Kitabı oku: «Er, Sie und Es», sayfa 4
Der öffentliche Disput wird an einem Sonntag vor einer riesigen Menge abgehalten. Judah muss versuchen, angesichts einer feindseligen und fanatischen Zuhörerschaft Stimmengleichheit zu wahren. Und genau das erreicht er um Haaresbreite, er kontert, er attackiert, aber er bricht den Angriff stets vor dem Sieg ab. Es ist ein langer Tanz in der Sonne des überfüllten Platzes, ein Tanz mit Schwertern und Feuer. Ein Tanz, der immer formeller wird, so dass die Menge sich zu zerstreuen beginnt, während der Maharal Thaddeus vom hohen Sockel der Redekunst herunterschmeichelt in das knorrige Labyrinth aus Philosophie, Theorie, Zitat, Übersetzungsfragen. Thaddeus wird verleitet zu Haarspaltereien über immer feinere Einzelheiten, untermauert von Zitaten und winzigen Unterschieden. Als es ihm endlich gelingt, sich daraus zu befreien, ist die vereinbarte Zeit verstrichen. Keiner hat gewonnen, und Thaddeus ist wütend, denn zu spät erkennt er die Kriegslist des Maharal – ihn in formelle Diskurse zu locken, die die blutrünstige Menge langweilen, ihn in akademische Erörterungen zu locken, die den Maharal als Gleichen behandeln und nicht als den Satan in Person. Die Menge kam zu einem Turnier und erlebte ein Seminar.
Der Maharal hat keine Zeit, sich an seinem geknebelten Sieg zu erfreuen. Ostern ist eine gefährliche Zeit und Ostern steht vor der Tür. Zu Ostern rotten sich oft Horden zusammen und schlagen drein. Zu Ostern kann es geschehen, dass angesehene Juden ergriffen und gefoltert werden, bis sie gestehen oder sterben.
Judah betet und fastet und bringt sich in Einklang mit den höchsten Sphären gemäß den Regeln der Kabbala durch die Speichen aller Emanationen bis hin zu dem All, welches das Nichts ist, das En Sof. Thaddeus ist erzürnt und wird seine Rache nehmen. In Judah kommen der Zaddik – der Gerechte – und der Chassid – der Fromme – zusammen. Ein Mystiker und ein Handelnder, tätig, leidenschaftlich, getrieben, kann sich Judah nie in seiner Meditation verschließen und die Gemeinde vergessen. Er betet und fastet und fastet und betet um eine Antwort auf die Gefahr, die er riechen, schmecken kann.
Dann, am siebenten Fastentag, schläft der Maharal über seinem Arbeitstisch ein, auf dem sich die hebräischen Seiten türmen, alte und neue Bücher und Reinschriften von Manuskripten fünfzig Gelehrter. Ihm träumt, er steht auf dem jüdischen Friedhof, inmitten der dicht gedrängten, windschiefen Grabsteine, die an die Seiten eines aufgeblätterten Folianten erinnern. Überall wehklagen Menschen und heben hastig Gräber aus. Er sieht einen Hügel aus bleichen Leibern, alle übereinandergeworfen. Er hat die zierliche Pinkas-Synagoge vor sich, und während er ihre Wand anschaut, schreibt eine Hand aus Licht das Wort GOLEM. Von rechts nach links schreibt sie immer wieder dieses Wort. Dann ruft eine Stimme, die ihm in den Ohren brennt, seinen Namen, einmal, zweimal. »Judah, du musst einen Golem aus Lehm machen, damit er aufsteht und das Ghetto bewacht und dein Volk rettet. Zaudere nicht. Steh auf und mache einen Golem.«
Yod, die Fähigkeit, Visionen zu sehen, ist eine von jenen menschlichen Begabungen, die gedeihen, wenn sie von einer Gemeinschaft belohnt werden, und die in den meisten von uns verdorren, wenn sie von der Gemeinschaft bestraft werden. Das heißt, ob die Fähigkeit, die Hand von ha-schem an die Wand schreiben zu sehen, Anerkennung einbringt für deinen frommen und prophetischen Scharfsinn oder ob du deswegen in der Klapsmühle landest, entscheidet darüber, wie viele Menschen in einer Gemeinschaft es sich zur Gewohnheit machen, das zu sehen, von dem andere meinen, es sei nicht wirklich da. Der Maharal hat die Fähigkeit entwickelt, Visionen zu sehen, denn sie ermöglichen ihm, zu meditieren, seinen Geist zu klären und das zu erfassen, was er für höhere Wahrheit hält. Aber wie die meisten Juden seiner Tradition hört er öfter Stimmen, und die Stimmen unterweisen ihn in seiner Pflicht.
