Kitabı oku: «Er, Sie und Es»
Marge Piercy
Er, Sie und Es
Marge Piercy
Er, Sie und Es
Roman
Deutsch von Heidi Zerning
Literaturbibliothek
Argument · Ariadne
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
He, She And It
© Marge Piercy 1991
Alle Rechte vorbehalten
Korrigierte Neuausgabe © Argument Verlag 2016
Deutsche Erstausgabe © Argument Verlag 1993
Satz und Umschlag: Martin Grundmann, Hamburg
Lektorat: Else Laudan
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
ISBN 978-3-86754-874-8
Dem Andenken von Primo Levi gewidmet
Seine Bücher waren wichtig für mich.
Ich vermisse seine Gegenwart in der Welt.
Cover
Titel
Impressum
Widmung
In der Konzernfestung
Die Farbe alten Blutes
Malkah erzählt Yod eine Gutenachtgeschichte
Durch das brennende Labyrinth
Vor fünfzehn Jahren: Der Tag des Alef
Wir wissen zu viel und zu wenig
Unter keinem Mond
Wie soll ich dich anreden?
Das Familienalbum wird umgeschrieben
War es gut, das zu tun?
Er, Sie und Es
Das Meer bringt Wandel
Eine zwiefache Geburtshilfe
Im Licht des ungelben Mondes
Genau wie ich
Kleines Mädchen vermisst
Frankensteins Sohn
In der Basis sterben
Malkahs Bettlied
Bass und Sopran
Eine Tür geht auf und eine Tür geht zu
Die Gegenwart
Wein mitten in der Nacht
Vignetten aus dem Alltag eines Golems
Wo sich die Elite trifft
Ich kannte sie gar nicht
Brennende Neugier
Wie scheiden wir den Tänzer von dem Tanz?
Wie viel würde es dir ausmachen?
Der Fehler des Räubers
Die Gestaltwandler
Geistesblitze und gefährliche Machenschaften
Stimmen und Gesichte in der Morgendämmerung
Ein Lazarus, zwei Lazarus
Mit den Untoten leben
Der Maharal gewappnet
Wüstenäpfel
Ein Vorgang von gewisser Endgültigkeit
Die Schlacht am Tor
Ein Protokoll kommt zutage
Wahre Geständnisse und öffentlicher Aufruhr
Das Werk des Schadchen
Heller Stern unwandelbar
Kommst du zurück?
Josephs Heimkehr
Samsons Aufgabe
Yods Mitteilung
Auf Chavas Spuren
Shiras Entscheidung
1Shira
In der Konzernfestung
Josh, Shiras Exmann, saß direkt vor ihr im Familiengericht, wo sie darauf warteten, dass das Urteil über das Sorgerecht für ihren gemeinsamen Sohn Ari auf dem großen Bildschirm erschien. Joshs Dienstanzug war rückenfrei, weiß für den förmlichen Anlass, dem ihren sehr ähnlich. Eine Schweißperle rann die Rinne seiner Wirbelsäule hinab, und selbst jetzt noch fiel es ihr schwer, nicht sanft mit ihrem Schal darüberzustreichen, um sie zu trocknen. Der Yakamura-Stichen-Kuppeldom in der Wüste von Nebraska war selbstverständlich klimatisiert, sonst wären sie alle tot, aber jetzt war Winter, deshalb durfte die Temperatur nachmittags, wenn die Sonne den ungeheuren Kuppeldom um die Konzern-Enklave aufheizte, auf natürliche dreißig Grad Celsius steigen. Auch Shira hatte schweißfeuchte Hände, aber vor Nervosität. Sie war an einem natürlichen Ort aufgewachsen und hatte sich die Fähigkeit bewahrt, mehr Hitze zu ertragen als die meisten Y-S-Grützer. Immer wieder sagte sie sich, dass sie nichts zu befürchten hatte, doch ihr Magen war schmerzhaft verkrampft, und sie merkte, wie sie sich ständig die Lippen leckte. Wann immer sie auf ihrer inneren Uhr die Zeit aufrief und im Augenwinkel auf ihrer Hornhaut ablas, war es höchstens eine Minute später als beim letzten Mal.
