Kitabı oku: «Epistolare Narrationen»
Margot Neger
Epistolare Narrationen
Studien zur Erzähltechnik des jüngeren Plinius
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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Umschlagabbildung: Marmorsphinx als Basis. Neapel, Museo Nazionale, Inv. 6882. Guida Ruesch 1789. H: 91 cm INR 67. 23. 57. Su concessione del Ministero dei Beni e delle Attività Culturali e del Turismo – Museo Archeologico Nazionale di Napoli.
© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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ISBN 978-3-8233-8345-1 (Print)
ISBN 978-3-8233-0282-7 (ePub)
Inhalt
In memoriam Maria Neger
Vorwort
Häufig verwendete Abkürzungen
Einleitung
I Die Narrativität der Briefe
1 Narrare in der antiken Epistolographie – epistolary narratives
2 Epistolographie und Narratologie2.1 Epistolare Stimmen2.2 Zeit in den Briefen2.3 Der Raum der Briefe2.3.1 Raumkonstruktionen in Buch 52.4 Adressaten und Figurenarsenal
II Narrative Strategien
1 Narrationen über rhetorische Performanz am Schauplatz Gericht1.1 Gerichtsverhandlungen unter Domitian in Buch 11.2 Prozesse unter Trajan: Szenen vor Gericht in Buch 21.3 Der Prozess gegen Caecilius Classicus in Buch 31.4 Der Bithynien-Zyklus1.5 Plinius und Baebius Massa (Epist. 7,33)1.6 De Helvidi ultione (Epist. 9,13)1.7 Verhandlungen im Zentumviralgericht
2 Eingelegte Schriftlichkeit: Briefe über Stimmtäfelchen und Inschriften 2.1 Plinius über die geheime Abstimmung im Senat (Epist. 3,20 und 4,25) 2.2 Ridere und indignari: die Grabinschrift des Pallas (Epist. 7,29 und 8,6) 2.3 Das Selbstepitaph des Verginius Rufus (Epist. 6,10 und 9,19)
3 Konstruieren einer Dichter-Biographie 3.1 Plinius als Leser poetischer Produkte in der ersten Triade 3.2 Plinius als Dichter in Buch 4 3.3 Verbreitung der Hendecasyllabi in Buch 5 3.4 Dichtung und Dichterbiographie in Buch 7 3.5 Reflexionen über Dichter und Rezipienten in Buch 8‒9
4 Der Briefzyklus über Mirabilien und Naturphänomene 4.1 Die Quelle am Lacus Larius (Epist. 4,30) 4.2 Die Vesuv-Briefe (Epist. 6,16 und 6,20) 4.3 Von Begegnungen mit Gespenstern (Epist. 7,27) 4.4 Wasser-Wunder in Buch 8 4.5 Delphin und Knabe (Epist. 9,33)
Epilog
Bibliographie
Stellenindex
In memoriam Maria Neger
Vorwort
Bei der vorliegenden Monographie handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im November 2018 an der Paris Lodron Universität Salzburg eingereicht wurde. Mein erster Dank ergeht an (die Namen sind natürlich praemissis titulis zu verstehen) Dorothea Weber, die als meine Mentorin an der Universität Salzburg die Entstehung der Arbeit begleitet hat, sowie an die Gutachterin Claudia Klodt und die Gutachter Gernot Michael Müller und Christopher Whitton für wertvolle Hinweise und Anregungen. Die Fertigstellung der Arbeit wurde ermöglicht durch die Förderung eines Projekts mit dem Titel „Gedichteinlagen in antiken Prosabriefen“ durch den Austrian Science Fund (FWF): P 29721-G25. Die Kapitel II.2 („Eingelegte Schriftlichkeit: Briefe über Stimmtäfelchen und Inschriften“) sowie II.3 („Konstruieren einer Dichter-Biographie“) sind diesem Projekt zuzuordnen. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Classica Monacensia danke ich Claudia Wiener und Martin Hose. Den Mitarbeitern des Narr-Francke-Attempto Verlags, insbesondere Herrn Tillmann Bub und Herrn Arkin Keskin, sei für die Betreuung in der Phase der Drucklegung gedankt.