Was ist der Golem, den zu machen ihm die Stimme befiehlt? Ein Wesen in menschlicher Gestalt, nicht vom ha-schem gemacht, sondern von einem anderen Menschenwesen vermittels esoterischen Wissens, insbesondere durch die Macht der Worte und Buchstaben. Das Sefer jezira, das mystische Buch der Schöpfung, soll das enthalten, was man meistern muss, um mit der Macht der Namen G-s und der Macht der Buchstaben und Zahlen einen Golem zu formen. Kabbalistische Tradition berichtet uns von vielen Weisen und Heiligen, die einen Golem erschufen, nicht zu irgendeinem Zweck, sondern als mystischen Ritus. Sie machten und zerstörten die wandelnden Lehmmänner, vereinten sich dabei mit der Schöpfungskraft und versetzten sich durch Gesang und den Schöpfungsakt in höchste Verzückung. Es war eine der Ruhmeskronen, die ein wahrhaft Heiliger tragen konnte. Gelegentlich wird uns auch von Weisen berichtet, die sich einen Golem zu privaten Zwecken machten, um Botschaften zu überbringen, das Haus sauber zu halten, so wie wir dafür Roboter benutzen, und diese Golems waren sowohl stumm als dumm.
Einzigartig ist, dass Judahs Golem nicht erfunden werden soll, um des Rabbis meisterliche Beherrschung des esoterischen Wissens zu beweisen. Ihm ist aufgetragen, so glaubt er, einen Golem zu erschaffen, der kämpfen, wachen, retten soll. Deshalb muss dieser Golem mit Verstand und der Gabe der Sprache geformt werden. Er soll eine Ein-Mann-Armee werden. Von dem Moment an, da Judah die Hand ›golem‹ schreiben sieht und die Stimme hört, die ihm zuruft, aufzustehen und dieses Geschöpf zu erschaffen, fragt er sich: Werde ich das wirklich tun? Sowie er die Möglichkeit erwogen hat, weiß er, dieses Unterfangen muss er geheim halten. Er hegt nicht den Wunsch, als Hexenmeister gefoltert zu werden, ein Weg, der einem polemischen, scharfzüngigen Rabbi stets offen steht.
Als eine, die selbst seit zwei Jahren an einem Geheimprojekt mitwirkt, identifiziere ich mich mit seinen Bedenken. Zu jedem Augenblick der Geschichte sind gewisse Richtungen, die dem forschenden Geist und der experimentierenden Hand offen stehen, verboten. Nicht immer ist das Wissen verboten, weil gefährlich: Regierungen geben ohne weiteres Milliarden für Waffen aus und verbieten kleinen Sekten das Peyote ihrer Ekstase. Was uns zu wissen verboten ist, kann – auch scheinbar – das sein, was uns zu wissen am meisten nottut.
Überdies reißt ein Mensch, der ein anderes menschliches Wesen erschafft, die Macht des ha-schem an sich. Er riskiert eine erschreckende Selbstverherrlichung. Er erhöht sich selbst über das Menschliche. Das ist gefährlich für die Seele, gefährlich für die Welt. Sobald Menschengeist eine Möglichkeit ersinnt, will er das Mögliche verwirklichen. Er will tun, ganz gleich, um welchen Preis. Der Maharal ahnt und weiß um menschliche Schwäche. Er schläft nicht und trinkt kaum ein wenig Wasser. Er kann nicht entscheiden, worin der wahre Weg liegt: Kommt seine Vision von ha-schem oder von seinem eigenen Ich, seinem Verlangen, sich als gelehrt zu erweisen, als heilig, als ebenso mächtig wie die Rabbis vor ihm, die Golems erschufen?
Der Maharal ringt eine ganze Woche lang mit sich, ob die Vision, die ihm kam, eine Versuchung ist oder ein wahres Gebot, eine wahre mizwa, die ausgeführt werden muss. Er schwankt. Noch nie zuvor hat in ihm so fiebrige Unentschlossenheit gebrannt. Er hat Angst zu handeln. Er findet immer wieder Gründe, sich seine Skepsis zu bewahren.