Der Raum gleißte in schwarzem und weißem Marmor, höher als breit und auf Einschüchterung angelegt, so wusste Shira aufgrund ihrer Ausbildung in Psychodesign. Ihr eigentliches Gebiet waren die Schnittstellen zwischen Menschen und den gewaltigen künstlichen Intelligenzen, die die Operationsbasis jedes Konzerns bildeten – wie auch jeder anderen Einheit, die Informationen produzierte und verarbeitete. Auch das Netz, das alle Welt miteinander verband. Aber Shira wusste genug über Psychologie, um die Absicht des Saalbaus zu erkennen, wo sie mit ihren zugewiesenen Anwälten saßen, aufrecht und steif wie Stimmgabeln in Erwartung des Schlages, unter dem sie zu Klang erzittern würden. Um sie herum hockten ähnliche Wartegrüppchen: Bruch des Ehevertrags, Sorgerecht, Versäumnis- und Missbrauchsklagen, und alle starrten sie auf den leeren Bildschirm. Von Zeit zu Zeit erschien dort ein Gesicht, eins dieser chirurgisch modellierten Y-S-Idealgesichter – blondes Haar, blaue Augen mit doppelter Lidfalte, gemalte Brauen wie Hokusai-Pinselstriche, Adlernase, dunkelgoldener Teint. Es verkündete ein Urteil, dann wirbelte eine der Gruppen umeinander, stand auf und ging, manche strahlten, manche blickten finster, manche weinten.
Sie brauchte sich gar nicht dermaßen zu fürchten. Sie war ein Techno wie Josh, kein Tagelöhner; sie hatte Rechte. Ihre Hände brüteten feuchte Flecke auf ihren Hüften. Hoffentlich wurde das Urteil bald verkündet. In fünfundvierzig Minuten musste sie Ari in der Mittelstufentechno-Tagesstätte abholen, das waren vom Behördensektor aus rund zwanzig Minuten Gleitweg. Sie wollte nicht, dass er warten musste, dass er Angst bekam. Er war erst zwei Jahre und fünf Monate alt, und sie konnte ihm nicht einfach erklären: Keine Sorge, Mami kommt vielleicht ein bisschen später. Es war ihre Schuld, sie hatte im Dezember auf der Scheidung bestanden. Seitdem war Ari scheu und Josh verbittert, wütend. Doppelt so lebendig. Wenn er in ihrer Ehe die Leidenschaft entfesselt hätte, die ihr Weggang auslöste, hätten sie vielleicht eine Chance gehabt. Er bekämpfte sie mit aller Kraft und Intelligenz, so, wie sie hatte geliebt werden wollen.
Alles war ihre Schuld. Sie hätte Josh nie heiraten dürfen. Sie hatte in ihrem Leben nur ein einziges Mal leidenschaftlich geliebt, zu jung, und dann nie wieder. Aber wenn sie Josh nicht geheiratet hätte, gäbe es Ari nicht. Ja, sie fühlte sich schuldig, als sie auf Joshs schmalen Rücken schaute, auf die Riffel seiner Wirbelsäule, verletzlich, leicht vorgebeugt, als bliese ein kühler Wind nur auf ihn. Sie hatte gelobt, ihn zu lieben, sie hatte versucht, ihn zu lieben, aber die Beziehung hatte sich seicht und unvollständig angefühlt.
