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I Die Narrativität der Briefe
1 Narrare in der antiken Epistolographie – epistolary narratives
In seiner Studie zur antiken Brieftopik hat Thraede (1970) herausgearbeitet,1 dass Autoren wie Cicero mindestens zwei Funktionen privater Korrespondenz unterscheiden: Neben der verbreiteten Vorstellung, dass Briefe ein Gespräch ersetzen sollen2 und demnach dem loqui bzw. iocari zwischen den räumlich getrennten Partnern dienen, spielt natürlich auch das Übermitteln von Nachrichten bzw. Erzählen von Ereignissen (narrare) eine bedeutende Rolle.3 So beklagt Cicero in einem Brief an Atticus etwa (5,5,1)CiceroAtt. 5.5.1, dass er keinen Stoff zum Schreiben habe, da er weder Aufträge für seinen Adressaten habe (nec quod mandem habeo), noch zum Scherzen aufgelegt sei (nec iocandi locus est), noch irgendwelche Neuigkeiten berichten könne (nec, quod narrem – novi enim nihil est).4 In einem Brief an Curio wiederum (Fam. 2,4,1)CiceroFam. 2.4.1 stellt Cicero fest, dass es viele Arten von Briefen gebe (epistularum genera multa esse), und insbesondere eine Notwendigkeit die Epistolographie sozusagen begründet habe, nämlich das Benachrichtigen von Abwesenden (unum illud certissimum, cuius causa inventa res ipsa est, ut certiores faceremus absentis).5 Abgesehen von derartigen theoretischen Reflexionen ist auch ein Blick auf Ciceros narrative Praxis erhellend: Hutchinson (1998) widmet in seiner Studie zu Ciceros Briefen ein Kapitel dem Thema „Narrative“6 und weist darauf hin, dass Ciceros Korrespondenz sowohl „many arresting examples“ als auch „extremely different kinds of narrative“7 enthält, wie anschließend im Rahmen eines close readings ausgewählter Textbeispiele8 illustriert wird. Die von Hutchinson analysierten Briefe zeichnen sich allesamt durch eine große stilistische Bandbreite sowie bewusste narrative Gestaltung aus, und am Ende lautet das Fazit: „In all the letters the narrators assume stances, and put on costumes.“9 Die Art und Weise der Narration ist demnach eng mit dem kommunikativen Rahmen verbunden: Je nach Adressat und Thema nehmen Cicero und seine Briefpartner unterschiedliche Erzählhaltungen ein, um ein bestimmtes kommunikatives Ziel zu erreichen.10 Anders als Hutchinson, der sich für Ciceros literarische Strategien interessiert, geht Drecoll (2006) der Frage nach, inwieweit Privatbriefe in der Antike als Nachrichtenmedien aufgefasst wurden und insbesondere für die Übermittlung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Neuigkeiten dienten. In seiner Monographie untersucht er die betreffenden Texte primär auf ihren Inhalt hin als historische Quellen und beanstandet an Studien wie derjenigen Hutchinsons, dass sie den Aspekt des Nachrichtentransportes zu wenig berücksichtigen.11
Was die Privatkorrespondenz antiker Autoren betrifft, gibt es noch vergleichsweise wenige Studien, in denen narrative Strategien, sei es in einzelnen Briefen, Zyklen oder Briefbüchern, untersucht werden. Analysen der philosophischen Briefe Senecas an Lucilius richten ihr Interesse mittlerweile verstärkt auf die Anordnung der Briefe und Komposition der Briefbücher, wobei sich eine serielle Lektüre als besonders fruchtbar erweist. Wilson (2001) bringt hier das Konzept der „serial epistolography“ ins Spiel, das er in Bezug setzt zum Begriff der Erzählung („narrative“):
„Individual Senecan epistles are not narrative in form. Nor does the collection, even when read sequentially, construct a narrative in the usual sense of the word, since there is no narrator, little physical action, and it is punctuated by continual interruptions of continuity. Yet reading the Epistles is analogous in some respects to what one experiences in reading an epistolary novel…The underlying narrative scheme is one of moral and intellectual progress. Seneca’s self-description as a proficiens rather than a sapiens…implies movement, change, development.“12