Einmal vor Jahren traf ich meine Tochter Riva heimlich in den Tiefen des Glop, diesem vollgestopften, stinkenden Slum, in dem die meisten Menschen leben. Damals, wir kauerten in einem Speicher voll zerborstener und verschrotteter Maschinen, sprach sie zu mir über die Versuchung der Gefahr: wie manchmal die nahezu gänzliche Unmöglichkeit der Durchführung einer Aktion sie unwiderstehlich macht. Sie muss es tun, weil man es nicht tun kann, weil es nicht nur verboten ist, sondern darüber hinaus als undurchführbar gilt. Zu der Zeit begann sie, von der reinen Datenpiraterie zu etwas Politischerem überzugehen, zu etwas noch Gefährlicherem. Da begann sie ihren Kreuzzug, Information von den Multis zu befreien. Der Maharal, er liegt wach, wie ich wachliege, hat Angst vor dem Heilmittel, für dessen Herbeischaffung er sein Leben wagen müsste, so wie er Angst hat vor der wachsenden Gefahr für die, die in seiner Obhut leben. Er kann sich nicht entscheiden, er liegt reglos vor der Nacht und dem Kommenden, er wartet auf ein weiteres Zeichen.
4Shira
Durch das brennende Labyrinth
Am Tag der Aprilscherze mischte sich Shira, deren rückenfreie Dienstkluft hier auffiel, unter die hunderttausend Tagelöhner, die den Untergrundzug nach Osten nahmen. Die zwölf Rolltreppen zur U-Bahnstation lagen unmittelbar außerhalb des Kuppeldoms, und der Gluthauch der Fünf-Uhr-Hitze legte sich mit sengender Last auf sie. Ihr Anzug war weiß, da sie offiziell von Y-S Abschied nahm. Die einfahrenden Arbeiter standen in der immer noch gefährlichen Nachmittagssonne Schlange, um nach dem Scannen ihrer Handflächen in den Kuppeldom eingelassen zu werden, aber wer rauswollte, musste sich nicht scannen lassen. Wenn sich jemand aus der Sicherheit hinaus in die Hölle begeben wollte, war das seine Sache. Niemand würde sich zu Fuß davonmachen in die Wüste von Nebraska.
Shira nahm die U-Bahn quer durchs Land, ihr Waggon war heiß und überfüllt. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Gepäck irgendwann ankam, die Wahrscheinlichkeit, dass Diebe es unterwegs abgriffen, war eigentlich größer. Ihre Hände umklammerten den Gurt, der sie an ihrem Platz hielt. Der Waggon war fensterlos, da es untertage absolut nichts zu sehen gab. Sie fuhr zwei Stunden, bevor sie in Chicago Quartier nahm; sie verbrachte die Nacht in der U-Bahnstation, eingeschlossen in eine Kapsel von 1,80 mal 2,40, denn nach Einbruch der Dunkelheit würde sie nie und nimmer sicher durch den Glop gelangen.
Am nächsten Morgen hatte sie noch zwei Stunden bis Boston. Sie mochte gar nicht an Ari denken, mit seinem Vater auf dieser Plattform zwischen Erde und Mond. Weinte er? Fragte er sich immer noch, wo sie blieb, warum sie nicht gekommen war, ob sie je kommen würde? Sie fühlte sich in Stücke gerissen. Würde Josh auf erste Anzeichen einer Mittelohrentzündung achten? Sie hatte versucht, auf Pazifika anzurufen, aber Josh hatte die Verbindung nicht angenommen.
Sie hatte keine Ahnung, wie es sein würde, mit Avram zu arbeiten, sie hatte keine Ahnung, wie es sein würde, heimzukehren und wieder bei ihrer Großmutter zu leben. Sie war mit siebzehn von zu Hause weggegangen und seitdem nie länger als eine Woche dort gewesen. Bei diesen Besuchen beförderte ein Schwirrer sie aus der Konzern-Enklave in die freie Stadt, in gut einer Stunde aus der totalen Festungssicherheit in den zerbrechlichen Frieden, ohne durch den maßlos überbevölkerten Glop zu müssen. Jetzt fühlte sich ihr Leben an wie ein Kristallgebilde, das in gleißende, gefährliche Splitter zersprungen war und sie blutend zurückließ. Alles, wofür sie gearbeitet hatte, alles, was sie mit ihrem ganzen manchmal überbordenden Elan geschaffen oder erhalten hatte – ihre Ehe, Ari, ihre Arbeit –, war zerstört oder ihr geraubt worden. Im Zug herrschten an die vierzig Grad. Sie rang nach Atem in der schlechten Luft.