Meine intensivere Beschäftigung mit Plinius dem Jüngeren begann mit einem Proseminar, das ich Sommersemester 2011 an der Ludwig-Maximilians-Universität München abhalten durfte, und führte mich für mehrere Jahre an die Universität Salzburg sowie zuletzt an die University of Cyprus. Vielen Kolleginnen und Kollegen an diesen und anderen Institutionen gilt mein herzlicher Dank für zahlreiche anregende Diskussionen, Gespräche und wertvolle Hinweise: Margot Geelhaar, Gottfried Kreuz, Thomas Schirren, Wolfgang Speyer und Stephanie Schmerbauch vom Fachbereich Altertumswissenschaften in Salzburg sowie Niklas Holzberg, der die Phase meiner Habilitation mit wertvollen Ratschlägen begleitet und mir zweimal die Möglichkeit geboten hat, bei der Petronian Society Munich Section über Plinius vorzutragen. Darüber hinaus bin ich auch Roy Gibson, Spyridon Tzounakas, Thorsten Fögen, Markus Janka und Judith Hindermann sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Thementags „Plinius der Jüngere 2013“ (LMU München, 7.12.2013) und der Konferenz „Pliny’s Epistolary Intertextuality“ (University of Cyprus, 11. ‒12. Mai 2018) zu Dank verpflichtet für den produktiven Austausch über Plinius den Jüngeren und die antike Epistolographie.
Nicht zuletzt gilt mein herzlicher Dank meiner Familie und meinem Lebensgefährten für ihre Geduld und den kontinuierlichen Zuspruch während der Arbeit an dieser Studie. Gewidmet sei dieses Buch meiner 2016 verstorbenen Großmutter Maria Neger, die meine akademische Laufbahn stets mit großem Interesse verfolgt hat.
Nikosia, im Januar 2021 Margot Neger
Häufig verwendete Abkürzungen
CEG | Carmina epigraphica graeca, ed. P. Hansen, Berlin/New York 1983‒1989. |
CIL | Corpus inscriptionum Latinarum, 1863ff. |
HWRh | Historisches Wörterbuch der Rhetorik, ed. G. Ueding, Tübingen 1992‒2011. |
ILS | Inscriptiones Latinae selectae, ed. H. Dessau, Berlin 1892‒1916. |
LSJ | H.G. Liddell/R. Scott/H.S. Jones (Hgg.): Greek-English Lexicon, Oxford 1940 (9. Auflage, mehrmals nachgedruckt). |
OLD | Oxford Latin Dictionary, ed. P.G.W. Glare, Oxford 2012 (4. Auflage). |
ThLL | Thesaurus Linguae Latinae, 1900ff. |
VSD | Vita Suetoniana-Donatiana, recc. G. Brugnoli/F. Stok, Vitae Vergilianae antiquae, Rom 1997, 17‒41. |
Einleitung
Sed obsecro, da mi operam, ut narrem quae volo (Plaut. Truc. 722)
Das Briefkorpus des Jüngeren Plinius erfreut sich in der Forschung mittlerweile eines relativ breiten Interesses verschiedener Disziplinen, die neben philologischen Aspekten auch archäologischen und insbesondere historischen Fragestellungen nachgehen.1 Traditionell hat man dabei die zehn Briefbücher mehr oder weniger als Quellen betrachtet, aus denen sich Informationen über den Charakter des historischen Autors sowie sein soziales und politisches Umfeld gewinnen lassen. Trotz der intensiven Beschäftigung mit den Briefen, die sogar im Lektürekanon der Schule mehr oder weniger fest verankert sind,2 hat man mit einer literarischen Würdigung der Sammlung erst vergleichsweise spät begonnen, wie im Folgenden kurz ausgeführt werden soll. In einem der aktuellesten Forschungsüberblicke zum Jüngeren Plinius teilen Roy Gibson und Christopher Whitton3 in Anlehnung an Greg Woolf4 die verschiedenen Zugangsweisen zu den Episteln grob in drei Gruppen ein: Mit „realist approach“ sind Studien gemeint, die die Briefe als Dokumente für historische Fakten auswerten; der „instrumentalist approach“ wiederum sieht in den Briefen Mittel zum Zweck der Selbstdarstellung des Autors; eine weniger zentrale Rolle spielt die Autor-Instanz hingegen beim „literary/textual approach“, der die literarische Struktur der Briefe in den Vordergrund rückt. Freilich lassen sich die einzelnen Beiträge, wie Gibson und Whitton zu bedenken geben, nicht immer eindeutig einer dieser drei Kategorien zuordnen: „more commonly critics happily mix approaches…in differing quantities as suits their arguments and interests.“ Die vorliegende Studie ist den literarischen und insbesondere narrativen Strategien des Plinius gewidmet und verfolgt daher dem hier skizzierten Schema gemäß in erster Linie einen „literary/textual approach“, wobei auch der „instrumentalist approach“ bzw. mitunter sogar der „realist approach“ nicht ganz außer Acht gelassen werden sollen; schließlich geht es am Ende ja auch um die Frage, wie das literarische Projekt des Plinius in seinem historischen und sozialen Umfeld zu verorten ist.5
