz und richtet sich wieder auf. Rückt sein Trachtenbändchen zurecht, streicht sich abermals über den Hinterkopf und schaut in den Himmel. Als Oskar seinem Blick folgt, bemerkt er die dickbauchigen schwarzen Regenwolken, die sich von Osten her über die Dächer schieben. Noch ist der nahende Wetterumschwung nicht mehr als eine Vorahnung. Noch riecht es im Zimmer nach Schwüle, Schweiß und eingetrocknetem Katzenfutter.

Oskar nimmt die Hand vom Vorhang. Hebt die Schale mit den Fleischresten hoch und rümpft die Nase. Dann holt er die Küchenrolle aus dem Schrank und zieht aus einer der Schubladen einen Plastiksack. Draußen grollt der erste Donner.

Er wischt das Futter mit dem Küchenpapier in den Sack, dann geht er in die Speis und hebt das kaputte Glas sowie den Splitter auf. In seinem Bauch grummelt es ähnlich laut wie draußen. Er stellt den Plastiksack ins Eck und beschließt, sich später um die klebrige Stelle auf dem Boden zu kümmern. Jetzt will er erst einmal in Ruhe frühstücken. Als er an die Küchenanrichte tritt, stellt er fest, dass er denselben Gedanken schon einmal gehabt haben muss.

Seltsam, denkt er. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass ich das Brot herausgeholt habe.

Er hebt die Augenbrauen und kratzt sich im Ohr. Schüttelt den Kopf, öffnet die Bestecklade, holt das gezackte Messer heraus und schneidet sich eine Scheibe vom Brot herunter.

2

Ein zweistöckiges Wohnhaus am östlichen Stadtrand Wiens.

Die Adresse: Papaverweg 6.

Früher (ach, früher!) sind hier noch die Gänse gelaufen.

Früher (ach, früher!) war hier alles irgendwie besser – ­flüstern die Erinnerungen der Alten.

Alice Winter, die sechsundzwanzigjährige Mieterin von Top 4, sitzt jeden Morgen an ihrem Laptop. Von ihrem Fenster aus kann sie direkt auf die Gasse und den Parkplatz schauen.

Auch jetzt blickt sie seit Minuten aus dem Fenster. Vorhin hat sie den Makler dabei beobachtet, wie er in sein Taschentuch gespuckt und sich seine Trachtenjacke angezogen hat. Jetzt zerplatzen auf dem Dach des Audi die ersten Regen­tropfen.

Alice greift nach der Kaffeetasse neben der externen Tastatur und denkt an Susa und Tom. Schade, dass sie beiden weg­gezogen sind. Aber natürlich, mit dem Kind wäre es zu kompliziert geworden. Viel zu eng und zu hellhörig sind sie, die Wohnungen am Papaverweg 6.

Der Kaffee ist kalt und zu süß. Alice rümpft die Nase. Als sie die Tasse wieder abstellt, fällt ihr ein dunkelblauer Renault Twingo auf, der sich von rechts vor ihr Fenster schiebt und am Zaun gegenüber stehen bleibt. Das Brummen des Motors ­verebbt, kurz darauf schält sich aus dem Inneren des Wagens eine Frau in Alices Alter. Sie trägt Jeans und einen hellen ­Sommerpulli, ihr langes, braunes Haar hat sie zu einem dicken Zopf geflochten. Sie wirft die Autotür zu, sperrt ab, stützt sich am Dach ihres Wagens ab, bückt sich, schlüpft aus dem rechten Schuh und schüttelt ihn. Während der Bewegung fällt ihr Zopf zur Seite und baumelt ein paar Zentimeter über dem Gehsteig. Die Frau zieht den Schuh wieder an, richtet sich auf und läuft dann, mit beiden Händen über dem Kopf, auf das Haustor zu. Alice hört die Gegensprechanlage summen. Eine Sekunde darauf geht alles im Prasseln des Regens unter.

Zur selben Zeit, am anderen Ende des Ganges, liegt der ­siebenunddreißigjährige Peter Lindner in seinem Bett und schläft. Aus eben diesem Grund hört er weder das Fiepen der Zentralverriegelung noch die Schritte des Maklers, die in der Wohnung über ihm auf dem Laminatboden klappern. Auch vom Trommeln des Regens bekommt er nichts mit. Wenn der Jugendarbeiter schläft, sind seine Ohren stets mit Wachs verstopft. Nichts und niemand darf in seinen Schlaf dringen, nicht die Menschen und auch nicht die Sonne (die nun ohnehin nicht mehr scheint). Das pralle Leben (das Laute und das Helle) erträgt Peter erst nach der zweiten Tasse Kaffee. Des­wegen sind seine Rollos auch an diesem Morgen fest ver­schlossen. Da das Jugendzentrum seine Türen erst nach­mittags öffnet, kann er es sich leisten, lange zu schlafen.