Erschöpft und von Sauerstoffmangel gepeinigt stolperte sie aus der U-Bahn. Ihr Kreuz tat weh und ihre Nebenhöhlen brannten. Sie hatte Kopfschmerzen, als habe ihr Gehirn sich Blasen gelaufen. Doch jetzt war sie im Glop und hatte keine Zeit, sich um Wehwehchen zu kümmern, wollte sie unversehrt und am Leben bleiben. Über ihren rückenfreien Dienstanzug zog sie den dünnen schwarzen Überwurf, den fast alle Frauen und alte Leute und viele Männer auf den Straßen trugen. Er verdeckte Alter, Rang, Geschlecht und ließ alle nahezu gleich groß aussehen. Während ihrer Jahre bei Y-S hatte sie ihn nicht getragen, in den Multi-Enklaven gab es keine Gangs. Sie zog die Handschuhe aus Metallmaschen über die Hände, obwohl ihr klar war, dass sie damit höchstens den einen oder anderen Messerschlitzer abschreckte und dass jeder richtige Handhacker das Schutzgewebe ohne weiteres durchlasern konnte. Hätte sie sich ein Schild umhängen können, das anzeigte, wie niedrig ihr Kredit stand, sie wäre in Sicherheit gewesen. Ihre Hand war heute fast wertlos. Malkah hatte ihr wohl genug überwiesen, um ihr heimzuhelfen; ansonsten war sie blank.
Im Glop lebten Tagelöhner und Gangniños und Arbeitslose – die große Mehrheit der Menschen auf dem Kontinent. Die Übrigen waren zumeist Bürger einer Multi-Enklave. Die freien Städte waren Ausnahmen, wie auch die Landwirtschaftszonen. Die meisten Einwohner freier Städte wie der, in der sie aufgewachsen war, hätten sich direkt an einen Multi verkaufen können, statt von Gelegenheitsaufträgen zu leben, zogen es aber aus irgendwelchen persönlichen Gründen vor, außerhalb der Enklaven zu bleiben: eine Minderheitsreligion, eine sexuelle Neigung, die von dem betreffenden Multi nicht geduldet wurde, vielleicht auch einfach ein archaischer Drang nach Freiheit.
Der Umhang bauschte sich um sie und roch muffig. Die Jahre, die er zusammengefaltet am Grunde eines Speicherwürfels gelegen hatte, hatten ihn nicht besser gemacht, doch sie fühlte sich sofort sicherer darin, als sie sich unter die Menge auf den Gleitern mischte. Die meisten trugen schwarze Umhänge und wirkten darin wie finstere Nonnen. Sie näherte sich den oberen Ebenen der Station und tastete nach ihrer Filtermaske. Schutzbrille, Maske, Umhang, Kühlmittel; sie hatte alles, was sie zum Betreten der Straße brauchte. Dazu half ihr eine Dosis Amphetamin aus einer Kapsel, die sie von einem Händler kaufte, kurz mit ihrem Taschen-Scanner überprüfte und dann einwarf, während der Gleiter sie ruckend beförderte. Die dämpfte ihre Paranoia so weit, dass sie sich im Labyrinth der Station zurechtfinden konnte. Hunderte kampierten dort und schliefen in den schmutzstarrenden, zerfallenden Gängen, die Tag und Nacht widerhallten von fernen Stimmen, unterdrückten Schreien, Trommeln, Zak-Musik, dem Geriesel von Abwässern, dem Zischen ausströmender Kühlmittel. In einigen Gängen waren Läden, die Kleidung verkauften, Bottichnahrung, Fertignahrung, Stimmies und Spikes. Spikes waren in der Y-S-Enklave strikt verboten. Sie waren noch lebensechter als Stimmies. Statt nachzuvollziehen, was ein Schauspieler sah, fühlte, berührte, empfand, wurde der Benutzer unmittelbar in das Geschehen hineinversetzt, und die Wahrnehmungen waren noch intensiver – so hatte sie gehört. Man erzählte sich von tot aufgefundenen Jugendlichen, die sich in ihre Lieblingsabenteuer oder Pornos versenkt hatten, bis sie verhungert waren.
Wenige Multis erlaubten Freizeitdrogen, es sei denn, der Konzern selber gab sie aus. Im Glop wurde jede jemals erfundene Droge von Straßenhändlern angeboten. In anderen Fluren hausierten Händler mit dem Abfall der Zeiten: Müll aus den Enklaven, Gerümpel aus dem vorigen Jahrhundert, zu Möbeln, Kleidern, Waffen umgearbeitet, verdrahtete Skelette von ausgestorbenen Exoten wie Rotkehlchen und Grasmücken, ausgeschlachtete Teile, die zu behelfsmäßigen Robotern umgebaut waren. Ihr Blick fiel auf ein Messer aus organischem Harz, das sich mit Prüfgeräten nicht ausmachen ließ.