Hatte Norden (1898) in seiner Abhandlung zur antiken Kunstprosa noch ein wenig schmeichelhaftes Urteil über Plinius gefällt, indem er ihn als „Durchschnittsmaß“ für die Literatur der ersten Kaiserzeit bewertete und zudem weit abgeschlagen hinter seinem Zeitgenossen Tacitus einordnete,6 wurden erste Ansätze, die Plinius-Briefe als literarische Kunstwerke zu lesen, bereits von Peter (1901) in seiner Studie zum Brief in der römischen Literatur und ausführlicher von Guillemin (1929) in ihrer Plinius und seinem literarischen Umfeld gewidmeten Monographie unternommen. So weist schon Peter darauf hin, dass den Briefen zwar Fassungen zugrunde liegen mögen, die tatsächlich einmal verschickt wurden, die uns vorliegende Sammlung sich jedoch an „das ganze gebildete Lesepublikum“ richte und vom „Streben nach einer glänzenden Außenseite“ geprägt sei.7 Trotz dieser frühen Überlegungen zur Rolle des allgemeinen Lesers ließ eine systematische Untersuchung zu den literarischen Strategien relativ lange auf sich warten. Einen wichtigen Beitrag auf diesem Gebiet lieferte Traub (1955) mit seinem Aufsatz zu den narrativen Strategien des Plinius in Briefen mit historischen Inhalten. Es sollte jedoch noch etwas länger dauern, bis sich literarische Ansätze in der Plinius-Forschung etablierten. So berücksichtigt der bislang einzige moderne Gesamtkommentar, den Sherwin-White (1966) verfasste,8 in erster Linie historische Probleme und geht nur selten auf philologische Fragen ein. Zahlreiche Beiträge zu prosopographischen und sozialhistorischen Aspekten bei Plinius verfasste auch Sherwin-Whites Kollege (oder auch Rivale) in Oxford, Sir Ronald Syme.9 In den 1970er Jahren entstanden dann Studien, die aus den Briefen ein Charakterbild des historischen Plinius zu rekonstruieren versuchten, wie etwa die Monographien Bütlers (1970) und Trisoglios (1972).10 Etwa um dieselbe Zeit publizierte auch Thraede seine Abhandlung zur antiken Brieftopik (1970), die nach wie vor nicht nur für die Erforschung der Pliniusbriefe grundlegend ist.11 Der stilistischen Theorie und Praxis bei Plinius widmete Gamberini (1983) eine umfassende Arbeit.12 Sowohl sozialhistorische, geistesgeschichtliche als auch literarische Aspekte behandelt Lefèvre in seinen zwischen 1977 und 1996 entstandenen Studien zu mehreren Plinius-Briefen, die später in seinem Band Vom Römertum zum Ästhetizismus (2009) nochmals abgedruckt worden sind.13 Wichtige Überlegungen zu Chronologie und Anordnung der Plinius-Briefe sowie zu den intratextuellen Bezügen zwischen den Episteln stellt Murgia (1985) an. Einen „literary turn“ im eigentlichen Sinn erfuhr die Plinius-Forschung dann Ende der 1990er Jahre, als Ludolph in seiner Monographie (1997) die literarischen Strategien der Selbstdarstellung des Plinius anhand einer Analyse der sogenannten „Paradebriefe“ 1,1‒1,8 aufarbeitete. Die hier angestellte Beobachtung, dass sich Plinius bei der Komposition seiner Briefbücher stark an der Praxis von Dichtern (man vergleiche etwa Horazens „Paradeoden“) orientierte, löste einen richtigen „Boom“ in der literaturwissenschaftlichen Erforschung der Pliniusbriefe aus, und man hat sich in diesem Rahmen verstärkt bemüht, Aspekte wie Buchkomposition, Intertextualität, self-fashioning und Kommunikationspragmatik zu beleuchten. Zu den wichtigsten seither publizierten Monographien und Sammelbänden gehören in chronologischer Reihenfolge etwa Hoffer (1999), Beutel (2000), Henderson (2002a), Castagna/Lefèvre (2003), Gibson/Morello (2003), Wolff (2003), Pausch (2004), 51‒146, Méthy (2007), Marchesi (2008), Lefèvre (2009), Gibson/Morello (2012), Winsbury (2014), Devillers (2015), Marchesi (2015), Schwerdtner (2015), Gibson/Whitton (2016), mehrere der bei König/Whitton (2018) versammelten Beiträge, ein längerer Abschnitt bei Keeline (2018: 277‒335), Whitton (2019) sowie Gibson (2020). Auch die Gender-Studies haben Plinius mittlerweile für sich