In der Zeit vor der Heirat dachte sie noch, er lerne langsam, mit ihr zu reden, sinnlicher und direkter zu reagieren. In dem wiederbelebten Schintoismus von Y-S waren sie beide Marranos, der Ausdruck war von spanischen Juden entlehnt, die sich unter der Inquisition als Christen ausgegeben hatten, um zu überleben. Y-S pflegte eine Art Erweckungs-Schintoismus, dem christliche Bräuche wie Taufe und Beichte aufgepfropft waren. Marranos waren im zeitgenössischen Sprachgebrauch Juden, die für Multis arbeiteten, in die Kirche oder Moschee gingen und Lippenbekenntnisse ablegten, dabei aber im stillen Kämmerlein Judaismus praktizierten. Alle Multis hatten ihre offizielle Religion als Teil der Konzernkultur, und alle Grützer mussten sie pro forma übernehmen. Wie Shira pflegte auch Josh die Gewohnheit, Freitagabend bei sich Kerzen anzuzünden, die Gebete zu sprechen, die Feiertage einzuhalten. Es schien vernünftig, zu heiraten. Er war seit zehn Jahren bei Y-S. Sie kam direkt von der Universität, mit dreiundzwanzig. Y-S hatte die anderen Multis überboten und sie in Edinburgh angeheuert – wie die meisten begabten Schulabgänger aus Norika, dem einst aus USA und Kanada bestehenden Kontinent, hatte sie im prosperierenden Sektor Europa studiert –, und so blieb ihr keine Wahl als hierherzukommen. Sie hatte sich sehr allein gefühlt. Die rigide, einem strikten Protokoll folgende Hierarchie von Y-S befremdete sie. Sie war in der freien Stadt Tikva aufgewachsen, war an warme Freundschaften mit Frauen gewöhnt und an Männer, die ihre Kameraden sein konnten. Hier war sie verzweifelt einsam und eckte ständig an. Oft fragte sie sich, ob ihre Schwierigkeiten speziell mit der Y-S-Konzernkultur zu tun hatten oder ob sie sich in jeder Multi-Enklave gleich bleiben würden. Es gab dreiundzwanzig große Multis, die die Welt unter sich aufteilten, mit Enklaven auf jedem Kontinent und auf Raumstationen. Gemeinsam übten sie die Macht aus und erzwangen den Konzernfrieden: Überfälle, Attentate, Scharmützel kamen vor, aber keine Kriege seit dem Vierzehntagekrieg von 2017.
Josh war als Sohn israelischer Eltern geboren worden, Überlebenden des Vierzehntagekrieges, den ein Terrorist mit einer nuklearen Vorrichtung angezettelt hatte, welche Jerusalem von der Landkarte brannte. Ein Inferno biologischer, chemischer und nuklearer Waffen, das die Ölfelder entzündete und die gesamte Region verwüstete. Mit zehn Jahren wurde Josh zur Vollwaise und zog ohne Heimatland umher. Das war die Zeit, welche die Juden Die Wirren nannten, als die ganze Welt ihnen die Katastrophen zur Last legte, die in einem Mahlstrom von wirtschaftlichem Chaos der Ölabhängigkeit den Garaus machten. Nichts war ihm in seinem Leben je zugefallen. Je mehr er sie an sich heranließ und ihr erzählte, desto kostbarer erschien er ihr, in dieser emotional aufgeladenen Zeit vor ihrer Heirat, und desto mehr meinte sie, ihm absolut unersetzlich zu sein. Sie war erstaunt darüber, dass sie ihn anfangs als kalt empfunden hatte. Wie hatte er gelitten! Er brauchte sie wie die Luft zum Atmen.
Allmählich schien er sich zu öffnen. Kurz nach ihrer Heirat, auf der er bestanden hatte, begann er sich zurückzuverwandeln. Er gab sich glücklich. Er wirkte entzückt von ihr – doch nur aus sicherem Abstand. Sie näher kennenzulernen, sein Seelenleben mit ihr zu teilen und Anteil an dem ihren zu nehmen, solcher Zeitvertreib schien ihm müßig, entbehrte der Dringlichkeit. Ari sollte die Kluft zwischen ihnen überbrücken. Seit der Geburt ihres Sohnes konzentrierte sich Joshs ganze Freizeitenergie auf Ari. Oft beschlich sie der Verdacht, hätten sie Ari nicht, so gäbe es gar nichts, worüber sie reden könnten. Das Schweigen gellte ihr in den Ohren. Bald kochte sie vor Groll. Sie fochten täglich vierzig Zweikämpfe aus, um nichts. Ihre Großmutter Malkah hatte es ihr prophezeit, als sie Josh heiratete: Sie hatte einen folgenschweren Fehler begangen. Ihr Zusammenleben vereinte die Nachteile des Alleinseins und des Lebens mit einem Fremden. Meinungsverschiedenheiten wurden zu ihrer Hauptbeschäftigung. Sie war in einem liebevollen Haushalt aufgewachsen, denn Malkah war resolut und eigensinnig, aber auch warmherzig und fröhlich. Man musste nicht pausenlos erbitterte Kleinkriege austragen. Shira hatte alle Kraft zusammengenommen und ihn verlassen.