»Wie viel Betty für den Stecher?«
»Für dich, Prinz?« Hinter der Metallmaske glitzerten blutunterlaufene Augen. Sie zuckte zusammen. Prinz war jemand mit Geld. Sie konnte die Glop-Sprache nicht sprechen und wurde sofort als Grützer erkannt, als Multi-Angestellte. »Cuarenta dos. Zweiundvierzig. Der Stecher jault nicht unterm Strahl.«
»Treinta. Dreißig.« Sie ließ das Messer wieder in die Auslage fallen.
Sie feilschten noch fünf Minuten nach altem Brauch. Sie bezahlte sechsunddreißig. Er hatte ein reguläres Kredit-Gerät. Sie zog den Handschuh aus und steckte vorsichtig die Hand hinein. Er hatte das Gerät manipuliert, so dass anstelle des Betrags und der Gutschrift ihr Kontostand erschien.
»Ey, Prinz, harte Zeiten, was? Abgebrannt wie ’ne leere Wand. Du klingst como junges Fleisch. Ich hab ’n sauberen kleinen Käseladen …«
Sie steckte das Messer in den tiefen Saum ihres Ärmels und schritt hinaus. Heiß war es, heiß, heiß, heiß. Ihr Hirn schmolz in den giftigen Dämpfen. Sie war hungrig und durstig. Sie besaß noch etwas Wasser, das musste ihr reichen. Sie hatte keine Ahnung, welche Krankheiten zurzeit im Glop grassierten, aber es gab ständig neue Arten von Typhus und Hepatitis, neue Virusplagen, die immer noch von den Tropen auf Eroberung ausgingen. Sie musste ihren Hunger eben ertragen. Es nutzte nichts, sich auszumalen, woraus die › Burger‹ oder ›Sushi‹ gemacht waren, Tier, Pflanze, Mineral. Ob sie in ihrer vorigen Inkarnation gelebt hatten oder nicht, jetzt wimmelten sie nur so von ortsüblichen Protozoen und Bakterien. Die Essensgerüche ließen ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen, aber sie verlangsamte keine Sekunde ihre Schritte. Geh rasch, aber renne nie. Alte Straßenregel. Einige der Speisen wurden auf Holzkohle gegrillt, andere auf Laserbrennern gekocht, wieder andere wurden einfach über Feuern gewendet, auf dem Boden des alten Gebäudekomplexes, den Tunneln, die einmal ein Untergrundverkehrssystem gewesen waren. Teile der alten Anlage waren überflutet; der Rest war bewohnt.
Die meisten der Händler hockten ebenfalls in schwarzen Umhängen da, Gangmitglieder hingegen waren an ihren Uniformen zu erkennen, an Bemalungen, Tätowierungen, daran, dass sie wagten, ihre Waffen, Beine, Gesichter und Brustkörbe zu zeigen. Sie trugen Waffen offen zur Schau, alles Mögliche von Messern bis zu Lasergewehren; offiziell waren Waffen illegal, aber die einzigen Gesetze, die hier galten, waren die Reviergesetze der Gangs, die einen Teil des Glop kontrollierten. Sie trafen sich zu Raubzügen oder Palavern mit Bittstellern, verunsicherten Marktplätze und öffentliche Orte wie die U-Bahnstationen, die Krankenhäuser.
Scharfer Gestank von Urin und Kot. Ein Toter. Nein, er lebte noch. Um den Körper mit zerfetzter Brust, aus der stoßweise das Blut spritzte, stand ein singender Kreis von Gangniños. Alle trugen abgeschnittene Jacken in Violett und Gold, den Rücken schmückte eine zähnefletschende Ratte, Blitze schossen ihr aus den Augen, ihr Körper pulsierte, eingefangen in unendlicher Sprungbewegung, immer und immer wieder. Sie sangen ihr Mordlied. Shira blieb stehen, ging weiter. Fünf Minuten später könnte sie dort liegen. Überall bekriegten sich die Zeichen von zwei Gangs, ins Pflaster gelasert, auf Wände gesprüht. Umkämpfte Reviere waren gefährliches Gebiet, Kriegszone.