entdeckt, wie die Monographien Carlons (2009) und Sheltons (2013) zur Darstellung der Frauen in den Briefen beweisen; dem Sozialprofil des Plinius als Senator und Aristokrat ist die althistorische Studie Pages (2015) gewidmet, während Germerodt (2015) das Konzept der amicitia in den Briefen untersucht. Literarische und sozialhistorische Ansätze kombiniert Häger (2019) in seiner Analyse des von Plinius entworfenen Bildes vom idealen Ehemann. Angesichts der in den vergangenen beiden Dekaden stetig anwachsenden Bibliographie ist es erstaunlich, dass die philologische Kommentierung der Briefbücher erst vor relativ kurzer Zeit begonnen hat – so wurde bislang nur der Kommentar Whittons (2013a) zu Buch 2 publiziert.14
Ein Blick auf die jüngeren Publikationen zu Plinius zeigt, dass insbesondere die Themen Selbstdarstellung, Buchkomposition, Intertextualität und Kommunikationspragmatik das Interesse der Forscher auf sich gezogen haben.15 Die vorliegende Studie möchte nun einen Aspekt untersuchen, der bislang zwar in Ansätzen, jedoch noch nicht systematisch erforscht worden ist: Pliniusʼ Rolle als Erzähler und seine narrativen Strategien im Briefkorpus. Die Analyse richtet sich hierbei einerseits auf einzelne Briefe, in denen entweder von Handlungen und Ereignissen erzählt, Personen charakterisiert oder Objekte bzw. Orte beschrieben werden, wobei sich der Leser hier mit einer breiten Palette narrativer Techniken konfrontiert sieht: Anleihen an Historiographie, Biographie, Redekunst, Epos, Drama, Exempla-Literatur, Paradoxographie und anderen Gattungen gehören zum literarischen Repertoire des Plinius, der unterschiedliche Formen von Narrationen in einen epistolaren Rahmen einbettet und uns mal als distanzierter Erzähler, dann wieder als stärker involvierte Sprech-Instanz oder als handelnde Figur begegnet. Der Brief scheint für Plinius eine Art „Super-Genos“ zu sein, das mit den Konventionen anderer Gattungen – neben erzählenden Genres sei etwa auch die Lyrik und Epigrammatik genannt – spielt und experimentiert, wie in den späteren Kapiteln noch deutlicher herausgearbeitet wird.16 Abgesehen von der Erzähltechnik in einzelnen Briefen sollen auch Briefzyklen in den Blick genommen werden, deren Einzelteile eine narrative Linie bilden, sowie schließlich das gesamte Briefkorpus, das sich als eine epistolare Autobiographie lesen lässt17 und in dieser Form wohl als Gegenentwurf bzw. Komplementär-Projekt zu zeitgenössischen narrativen Texten wie Tacitusʼ Geschichtswerken oder Plutarchs und Suetons Biographien verstanden werden kann. Es soll also mit anderen Worten der Versuch unternommen werden, das Briefkorpus der Bücher 1‒9 als narrativen Makrotext zu lesen, der freilich nach ganz anderen Prinzipien strukturiert ist, als die Werke der genannten Zeitgenossen, und nicht streng chronologisch erfolgt – davon grenzt sich Plinius ja auch in Epist. 1,1Plinius der JüngereEpist. 1.1 programmatisch ab.18
Dass Plinius seine Briefbücher sorgfältig komponiert hat und sich dabei literarischer Strategien bediente, die sich auch bei den Autoren poetischer libelli beobachten lassen, darf in der modernen Forschung mittlerweile als communis opinio gelten.19 Mit mehr Schwierigkeiten ist die Frage nach dem genauen Publikationsdatum der uns überlieferten Briefbücher verbunden: Während Mommsen von einer sukzessiven Publikation der Bücher 1‒9 in der Zeit von 96/97 n. Chr. bis 109 n. Chr. ausging und annahm, dass Plinius jedes Buch kurz nach dem spätesten darin enthaltenen Brief veröffentlichte,20 setzen andere Gelehrte die Veröffentlichung v.a. der frühen Bücher etwas später an, wobei Murgia (1985: 201) sogar davon ausgeht, dass die Bücher 1‒4 erst nach 106 n. Chr. publiziert wurden und das uns vorliegende Briefkorpus der Bücher 1‒9 eine literarische Einheit bildet:21
„In fact the evidence indicates that Books 1‒9 are meant to be considered as a unit…For Pliny, we possess nine books of private letters with a single dedicatory epistle. And each book is dependent on others for full understanding…But for the dates of original publication, and for the original form and content of the books, we can have no secure evidence.”