Wenngleich einzelne Briefe Senecas – im Unterschied zu denjenigen des Plinius – kaum narrative Elemente beinhalten und sich stärker durch philosophische Reflexion als erzählerische Darstellung auszeichnen, bilden sie in ihrer Gesamtheit dennoch die Entwicklung eines Charakters nach, die der Leser bei sequenzieller Lektüre nachvollziehen kann. Ähnlich wie die Briefe Ciceros und Senecas sind auch die Versepisteln des Horaz und die Exilbriefe Ovids noch wenig aus narratologischer Perspektive untersucht worden.13 Im Gegensatz dazu haben Briefsammlungen, die deutlicher als fiktive Korrespondenz markiert sind, in dieser Hinsicht mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Insbesondere zu nennen sind hier Ovids Heroides, in denen Themen und Motive, die v.a. in der Epik und im Drama beheimatet sind, kunstvoll in einem epistolaren Rahmen variiert werden.14 Auch die griechische fiktionale und pseudonyme Epistolographie, die durch Bentleys Nachweis der Unechtheit zahlreicher Briefe15 lange Zeit von der Forschung vernachlässigt wurde, erfreut sich seit einiger Zeit wieder eines gesteigerten Interesses. Spätestens durch den von Holzberg herausgegebenen Band zum griechischen Briefroman (1994a) wurde eine intensivere Beschäftigung mit diesen Texten angeregt, wie etwa in dem von Hodkinson, Rosenmeyer und Bracke edierten Sammelband mit dem Titel Epistolary Narratives in Ancient Greek Literature (2013), der verschiedene Beiträge zu in längere Erzählungen eingelegten Briefen, fiktionalen bzw. pseudonymen Briefen sowie zum Briefroman vereint. Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht unerheblich, dass viele dieser griechischen Briefkorpora, die sich als Werke berühmter Persönlichkeiten ausgeben, in der frühen Kaiserzeit (1./2. Jh. n. Chr.) und damit etwa gleichzeitig mit den Privatbriefen des Jüngeren Plinius entstanden sein dürften bzw. erweitert wurden.16 Offenbar gab es in dieser Epoche ein verstärktes Interesse an der Konstruktion von personae und Charakteren insbesondere im epistolaren Medium. Wenngleich die Plinius-Briefe natürlich nicht zu dieser Form fiktiver Korrespondenz gehören, dürfte es nicht abwegig sein, in den Strategien der Selbstdarstellung des Epistolographen aus Comum Berührungspunkte mit Ethopoiie und Pseudepigraphie in zeitgenössischen Briefsammlungen zu suchen. So spielen sowohl in den pseudepigraphen bzw. fiktiven Briefen als auch bei Plinius (auto-)biographische Elemente eine wichtige Rolle. Darüber hinaus entwickelt sich in der griechischen Epistolographie der Kaiserzeit auch eine Form, die Hodkinson und Rosenmeyer als „self-contained short stories“ bzw. „prose miniature“ bezeichnen und mit den literarischen Trends der Zweiten Sophistik in Verbindung bringen.17 Derartige epistolare Kurzgeschichten und Novellen18 finden wir auch bei Plinius an zahlreichen Stellen, wie etwa in den Vesuv-Briefen (6,16 und 6,20), dem Gespenster- und Delphin-Brief (7,27; 9,33), den Erzählungen über Arria (3,16), die Vestalin Cornelia (4,11), spektakuläre Selbstmorde (1,12; 6,24) oder auch einige Prozesse (1,5; 9,13) und an vielen anderen Stellen. Auch weniger handlungsintensive und stärker ekphrastische Briefe wie etwa die Villenbeschreibungen (2,17; 5,6) oder Schilderungen von Naturphänomenen (4,30; 8,8; 8,20) lassen sich hier anführen. Alle diese Formen bieten dem Briefschreiber die Möglichkeit, sein erzähltechnisches Können zu entfalten.