Sie sah eine Treppe vor sich. Eine Schranke war davor errichtet, bewacht von einer Gruppe, die wie der niedergestochene Junge gekleidet war. Sie hatten einen alten, notdürftig hergerichteten Handleser, und die Schlange schob sich daran vorbei. Shira ließ sich den Treppenzoll ablesen, ging durch die Sicherheitsschranke, bezahlte und stieg empor in die Ödnis. Teile des Glop waren unter Kuppeln, aber bevor der Ausbau abgeschlossen war, hatte die Regierung aufgehört zu funktionieren. Es gab immer noch Wahlen, alle zwei Jahre, aber das waren nur noch Sportereignisse, auf die hohe Wetten abgeschlossen wurden. Die Tätigkeit der Politiker beschränkte sich darauf, sich um ein Mandat zu bewerben. Jeder Sektor wurde von den Resten der alten UNO verwaltet, der Ökopolizei. Nach dem Tod der zwei Milliarden in der Zeit der Großen Hungersnot und der Seuchen hatte sie die Hoheit zu Lande, zu Wasser und in der Luft, außerhalb der Kuppeldome und Schutzhüllen. Ansonsten regierten die Multis ihre Enklaven, verteidigten die freien Städte sich, so gut sie konnten, und verrottete der Glop unter dem giftigen Himmel, beherrscht von sich befehdenden Gangs und Bossen.
Draußen rückte sie ihre Schutzbrille zurecht und schaute sich nach einem Transportmittel um. Kurzstrecken-Peditaxis konnten sie nicht aus dem Glop hinausbringen. Sie war nicht weit vom nördlichen Siedlungsrand. Sie musste ein Schwebauto mieten. Sie hörte einen hohen Heulton und warf sich in eine Gebäudenische, bevor die Armada der Staubreiter in einem Sturmwind aus Geschwindigkeit und blitzendem Metall über den Platz raste. Nicht alle waren schnell genug. Blut sprühte aus der Staubwolke. Als sie vorbei waren, lagen Gliedmaßen von zwei Körpern über das brüchige Pflaster verstreut. Sie bahnte sich ihren Weg vorbei an Hundemeuten, die sich um das Fleisch balgten, zu den Schwebautos, die am nördlichen Ende des Platzes angeschlossen waren. Ein Frachtbehälter hatte am östlichen Ende des Platzes Halt gemacht, und eine Ansage rief nach Aufsammlern und Bottichjungen. Aus den zerfallenden, bis in den letzten Winkel dicht bewohnten Gebäuden drängten Massen Arbeitsloser zu dem Behälter.
An der Einfriedung um die Schwebautos steckte sie ihre Hand in den Leser, und der Monitor ließ sie eintreten. Der Autochef stellte die Koordinaten ein. Versuchte sie, diese zu ändern, würde das Auto einfach anhalten. War sie angelangt, kehrte es automatisch zurück. Sie bezahlte im Voraus. Ihr ging allmählich der Kredit aus, doch sie hoffte, in einer Stunde zu Hause zu sein. Das Schwebauto fuhr auf einem Luftkissen über die alten zerborstenen Straßen. Es konnte für kurze Strecken in niedriger Höhe fliegen, was häufig nötig war, um einen Fluss zu überqueren oder eine Schlucht, an der eine Brücke zusammengebrochen war. Es war solarbetrieben, leise und nicht besonders schnell. Es konnte auch Wasserflächen überqueren, was wichtig war, denn wenn man eine Strecke eine Weile nicht gefahren war, wusste man nie, wie weit die See ins Land eingedrungen war und tiefer liegende Gebiete überflutet hatte. Was vor drei Jahren noch Festland gewesen war, mochte schon unter Wasserwogen begraben sein, denn seit die Polkappen rasant abschmolzen, stiegen die Weltmeere ständig. Schwebautos waren die Fahrzeuge der Konzern-Grützer und der freien Städte. Schnellpanzer konnten ebenfalls zerklüftetes Gelände überwinden und waren zudem bewaffnet. Konzerndienstreisen wurden meist in Schwirrern zurückgelegt.
Ein gemietetes Schwebauto stellte keine hohen Anforderungen. Sie brauchte nichts weiter zu tun, als es um und über Hindernisse zu lenken. Es hatte die Koordinaten ihres Ziels und fuhr von allein. Am Himmel kreiste eine weite Spirale von Aasgeiern. Sie konnten inzwischen der UV-Strahlung widerstehen. Sie konnten in der Ödnis überleben, wie auch die meisten Insekten, wie auch Möwen und Ratten und Waschbären. Menschen nicht. Singvögel nicht, alle tot. So gedieh das Ungeziefer und suchte in Wellen das Land heim, fraß die Hügel zu Wüste. Erosion tat ein Übriges. Krüppelbäume wie Pechkiefer, Wildkirsche und Bäreneiche hatten Zuckerahorn und Weymouthkiefer verdrängt. Brombeersträucher und Hundsrosen wucherten in undurchdringlichem Dickicht, dem sie auswich.