Vom Datum der Publikation einzelner Bücher bzw. des Gesamtkorpus zu unterscheiden ist der fortschreitende chronologische Rahmen, den die Bücher durch die dramatischen Daten ihre Briefe suggerieren. Murgia stellt hier die Überlegung an, dass dieser chronologische Rahmen nicht unbedingt aus der Praxis des Plinius resultieren muss, jedes Buch kurz nach dem spätesten darin enthaltenen Brief zu publizieren, sondern vom Epistolographen aus literarischen Gründen bewusst gewählt worden sein könnte.22
Das narrative Potenzial der Briefsammlung und die Erzählstrategien des Plinius wurde bislang nur in Ansätzen untersucht:23 Eine narratologische Analyse einzelner Briefe findet sich etwa in dem oben schon erwähnten Aufsatz Traubs (1955), der das Verhältnis des Plinius zur Historiographie und insbesondere seine Erzähltechnik in den Briefen 3,16, 4,11, 6,16 und 7,33 untersucht. Moderne Erzähltheorien zieht Eco (1990) im Rahmen seiner Interpretation des Vesuv-Briefs 6,16 heran, wo er den discourse bzw. plot und die fabula einander gegenüberstellt.24 Kroon (2002) wiederum diskutiert narrative Modi (diegetisch vs. mimetisch) am Beispiel des „Gespenster-Briefs“ 7,27. Den narrativen Strategien der Selbstdarstellung widmet Illias-Zarifopol (1994) eine Monographie, in der zwischen „historical narratives“ und „personal narratives“ geschieden wird, wobei der ersten Kategorie die Episteln 4,11, 3,16 und 7,19 und der zweiten 1,5, 3,1, 7,33 und 9,13 zugeordnet sind. Illias-Zarifopol bietet sehr lesenswerte Interpretationen der einzelnen Briefe, berücksichtigt aber kaum den Gesamtkontext des Briefkorpus und die Frage, inwieweit die einzelnen Briefe als Segmente einer größeren Narration gelesen werden können. Zuletzt haben Gibson/Morello (2012) wichtige Beobachtungen zur Organisation der Briefsammlung angestellt, deren autobiographisches Potenzial sie hervorheben:25 Zwar sind die Briefe in den einzelnen Büchern nicht chronologisch angeordnet, doch das Briefkorpus insgesamt vermittelt den Eindruck einer zeitlichen Progression von der Phase nach Domitians Tod (97/98 n. Chr.) über Pliniusʼ Konsulat (100 n. Chr.) und Augurat (103 n. Chr.) bis hin zur Statthalterschaft in Bithynia-Pontus (ca. 109/10 n. Chr.). Somit lassen sich in den einzelnen Büchern „Zeitpools“ erkennen, die der Leser sozusagen als die jeweilige Gegenwart des Schreibens wahrnimmt; diesen „Pools“ können wiederum Briefe mit einem entsprechenden dramatischen Datum zugeordnet werden, die allerdings (gleichsam als narrative Analepsen) in ein späteres Buch integriert sind.26 Ein Beispiel ist etwa die um 107/8 n. Chr. verfasste Epistel 9,13Plinius der JüngereEpist. 9.13, die von den Hintergründen zur Rede De Helvidi ultione berichtet und damit ein Ereignis der Zeit um 97/98 n. Chr. thematisiert,27 d.h. inhaltlich eigentlich in den „Zeitpool“ des ersten Buches passt. Der Rezipient kann also nach der Lektüre mehrerer Briefbücher narrative Lücken füllen, wobei Plinius diesen rezeptionsästhetischen Prozess der Rekonstruktion seiner Autobiographie durch den Leser teilweise bewusst zu steuern scheint. Eines der Ziele der vorliegenden Arbeit ist es, diese Strategien der Leserlenkung näher zu beleuchten. Dass die Analyse einer Briefsammlung unter narratologischen Gesichtspunkten fruchtbringend ist, zeigt eine Studie Hanaghans (2019) zum spätantiken Epistolographen Sidonius Apollinaris, der in der praefatio zu seinen Briefbüchern Plinius explizit als sein Vorbild erwähnt (Epist. 1,1,1Sidonius ApollinarisEpist. 1.1.1) und auch sonst häufig auf die Briefe seines Vorgängers anspielt.28 Hanaghan untersucht etwa, wie Sidonius seine persona als Briefschreiber entwirft, die Zeit in den Briefen konstruiert, die in der Sammlung auftretenden Figuren charakterisiert und in diesem Zusammenhang auch ihre Stimmen bzw. Dialoge kontrolliert sowie schließlich das Gesamtkorpus arrangiert. In der vorliegenden, von Hanaghans Monographie unabhängig enstandenen Arbeit werden ähnliche Aspekte beleuchtet.