Sie rief wieder die Zeit auf ihre Hornhaut. Nur vier Minuten waren vergangen, seit sie zum letzten Mal nachgesehen hatte. Schließlich erschien das langschädelige Gesicht und sprach auf seine modulationsarme Weise ihre Namen: Joshua Rogovin und Shira Shipman, in Sachen Sorgerecht für das Kind Ari Rogovin. – Nicht einmal bei Y-S mit seiner männerdominierten Kultur änderten Frauen ihren Namen. Ehen basierten auf Fünf- oder Zehnjahresverträgen, und Namensänderungen ohne besonderen Anlass waren unwirksam. Trotzdem bekam Shira eine Gänsehaut, als sie hörte, wie Ari der Name seines Vaters gegeben wurde. So hatte sie ihn nicht eintragen lassen bei der Geburt, aber Y-S missachtete ihre Entscheidung.
»In vorliegender Angelegenheit lautet das Urteil der Geschworenen, dem Vater Joshua Rogovin, Status T12A, das Sorgerecht zu erteilen und der Mutter Shira Shipman, Status T10B, Besuchsrecht zweimal wöchentlich, mittwochs und sonntags. Dieser Spruch erging am 28. Januar 2059, automatische Überprüfung am 28. Januar 2061. Spruch registriert. Ende.«
Josh wandte sich auf seinem Sitz um und starrte sie finster an. Sein Anwalt strahlte und klopfte ihm auf die Schulter. »Was habe ich Ihnen gesagt? Im Sack!«
»Das können sie doch nicht machen!«, sagte Shira. »Sie können mir nicht Ari wegnehmen!«
Josh schnitt eine Grimasse, fast ein Lächeln. »Jetzt gehört er mir. Er ist mein Sohn, er ist ein Rogovin.« Seine hellen Augen, irgendwo zwischen Grau und Blau, schienen ihren Schmerz wahrzunehmen und abzutun.
»Ihr Exmann hat einen höheren Technodienstgrad als Sie«, sagte ihr Anwalt. »Ich habe Sie gewarnt, dass das berücksichtigt wird. Sie hängen seit drei Jahren im gleichen Dienstgrad fest.«
»Ich lege Einspruch ein. Ari braucht mich.« Und ich brauche ihn, dachte sie.
»Das ist Ihre Entscheidung. Wenn Sie mich fragen, vergeuden Sie Ihre Kredite. Natürlich vertrete ich Sie, wenn Sie das wünschen.«
Josh und sein Anwalt waren schon hinausgerauscht. Shiras Anwalt stand über sie gebeugt, ungeduldig wippte er mit einem Fuß. »Ich habe einen Termin mit einem anderen Mandanten. Überdenken Sie das mit dem Einspruch. Ich kann das Verfahren morgen in die Wege leiten, wenn Sie wollen.«
Unvermittelt stand sie auf und stürzte zum Ausgang, als ihr einfiel, dass sie zu spät zu Ari kam. »Bereiten Sie den Einspruch vor«, rief sie über die Schulter. »Ich gebe ihn nicht her.«
Sie sprang auf die Eilspur des gleitenden Gehwegs und hüpfte leichtfüßig von Bahn zu Bahn. Das galt als ungehörig für Grützer – Glop-Slang für die höheren Angestellten und das technische Personal der Multis –, obwohl die Tagelöhner es andauernd taten, aber das war ihr jetzt egal. Sie wollte nur schnell zu Ari. Sie eilte an der Spinnwebarchitektur des Dienstviertels vorbei. Unter dem Kuppeldom gab es kein Wetter, und kein Gebäude konnte höher als sechs Stockwerke sein. Darum herrschten lange, parabelförmige Kurven vor, bizarre Spindeln und labyrinthische Gitter aus glitzerndem, durchsichtigem Filigran. Beinahe alles war schwarz, weiß oder blau, wie die rückenfreien Dienstanzüge, die bis zur Wadenmitte hinabreichten und die alle Grützer trugen. Nahezu jeder Leitende, Mann oder Frau, war unter dem Messer gewesen, um dem Y-S-Ideal zu gleichen, das Gesicht dem vom Bildschirm so ähnlich, wie die Finanzen es erlaubten.