Das Auto schlug automatisch den Weg nach Osten ein, zum Ozean, vermied dabei den Rand der Cybernaut-Enklave. Multis gestatteten privaten oder gemieteten Autos nicht die Durchfahrt. Sobald sie die Enklave mit ihrer grünen Parklandschaft und der funkelnden City unter dem Kuppeldom umfahren hatte, gelangte sie in das Gebiet der freien Städte entlang der Küste. Die Straße, der sie nun folgte, führte geradewegs ins Meer, denn die tief liegenden Küstenstädte waren im Großen Wirbelsturm von ’29 zerstört worden. Die Hülle von St. Marystown glitzerte unter der Bernsteinsonne. Die Wellen rochen nach Petroleum und Salz. Jetzt konnte sie die Anhöhe aus dem Wasser ragen sehen, auf der ihre Stadt, Tikva, erbaut war. Die Schutzhülle schwebte auf Stützen darüber wie eine leuchtende Wolke. Shira steuerte das Auto an Land und den Hügel hinauf nach Tikva. Sie landete vor dem Tor, das dem Meer zugewandt war, stieg aus und ließ das Auto wenden und abdrehen.
Sie stand mit ihrem Bündel vor dem Tor. Erst jetzt fiel ihr ein, den schwarzen Umhang abzulegen. Nichts blieb, als dorthin zurückzukehren, wo sie als Kind genährt worden war. Würde es ihr als Zufluchtsstätte dienen? Vielleicht war Gadi noch hier. Bei elektronischer Übertragung waren sie Freunde, aber Gadi in Fleisch und Blut war mehr, als sie sich zumuten wollte. Wahrscheinlich konnte sie sich in die Stadt stehlen wie als Jugendliche mit Gadi, doch sie hatte keinen Grund dazu. Langsam näherte sie sich dem Monitor. Würde er ihren Handabdruck noch erkennen? Er tat es. Die Männerstimme des Stadtcomputers grüßte sie mit Namen. »Shira, Malkah Shipman erwartet dich. Avram Stein erwartet dich. Willkommen.«
Sie war verlegen, weil ihr Tränen in die Augen schossen, während sie den Umhang in ihre Schultertasche stopfte. Einen Augenblick später war sie froh, dass sie nicht versucht hatte, sich hineinzustehlen, denn sie begegnete zwei jungen Leuten, die Wache hielten. Als Sicherheitskräfte waren sie mit Pfeilgewehren ausgerüstet, die lähmend wirkten. Sie hatten gehört, wie der Monitor sie begrüßte, und nickten sie vorbei. Die Lage musste angespannt sein, dass Menschen an der Umgrenzung Wache hielten. Die freien Städte waren nicht berechtigt, Laserwaffen zu kaufen, auch wenn sie es manchmal auf dem Schwarzmarkt taten. Sie verließen sich überwiegend auf Schocker und Tranquilizer oder auf Sonarwaffen.
Unter der Schutzhülle zu gehen war anders als unter einem Kuppeldom. Die Hülle war durchlässiger für Licht und Wetter, eigentlich hielt sie nur die UV-Strahlen ab. Die Temperatur drinnen war nur geringfügig höher als draußen. Die Umgrenzungen wurden durch Computer überwacht; überschritt jemand die Schranke, löste er Alarm aus. Die Tore mit Handlesern gingen in jede Hauptrichtung. Tobte ein Wirbelsturm, was inzwischen oft vorkam, konnte die Hülle zu ihrem Schutz eingerollt werden. Die freien Städte waren entlang der Küste aus dem Boden geschossen, denn solch ein Standort war verwundbar und galt als gefährdet; kein Multi mochte Überflutung riskieren. In dieser unbeanspruchten Randzone gediehen die freien Städte.
Shira schlenderte durch die Straßen. Alle Gebäude waren verschieden, obwohl keines höher als vier Stockwerke sein durfte. Manche Häuser waren aus Holz gebaut, andere aus Ziegelsteinen, andere aus den neuen Harzen, andere aus Polymeren, wieder andere aus Stein. Shira fand die Harmonien und Disharmonien reizvoll – kleine spanische Haciendas, strenge klassizistische Villen, Holzschindelhäuser mit Steildach, ein Nachbau von Fernandez’ berühmtem Tanzenden Haus auf seinem Sockel, alle drängten sich Schulter an Schulter im gleichen Block. Nach der Einförmigkeit der Y-S-Enklave versetzten die Farben, die Strukturen, die Geräusche und Gerüche sie in einen Zustand des Entzückens, und sie merkte, wie sie immer langsamer ging und den Kopf wild hin und her drehte wie eine Blöde. Warum war sie je fortgegangen?