Im Folgenden soll zunächst in Teil I die theoretische Grundlage für die Fragestellung dieser Studie erarbeitet werden: Das Kapitel I.1 diskutiert das narrative Potenzial von Briefen und Briefsammlungen anhand einer Analyse von metaliterarischen Reflexionen antiker Briefschreiber, insbesondere Plinius selbst. Inwiefern lässt sich bei Plinius ein Bewusstsein für die erzähltechnischen Möglichkeiten als Epistolograph sowie das Verhältnis der Gattung zu anderen narrativen Genres erkennen? In Kapitel I.2 schließen sich dann Überlegungen darüber an, inwieweit mit Hilfe von in der modernen Erzähltheorie entwickelten Kategorien die Narrativität der Pliniusbriefe erfasst werden kann. Der Fokus richtet sich hier auf die narratologischen Kategorien der Stimme (I.2.1), Zeit (I.2.2), Raumkonstruktion (I.2.3) und der im Briefkorpus auftretenden Figuren (I.2.4). Es wird in diesem Rahmen gezeigt, dass narratologische Ansätze für die Analyse einer Briefsammlung durchaus ertragreich sind, jedoch den Konventionen der Gattung entsprechend adaptiert werden müssen. Auf die Entwicklung theoretischer Grundlagen in Teil I folgt mit Teil II eine Untersuchung ausgewählter Briefe und Briefgruppen, an denen sich die vielfältigen narrativen Verfahren des jüngeren Plinius besonders gut veranschaulichen lassen und in denen wir zentralen Themenfeldern der Sammlung begegnen. Seine Fähigkeiten als Erzähler demonstriert Plinius etwa in den zahlreichen Briefen über seine Auftritte als Redner und Anwalt im Senat oder Zentumviralgericht, wo er entweder rückblickend oder im Rahmen von simultanen Narrationen, teilweise über mehrere Bücher hinweg, verschiedene Verhandlungen unter Domitian, Nerva und Trajan schildert. Diese vergleichsweise große Gruppe von Briefen wurde bisher selten in ihrer Gesamtheit analysiert, und daher widmet sich Kap. II.1. den Narrationen über rhetorische Performanz am Schauplatz Gericht. Plinius als öffentliche Figur und Mitglied der Senatsaristokratie steht auch im Zentrum des Kapitels II.2, das sich mit drei Briefpaaren befasst, die kleine „Briefromane“ bilden und von einer geheimen Abstimmung im Senat durch Stimmtäfelchen sowie der Lektüre und Diskussion von Grabinschriften handeln. Als Gegenstück zu den in Kap. II.1 untersuchten Narrationen über Plinius als Redner und Advokat lässt sich der Zyklus jener Briefe lesen, in dem sich Plinius als Dichter präsentiert und seine Biographie als Poet konstruiert, wie in Kap. II.3 herausgearbeitet wird. Neben seiner Rolle als Redner, Anwalt und Freizeitdichter begegnet uns Plinius schließlich in mehreren Briefen als Amateurwissenschaftler und Paradoxograph, wenn er verschiedene mirabilia wie Naturphänomene, Visionen oder Begegnungen mit Geistern schildert – diesem Themenfeld ist Kap. II.4 gewidmet.29