Dennoch. Hätte er aus dem Fenster geschaut und das Auto des Maklers erkannt, hätte er den blauen Renault Twingo mit dem Kindersitz darin entdeckt, hätte er die Chance gehabt, ein weiteres Mal einzugreifen.

Ein winziger Moment nur. Ein Augenblick der Unachtsamkeit, geschuldet der frühen Uhrzeit, schon stehen alle ­Signale auf Grün.

3

Wie eine fette Seegurke wälzt sich das dunkle Band von Ost nach West, grummelt und rülpst und verdaut die Reste der ohnehin nicht sehr kräftigen Vormittagssonne. Jetzt ist er da, der Wettersturz, den der Nachrichtensprecher seit Tagen an­­gekündigt hat.

Oskar dreht das Deckenlicht an und streift sich die blauen Gummihandschuhe über die Hände. Dann greift er nach dem Mikrofasertuch, hält es unter den Wasserstrahl und wringt es aus. Bevor er damit über die klebrige Stelle in der Speis fährt, stellt er sich ans Fenster. Draußen hat nun heftiger Regen eingesetzt, und auch der Sturm hat an Stärke zugenommen, hart peitscht er die Äste der Fichte hin und her. Hoffentlich bricht keiner ab und fällt auf den kleinen Renault, der vor seinem Zaun geparkt hat. (Seit wann steht der überhaupt hier?)

Seit Monaten wartet Oskar nun schon auf die Genehmigung der Stadt, die Fichte fällen zu dürfen. Die ganze Sache ist einfach lächerlich! Da sitzen die jungen Beamten, die seine Enkelkinder sein könnten, in ihren Büros und entscheiden über jeden Bereich seines alten Lebens, lassen ihn nicht einmal den Baum fällen, dessen Wurzeln er vor sechzig Jahren eigenhändig in die Erde gesetzt hat. Wer wird die Verantwortung übernehmen, wenn er auf das Dach stürzt? Oder gar einen Menschen erschlägt? (Ist nicht auch Ödön von Horváth damals?) Werden die, die ihm das Fällen aus Naturschutzgründen versagen, zu seinen Gunsten aussagen? Von wegen. Ganz allein wird er sich vor Gericht verantworten müssen, vielleicht sogar wegen fahrlässiger Tötung. Mit sechsundachtzig noch ins Gefängnis, weil er einen Menschen auf dem Gewissen hat.

Er seufzt und beobachtet die Schatten hinter den Fenstern im Dachgeschoß. Muss an das junge Paar denken, das bis zum Sommerbeginn in der Wohnung gewohnt hat. Oskar hat die sommersprossige Susa und ihren Mann gemocht. Obwohl, Mann ist das falsche Wort, sie sind ja nicht verheiratet gewesen. »Mein Freund«, hat Susa gesagt, und Oskar hat schmunzeln und an seine verstorbene Frau denken müssen. Mit einem Freund geht man Tretbootfahren, mit einem Freund zieht man kein Kind groß, hätte Ella gesagt.

Er betrachtet den Renault genauer. Nun ist er sich doch sicher, dass er vorhin noch nicht hier gestanden ist. Stimmt es, was seine Enkeltochter behauptet? Wird er schwerhörig? Normalerweise fällt ihm auf, wenn jemand vor seinem Haus hält.

Vielleicht liegt es ja bloß am Geräusch des Regens. Oder am Wind.

Er kneift die Augen zusammen. Der Wagen ist alles andere als neu, auch ist er nicht gepflegt. Der blaue Lack ist zerkratzt, die Stoßstange verbogen, und in der Beifahrertür entdeckt Oskar sogar eine Beule. Er schiebt den Vorhang ein Stück ­weiter zur Seite, greift sich an den Ellenbogen und rubbelt die schmerzende Stelle. Seine Nase berührt nun fast die Fensterscheibe.

Was ist denn das auf dem Beifahrersitz? Doch nicht etwa …

»Aber die können doch keine Frau mit einem kleinen Kind dort oben einziehen lassen!«, ruft er und dreht den Kopf zur Seite, ganz so, als stünde tatsächlich jemand neben ihm und könnte Antwort geben.

Doch da ist niemand.

Ella ist tot und Luise auch.