Es war auch ein seltsamer Anblick, dass die Dinge alt waren, rissig, verwohnt, Häuser, die einen Anstrich brauchten, ein mit Brettern vernageltes Fenster, ein kaputtes Geländer. Die Menschen hier führten ihre Reparaturen selber aus, wann sie die Zeit dafür fanden. Anarchische kleine Tulpenbeete und Tomatenpflänzchen, Bohnensprossen, die sich daranmachten, ihre Stangen zu erklettern, säumten die Straßen. Um halb drei waren fast alle an der Arbeit. Ein Reinigungsroboter werkelte die Straße entlang, hob hier und da Abfälle auf und fegte wie ein wild gewordener Handfeger. Aus einem offenen Fenster drang Geigenspiel, jemand übte und wiederholte unablässig eine Passage von Wieniawski. Sie fragte sich, warum sie das befremdete, bis ihr einfiel, dass bei Y-S Fenster normalerweise nicht geöffnet wurden. Gelegentliche Passanten waren lässig gekleidet: am Hals offene Hemden, Hosen, ein weiter Rock, Shorts, denn der Tag war der Jahreszeit entsprechend mild. Sie kam sich lächerlich vor in ihrem Y-S-Standardanzug, der inzwischen dreck- und rußverschmiert war. Ein Paar ging an ihr vorbei, sie unterhielten sich laut über irgendjemandes Mutter, ihre Stimmen tönten unbefangen. Hinter einer Hecke bellte ein Hund ein Kaninchen in einem Verschlag an. In kleinen Vorgärten staksten Hühner umher und in einem stolzierten gesprenkelte Truthähne. Ari wäre ganz aus dem Häuschen beim Anblick lebender Tiere. Die Gerüche überfielen sie: Tiergerüche, Gemüsegerüche, der Duft der gelben Tulpen, der schwerere Duft der Narzissen, Kochdüfte, der scharfe Dunst eines Misthaufens, der salzige Atem der See. Alles wirkte … ungeregelt. Wie unterernährt, wie verkümmert waren ihre Sinne in all diesen Y-S-Jahren. Wie kalt und träge kam ihr diese Konzern-Shira vor, als sie nun spürte, wie sie auftaute.
Das Haus ihrer Kindheit: von der Straße her ein unerschütterliches, quadratisches Schindelhaus, zwei Stockwerke boten eine Reihe großer, unterteilter Fenster. Es hatte sein Geheimnis, nämlich dass es um einen Innenhof gebaut war wie die Synagoge, in die sie immer gegangen war, die mit Namen Wasserschul. Niemand vor dem einundzwanzigsten Jahrhundert hatte Blumen und Obstbäume, kleine Vögel und die schlichte Schönheit grüner Blätter jemals so geliebt wie die Menschen, die nach der Hungersnot lebten. Für die waren sie kostbar und selten und ständig gefährdet. Shira war nach der Hungersnot geboren, nachdem die steigenden Ozeane viele der Reis- und Brotkörbe der Welt unter sich begraben hatten, nachdem die steigenden Temperaturen die Meeres- und Luftströmungen verlagert und einstiges Ackerland in Wüste und Steppe verwandelt hatten, nachdem das Versiegen der Ölquellen der Agrarwirtschaft zu Lande ein Ende bereitet hatte; doch die Auswirkungen und Geschichten der Hungersnot hatten ihre Kindheit geprägt.
Malkah wartete im Innenhof. »Ach Shira, endlich bist du zu Hause.«
»Seit Ari geboren ist, wollte ich ihn hierherbringen, damit ihr euch kennenlernt. Jetzt bin ich hier, aber ohne meinen Sohn. Was hat das für einen Sinn?«
»Zeit für dich, nach Hause zu kommen. Aber hier ist es gefährlich. Wir stehen unter Belagerung. Wir reden später darüber. Jetzt komm und lass dich in die Arme nehmen.«
Malkah kam ihr kleiner vor, zerbrechlich und doch fest. Die gelbe Rose rankte sich immer noch an der Wand empor, im Innenhof standen immer noch Pfirsich- und Pflaumenbäume, wuchsen immer noch Weinstöcke und Kosmeen, Kürbis- und Tomatenpflanzen, fast ein Garten Eden. Shira hielt Malkah an sich gedrückt, ahnte die Stärke ihrer Großmutter, ihr Alter. Malkah war für sie immer alt gewesen, denn Malkah war eine bobe, und Großmütter waren alt, aber Shira wurde im Nachhinein klar, welch junge und außerordentlich vitale Großmutter Malkah gewesen war. Malkah war 1986 geboren, also musste sie jetzt zweiundsiebzig sein.