Was das narrative Potenzial der Epistolographie betrifft, bilden nicht nur einzelne Briefe einen geeigneten Gegenstand der Analyse, sondern auch ganze Briefsammlungen und deren Anordnungsprinzipien. So belegt bereits eine Bemerkung des Cornelius Nepos in seiner Atticus-Vita, dass die ihm zugänglichen Briefe Ciceros an Atticus wie ein zusammenhängender Abriss von Zeitgeschichte gelesen werden können (Att. 16,3)Nepos, CorneliusAtt. 16.3:
ei rei sunt indicio praeter eos libros, in quibus de eo facit mentionem, qui in vulgus sunt editi, undecim volumina epistularum ab consulatu eius usque ad extremum tempus ad Atticum missarum; quae qui legat, non multum desideret historiam contextam eorum temporum.
Für die enge Freundschaft zwischen Atticus und Cicero führt Nepos als Belege sowohl jene publizierten Bücher Ciceros an, in denen Atticus erwähnt wird,19 als auch ein Korpus von elf Briefbüchern,20 deren Inhalt sich als eine historia contexta des betreffenden Zeitraums von Ciceros Konsulat bis zu seinem Lebensende lesen lasse. Mit dem Begriff indicium ist der Aspekt der Authentizität von Briefen, die dem Biographen als Dokumente dienen können, angedeutet. Neben der Funktion der Freundschaftsbildung bzw. -pflege verweist Nepos in der zitierten Passage auch auf das narrative Potenzial der Briefsammlung.21 Wie weiter unten genauer ausgeführt werden soll, rekurriert Plinius in seiner ersten Epistel (1,1)Plinius der JüngereEpist. 1.1 auf diesen Abschnitt der Atticus-Vita, wenn er die Organisationsprinzipien seiner eigenen Briefsammlung darlegt.22 Nach Nepos werden Ciceros Briefe an Atticus dann wieder bei Seneca erwähnt, der sich in Epist. 118Seneca der JüngereEpist. 118.1‒2 sowohl von Ciceros Praxis, mit seinen Adressaten nur um des loqui/iocari willen zu kommunizieren, als auch von dessen Berichten über Tagespolitik und Zeitgeschichte abgrenzt (1‒2):23
nec faciam, quod Cicero, vir disertissimus, facere Atticum iubet, ut etiam ‘si rem nullam habebit, quod in buccam venerit’ scribat. numquam potest deesse, quod scribam, ut omnia illa, quae Ciceronis implent epistulas, transeam: quis candidatus laboret; quis alienis, quis suis viribus pugnet; quis consulatum fiducia Caesaris, quis Pompei, quis arcae petat; quam durus sit fenerator Caecilius, a quo minoris centesimis propinqui nummum movere non possint.
Seneca zitiert hier zunächst aus Cic. Att. 1,12,4CiceroAtt. 1.12.4,24 um sich von derartigen Formen leeren Wortgeplänkels in den Briefen zu distanzieren, und führt andererseits auch Beispiele für Nachrichtenaustausch und politischen Klatsch an, worauf er in seinem epistolaren Projekt ebenfalls verzichten will.25 Ähnlich wie Nepos und Seneca weist auch Plinius auf den politischen Gehalt der Cicero-Briefe hin, wenn er konstatiert, dass sein Vorgänger im Unterschied zu ihm selbst nicht nur über ein copiosissimum ingenium verfügt habe, sondern auch auf einen reichhaltigen Stoff für seine Briefe zurückgreifen konnte (9,2,2Plinius der JüngereEpist. 9.2.2: par ingenio qua varietas rerum qua magnitudo largissime suppetebat).26