4

Eine halbe Stunde später beobachtet Alice, wie der Makler in den Audi steigt und die Gasse wieder verlässt. Sie rümpft die Nase. Ein schmieriger Kerl ist das. Aber diese Typen werden auch noch schauen, denkt sie, irgendwann wird es diese Kapitalistenschweine nicht mehr geben. In was für einer verkehrten Welt lebt sie eigentlich, dass Typen wie der fünfmal so viel verdienen wie ein Bäcker oder eine Supermarktangestellte? Was macht er schon? Fährt in seinem schicken Audi durch die Gegend, spaziert durch fremde Wohnungen und kassiert eine saftige Provision nach der anderen. Nicht einmal einen Angestellten leistet er sich, das wäre wenigstens eine gute Tat, aber nein, er lässt Mirko die Drecksarbeit auf Werkvertragsbasis machen. Mirko darf die Fotos aufnehmen (Weitwinkelobjektiv und Lichtstrahler), Mirko darf die Leute durch die Wohnungen führen und sich den Mund fusselig reden, und danach darf er zittern und hoffen. Wenn er etwas an die Frau, den Mann, die Familie gebracht hat, bekommt er den kleineren Teil der Provision.

Seltsam. Normalerweise kommt der Sucht nur, wenn Frau Reiter nach ihm verlangt. Aber das Auto der Eigentümerin, der acht der insgesamt zehn Wohnungen im Haus gehören, steht nicht auf dem Parkplatz.

Ist Mirko krank? Oder hat er endlich (endlich!) den Mut gehabt und dem Sucht gesagt, was er von ihm hält? Hat er etwas Besseres gefunden? Eine fixe Anstellung?

Vor einem dreiviertel Jahr traf Alice Mirko Čolaković zufällig auf der Straße. Grüßte ihn freundlich und tauschte ein paar nette Worte mit ihm aus, worauf er sie überredete, etwas ­trinken zu gehen. Und da sie ohnehin Liebeskummer wegen Henrik hatte, folgte sie ihm bereitwillig in das nahe gelegene Gasthaus, bestellte ein Glas Bier und hörte Mirko zwei ­Stunden lang beim Jammern zu. Und ja, beinahe hätte er es geschafft, ihr ein schlechtes Gewissen einzureden, weil sie ihre Wohnung ganz ohne seine Hilfe gefunden hatte.

Nachmieter gesucht, kein Makler!, hatte die Überschrift ge­­lautet. Die Mieterin hatte die Fotos mit der Kamera ihres Handys aufgenommen und auf willhaben.at geladen. Ehrliche Fotos waren das gewesen, ganz ohne überbelichtete Weit­­­winkeloptik. Und auch der Text war ein einfacher gewesen. Keine Rede von »Single-Hit« oder »Traumobjekt mit City­anbindung«. Keine Metaphern, keine anschaulichen Geschichten, in denen die Morgensonne geschlossene Lider küsst. Nette, kleine Wohnung mit guter Raumaufteilung!, hatte Alices Vormieterin geschrieben, und genau nach einer solchen Wohnung hat Alice damals gesucht.

An jenem Nachmittag, an dem Mirko ihr sein Herz aus- (und das Bier seinen Rachen hinunter-) schüttete, erfuhr Alice (ohne dass sie danach gefragt hatte) alles über seine prekäre Situation. Von seiner Frau und seiner fünfjährigen Tochter, von seiner Stelle im Elektro-Reparaturzentrum und der Kündigung wegen Mitarbeiterabbaus. Dass er danach keinen Job mehr gefunden habe, weil kaum noch jemand seine Haushaltsgeräte reparieren lasse, dass er schließlich das Inserat von »Herbert« in der Zeitung entdeckt und sich gedacht habe, dass das doch etwas sein könnte für ihn. Eine neue Chance. Als Selbstständiger wäre er sein eigener Herr, dann müsste er nicht mehr kriechen und sich auch nicht mehr beim AMS anstellen. Wie er sich gefreut habe, als »Herbert« sich für ihn entschied. Dass er damals ja noch keine Ahnung gehabt habe, dass der Sucht (»Der Arsch!«), nur einen Trottel brauche, der für ihn den Laufburschen spielt.

»Suche Idioten, der sich seinen WIFI-Kurs und die Sozialversicherung selbst bezahlt, Honorar nur bei Erfolg!«, ätzte Mirko und hinterließ Spuckeflecken auf der Tischplatte. »So hätte die Anzeige damals lauten müssen!«

Jetzt läuft er sich die Füße wund, von einem Single-Hit zum nächsten, von einem Familien-Wohntraum zum anderen, während sich »Herbert« (natürlich sind sie vom ersten Handschlag an per Du gewesen) um die lichtdurchfluteten Pent­housewohnungen mit freiem Blick auf den Sternenhimmel kümmert. Mirko fährt von hier nach dort, von dort nach ­drüben und von drüben nochmals über eine Bezirksgrenze, und wenn er Glück hat, kommt am Ende des Monats eine vier­stellige Summe heraus.