Die Technos, die auf den Gleitern vorbeihuschten, sahen schon unterschiedlicher aus, aber auch sie trugen Anzüge in den abgesegneten Farben. Angehörige gleichen Dienstgrades grüßten einander mit ritueller Geste, einem kurzen Kopfnicken. In der Rangordnung tiefer Stehende ignorierte man gewöhnlich. Kam man an Höherrangigen vorbei, wartete man, bis man bemerkt wurde, und verneigte sich dann tief. Wie oft war sie schon in Schwierigkeiten geraten, weil sie sich so intensiv unterhalten hatte, dass sie unabsichtlich versäumte, einen Gleichrangigen oder Vorgesetzten zu grüßen. Die Tagelöhner trugen Overalls oder Uniformen in Gelb-, Braun- und Grüntönen: die Farben gemäß ihren Arbeiten. Wenn sie zur falschen Zeit am falschen Platz waren, fiel das sofort auf. Shira sprang von Bahn zu Bahn, es war ihr gleichgültig, wer sie sah, wer sie anzeigte – als würdelose Person, die den Y-S-Anstand vermissen ließ. Sie fühlte sich hier sowieso immer zu körperlich, zu laut, zu weiblich, zu jüdisch, zu dunkel, zu überschwänglich, zu gefühlvoll.
Die Tagesstätte für die Kinder von Mittelstufentechnos lag jetzt unmittelbar vor ihr, hinter einer hohen Hecke bunter Krotonsträucher. Über dem Eingang hing schlaff die blau-weiß-schwarze Y-S-Fahne. Sie hatte sich noch nicht allzu sehr verspätet, denn sie sah ein paar versprengte Mütter und einen Vater, während sie das letzte Stück vom nächsten Gleiter rannte. Ihr fiel ein, dass sie nie einen Erwachsenen durch diese Straßen rennen sah. Jedem war viel zu sehr bewusst, dass er beobachtet wurde, beurteilt. Dies war der Bezirk der Mittelstufentechnos, kleine Häuser, jedes auf seinem Grundstück. Sie hatte mit Josh in einem davon gewohnt. Vier Häusertypen für diese Schicht, mit den gleichen abgesegneten Sträuchern und gepflegtem Rasengeviert, aber freier Farbwahl. Niemand wählte Rot oder Violett. Die einzigen Verkehrsmittel, die sich auf den Mittelstreifen bewegten, waren Servicefahrzeuge: Lieferwagen, Reparatur- und Notfallwagen, Sicherheitsaffen, alles Elektrovehikel, die eintönig piepten.
Die Aufseherin, Jane Forest, behandelte sie merklich kühler. »Aber Shipman, ein Sicherheitsbevollmächtigter hat Ari Rogovin vor achtzehn Minuten abgeholt. Uns wurde mitgeteilt, das sei korrekt. Sie sind nicht mehr berechtigt, Ari Rogovin abzuholen, außer mittwochs.«
»Ein Affe hat ihn abgeholt? Aber wieso?«
»Ersuchen Sie bitte die Sicherheitszentrale um Auskunft.«
Obwohl Shira schreien und protestieren wollte, war ihr klar, Jane würde niemals Anordnungen abändern, die ihr erteilt worden waren; sonst wäre sie die längste Zeit Aufseherin gewesen. Jeder Widerspruch von Shira war zwecklos und würde ihr nur Ärger einbringen. Sie musste sofort ihren Anwalt anrufen. Aber am meisten spürte sie das Verlangen, mit Malkah zu telefonieren.
Noch vor einem Monat hätte sie ihre Sekretärin angerufen, Rosario, denn sie hatten sich angefreundet. Doch der niedere Angestellte, mit dem Rosario einen Zehnjahresvertrag eingegangen war, hatte ihre Ehe nicht erneuert. Wie auch bei niederrangigen Beschäftigten üblich hatte er sich eine neue, zwanzig Jahre jüngere Frau genommen. Rosario war zweiundvierzig, und Y-S entließ sie. Shira hatte Einwände erhoben, sie brauche Rosario, aber sie besaß keine Macht. Frauen über vierzig, die weder Technos waren noch Aufseherinnen, Spezialistinnen oder Leiterinnen, wurden entlassen, wenn sie nicht mehr zeitweiliges Eigentum eines männlichen Grützers waren. Weibliche Grützer hatten angeblich die gleichen Vorrechte, und wenn ihre Stellung es erlaubte, nahmen sie sich junge Ehemänner.