»Die Honorarnoten sehen ja nicht einmal so schlecht aus, aber am Ende frisst die Sozialversicherung dann alles weg«, sagte Mirko, als er ein weiteres Bier für sich bestellte und Alice ihm mit beiden Händen zu verstehen gab, dass sie selbst ­keines mehr trinken wolle.

»Warum meldest du dich nicht arbeitslos und suchst dir etwas Neues?«, schlug sie vor. »Lass dir das doch nicht ge­­fallen!«

Mirko sah sie nur stumpf an. »Weißt du, wie das ist, wenn du den ganzen Tag zu Hause rumhockst und deine Frau arbeiten geht? Ich hab meinen Stolz. Das ist nicht viel, aber besser als nichts.«

Seitdem versteckt sie sich, wenn er kommt. Seit die Wohnung im Dachgeschoß leer steht, ist er ein paarmal hier ge­wesen. Alice mag Mirko nicht mehr über den Weg laufen, seine Hilflosigkeit macht sie wütend. »Komm endlich raus aus deiner Opferhaltung!«, würde sie ihn gern anschreien, aber sie weiß, dass sie kein Recht dazu hat. Vielleicht stimmt es, was er ihr vorwirft. Dass sie keine Ahnung vom »echten Leben dort draußen« hat. Was tut sie schon? Versteckt sich hinter einem großen Bildschirm und bloggt über Naturkosmetik, umweltfreundliche Putzmittel und saisonale Küche. Dazwischen wäscht sie sich die Haare mit Erde und Apfelessig, kocht vegane Bolognese und Eintöpfe aus gerettetem Gemüse, zerhackt Kastanien, schaut Dokumentationen auf YouTube und stöbert in den Blogs der anderen.

Als sie Mirko an jenem Nachmittag vorgerechnet hat, dass das bedingungslose Grundeinkommen durchaus finanzierbar sei, dass es eines Systemwechsels hin zu einer Mikrosteuer bedürfe, dass man endlich anfangen müsse, umzudenken, weil die Vollbeschäftigung für alle in Zeiten des technologischen Fortschritts gar nicht mehr möglich sei, hat sich ihre Rede wie die eines aufsässigen Teenagers angehört.

Natürlich. Sie hätte ihm erzählen können, dass auch sie für Dumpingpreise arbeitet. Dass sie stundenlang psychiatrische Gutachten abtippt und eine Menge banaler Ratgebertexte verfasst, nur um am Ende des Monats ein paar Hundert Euro überwiesen zu bekommen. Aber davon darf Mirko nichts wissen. Niemand darf davon wissen. Alice Winter ist das Mädchen mit dem Blog für umweltfreundliche und nachhaltige Lebensweise. Aus, Punkt, Ende. Das ist es, was die Menschen glauben sollen. Alice Winter rettet Lebensmittel vor dem Müllcontainer und verteilt sie an die Armen (und weniger Armen), Alice Winter kämpft gegen soziale Ungerechtigkeit und die Ausbeutung von Naturreserven, Alice Winter lebt in ihrem kleinen Wunderland, in dem alles möglich ist.

Mirko hat recht. Was weiß sie schon davon, wie es sich anfühlt, eine Familie ernähren zu müssen? Sie muss ja nicht einmal für das Essen in ihrem Kühlschrank bezahlen!

Als sie Mirko verriet, dass die öffentlichen Kühlschränke ­für alle da seien, also auch für ihn, lachte er sie aus. »Ach, Mädchen!«, gluckste er in sein Bier (dabei kann er nicht älter als höchstens dreißig sein). »Ich kann doch meiner Frau und ­meiner Tochter nicht ein paar welke Salatblätter und schrumpelige Karotten nach Hause bringen.«

Alice streckt den Rücken durch. Speichert die bearbeiteten Fotos ab und korrigiert den vorbereiteten Blogartikel. Danach kopiert sie den Text in die Maske, teilt die Absätze ein, formatiert die Überschriften und sortiert die Fotos für die Diashow. Obwohl sie ihre Artikel schon lange nicht mehr mit den ­passenden Keywords zur Suchmaschinenoptimierung versieht, zählt ihr Blog zu den meistgelesenen in Österreich. Trotzdem hat sie in letzter Zeit das Gefühl, nicht besser zu sein als der schmierige Sucht mit seinem Trachtenbändchen, der den Menschen mittels Fisheye-Optik eine Welt vorgaukelt, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.

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