Rosario war in den Glop entschwunden. Vielleicht wurde sie als Tagelöhnerin täglich durch das Tunnelsystem in die Enklave hinein- und aus ihr hinausgeschleust, verdingte sich als Wäscherin oder Köchin oder tat Wartungsarbeiten, die nicht von Robotern verrichtet wurden, doch Shira würde sie nie mehr zu Gesicht bekommen. Rosario war aus der sicheren Festung ausgestoßen worden in den überbevölkerten, brutalen, gärenden Pferch des halb verhungerten Glop, wo neun Zehntel aller Menschen von Norika hausten. Sollte sie noch am Leben sein, Shira würde es nie erfahren. Glop, das klang nach Auswurf und war auch so gemeint: ein Slangwort für die Megalopolis, die sich vom einstigen Boston südwärts erstreckte bis zu dem, was einmal Atlanta gewesen war, sowie für all die ähnlichen Gebiete auf dem Kontinent, auf der Welt.
Sobald Shira ihre Zweizimmerwohnung erreichte, das Höchste, was ihrem Dienstgrad in den sogenannten Silos für niederrangige Technos zustand, fragte sie die Wohnung nach Mitteilungen. Jede Wohneinheit in der Konzern-Enklave war computergesteuert. Es war kein so anspruchsvolles System wie das, mit dem sie aufgewachsen war und das Malkah programmiert hatte, aber zur Nachrichtenübermittlung reichte es. Sie erfuhr, dass Malkah vor fünfzig Minuten angerufen hatte. Shira kontaktierte zuerst ihren Anwalt und dann Malkah. Bei Gesprächen machte sie sich nicht die Mühe, sich einzustöpseln – das tat niemand. Sie sprach ihre Anweisungen einfach aus. Malkahs rundes, ein wenig verhutzeltes Gesicht erschien, ihr Haar, ebenso schwarz wie Shiras, war in Zöpfen um ihren Kopf gewunden. »Shira, du siehst durcheinander aus.« Malkah hatte eine tiefe, volltönende Stimme. Obwohl sie Shiras Großmutter war, hatte sie sie großgezogen. Das war in ihrer Familie Brauch, bat Shipman, die Dynastie der Töchter, bis Shira das Schema durchbrochen hatte.
»Isst du gerade?«, fragte Shira höflich, denn es war eine Stunde später in der freien Stadt Tikva am Atlantik, wo Malkah lebte und wo Shira aufgewachsen war.
»Was fehlt dir?« Malkah kam immer sofort zur Sache.
»Y-S hat Josh das Sorgerecht erteilt.«
»Diese Schweinepriester«, sagte Malkah. »Diese Giftrülpser. Ich hab dir ja gesagt, heirate ihn nicht. Du bist in unserer Familie seit vier Generationen die Erste, die heiratet. Eine schlechte Idee.«
»Ist ja gut, ich dachte, Josh braucht die Geborgenheit.«
»Und konntest du ihm Geborgenheit geben? Na egal. Komm nach Hause.«
»Ich kann mir nicht einfach freinehmen. Besonders jetzt. Ich lege Einspruch ein. Ich muss Ari zurückbekommen. Ich muss.«
»Was will Y-S?«
»Von mir? Nichts. Sie wissen kaum, dass ich existiere.«
»Als du dein Studium in Edinburgh abgeschlossen hast, warben sechs Multis um dich. Und Y-S lässt dich verschimmeln. Das stinkt.«
»Ich denke, ich leiste gute Arbeit, aber nichts passiert. Niemand hier hält große Stücke auf mich.«
Malkah schnaufte. »Komm nach Hause. Ich kann dich brauchen. Ich arbeite nicht mehr mit Avram. Ich entwerfe jetzt ganztags.«
»Ich fand das eine sonderbare Partnerschaft.«
»Was er macht, ist absolut faszinierend. Aber egal. Er ist wütend auf mich. Er ist ein sturer, arroganter alter Kacker, aber auf seinem Gebiet ist er zweifelsohne ein Genie.«
»Kybernetik hat mich nie besonders interessiert … Malkah, ich ertrage es nicht, Ari zu verlieren. Er fehlt mir schon jetzt.« Shira liefen Tränen übers Gesicht.
»Du hättest nie für diese Manipulanten mit ihren Machenschaften arbeiten dürfen, Shira. Du hast hier einen Platz. Du bist davongelaufen. Dabei ist Gadi gar nicht hier. Der ist oben in Vancouver und entwirft diese kunstvollen Scheinwelten, in denen die Leute Leben spielen, statt sich Gedanken über die Welt zu machen, die wir alle am Hals haben.«
»Ich habe viele Fehler gemacht«, sagte Shira. »Aber Ari gehört nicht dazu. Er ist kostbar, Malkah, er ist für mich das Leben selbst. Ich muss ihn zurückhaben. Er trägt mein Herz in sich.«
»Tochter meiner Seele, ich wünsche dir Kraft. Aber ein Multi hat immer seine Gründe. Du wirst vielleicht eine Weile brauchen, ehe du sie durchschaust, und wenn du es tust, wird dir das unter Umständen nicht helfen, deinen Sohn zurückzubekommen.«
»Tja, bete für mich.«
»Du weißt, ich glaube nicht an persönliche Fürbitten. Ich bete immer nur um Erkenntnis.«
Shira hatte vergessen, sich eine Mahlzeit mitzubringen. Sie aß Cracker und Datteln. Dann setzte sie sich wieder an ihr Terminal und stöpselte sich ein, indem sie die Klinke vom Terminal in die kleine Silberbuchse an ihrer Schläfe steckte, direkt unter der Haarlocke, die immer dorthin fiel. Rosario hatte keine Buchse gehabt; hier war das ein Klassenunterschied, doch in Tikva erhielt jedes Kind die Möglichkeit des direkten Zugangs und lernte, sich in das weltweite Netz zu projizieren und in die lokale Operationsbasis. Sie glitt rasch aus ihrer privaten Basis in die Y-S-Basis. Sie wurde vom Konzernlogo empfangen, weiße und schwarze Doppelblitze vor Himmelblau. Die Y-S-Bildwelt beim Betreten des Stützpunktes war die von Straßenschildern. Sie stand auf einer Kreuzung und hatte sieben Abzweigungen vor sich. Büchereizugang. Sie ging die enge weiße Straße entlang. Natürlich saß sie auf ihrem Stuhl, aber die Projektion wirkte vollkommen realistisch. Man konnte in der Projektion sterben, wenn man von Räubern überfallen wurde, Informationspiraten, die in der einen Basis plünderten und die Beute an eine andere verhökerten.
Ein Gebäude stand vor ihr, weißer Marmor mit Säulengang. Die Bibliothek. Schnell stieg sie die flachen Stufen empor. Sie hielt Ausschau nach der juristischen Abteilung. Sie hatte vor, sich die geltende Y-S-Gesetzgebung über Sorgerecht anzueignen. Deshalb hatte sie nicht einfach nur Text- oder Tonausgabe gewählt. Bei voll projiziertem Zugang, wenn sie in eine Basis eingestöpselt war, lernte es sich wesentlich schneller als in Echtzeit. Sie wollte sie mit ihren eigenen Waffen schlagen. Sie würde ihren Sohn zurückerobern.
Am nächsten Morgen stand sie vor der Tagesstätte. Josh kam mit Ari im Schlepptau. Sie stürzte auf Ari zu und kniete sich vor ihn. »Ich will dir nur sagen, dass ich dich heute abhole. Heute Abend bist du wieder bei mir.«
Ari hatte den Daumen im Mund und sah aus, als ob er geweint hatte. Sein Teddybär-T-Shirt war verkehrt herum. Seine Augen waren verklebt.
Josh sagte, und seine Stimme surrte wie eine Hornisse: »Ich werde Beschwerde einlegen.«
Und wirklich erschien auf ihrem Bildschirm um dreizehn Uhr eine Sicherheitsnachricht: ›Shira Shipman wird hiermit jeglicher Kontakt mit dem minderjährigen, dem Sorgerecht seines Vaters Joshua Rogovin unterstellten Ari Rogovin untersagt außer an den vorgeschriebenen Tagen innerhalb der festgesetzten Besuchszeiten. Jeder weitere Verstoß gegen diese Verfügung bewirkt den Widerruf besagter Rechte.‹
Shira schloss sich in eine Abfallbeseitigungszelle ein, bevor sie weinte.