Thraede bemerkt in seiner Studie zur antiken Brieftopik, dass „die Ausbeute an briefspezifischen Motiven bei Plinius doch bemerkenswert dürftig“ sei.27 Diese Beobachtung ist m.E. jedoch nicht ganz zutreffend: Zwar bietet uns Plinius freilich keine kohärente Brieftheorie, doch zahlreiche explizite und implizite Äußerungen des Epistolographen über sein Genre liefern wertvolle Hinweise darauf, wie Plinius die Funktionen, Möglichkeiten und Grenzen seiner Gattung einschätzte.28 Diese immanente Gattungstheorie29 sei hier deshalb insbesondere im Hinblick auf das narrative Potenzial von Briefen beleuchtet: Die Idee, dass der Brief als Ersatz für ein Gespräch sowie das persönliche Zusammensein der Briefpartner dient, wird auch bei Plinius häufig thematisiert.30 Mit diesem in der epistolographischen Theorie und Praxis fest verankerten Topos spielt Plinius sogar in einem Brief, den er an einen gewissen Praesens richtet und in dem er den Adressaten dazu auffordert, endlich von seinen Landgütern in Lukanien und Kampanien nach Rom zurückzukehren (7,3,1-2Plinius der JüngereEpist. 7.3.1: iusta causa longioris absentiae, non perpetuae tamen. Quin ergo aliquando in urbem redis?). Bei Praesens dürfte es sich um eine historische Figur handeln,31 deren Namen sich aber wunderbar für ein epistolographisches Wortspiel anbietet: Praesens soll sich durch seine lange Abwesenheit nicht in einen Absens verwandeln. Über die verschiedenen Möglichkeiten, einen absens in einen praesens zu transformieren, äußert sich Plinius etwa im Zusammenhang mit der besonders anschaulichen Schilderung von Objekten oder Ereignissen, wie etwa im Falle der Villen-Ekphrasis in Epist. 5,6Plinius der JüngereEpist. 5.6.41 (41: nisi proposuissem omnes angulos tecum epistula circumire)32 oder der Erzählung über den Prozess der Attia Viriola (6,33,7Plinius der JüngereEpist. 6.33.7: interesse iudicio), wo die Adressaten bei der Lektüre gleichsam in die Rolle von Betrachtern bzw. Zuschauern schlüpfen.33 Briefe haben neben der gedanklichen Zusammenkunft mit dem Adressaten die Funktion, sowohl über Taten und Ereignisse zu berichten als auch über weitere Pläne zu informieren, wie Plinius etwa in Epist. 1,5,17Plinius der JüngereEpist. 1.5.17 betont (haec tibi scripsi, quia aequum erat te pro amore mutuo non solum omnia mea facta dictaque, verum etiam consilia cognoscere). In Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9.1 kündigt Plinius einen ausführlichen Bericht über den Prozess gegen Caecilius Classicus an (1: possum iam perscribere tibi, quantum…laboris exhauserim), und einem ähnlichen Zweck dienen auch die Briefe 5,13Plinius der JüngereEpist. 5.13.1 (1: …ego promisi…scripturum me tibi, quem habuisset eventum) und 9,13Plinius der JüngereEpist. 9.13.1 (1: …postulas, ut perscribam tibi…).34
Mehrmals weist Plinius zudem darauf hin, dass seine Briefe – häufig handelt es sich um solche mit narrativem Charakter – den Adressaten zur Nachahmung anspornen oder belehren sollen, wie etwa in 3,5Plinius der JüngereEpist. 3.5.20 über Bibliographie und Tagesroutine des Älteren Plinius (20: extendi epistulam…quae…ad simile aliquid elaborandum possunt aemulationis stimulis excitare), in 4,24Plinius der JüngereEpist. 4.24.7 über Pliniusʼ Karriere vor dem Zentumviralgericht (7: isdemque te vel praeceptis vel exemplis monere), in 6,22Plinius der JüngereEpist. 6.22.7 über den Rechtsstreit des Provinzstatthalters Bruttianus (7: quod tibi scripsi, ut te sortitum provinciam praemonerem), in 7,1Plinius der JüngereEpist. 7.1.7 über das Verhalten während einer Krankheit (7: quae tibi scripsi…ut te non sine exemplo monerem), in 8,18Plinius der JüngereEpist. 8.18.12 über das Testament des Domitius Tullus (12: ad rationem vitae exemplis erudimur) und in 9,12Plinius der JüngereEpist. 9.12.2 über einen strengen Vater (2: haec tibi admonitus immodicae severitatis exemplo pro amore mutuo scripsi…).35
Sofern der Adressat selbst literarisch tätig ist, können Briefe zudem den Stoff für historiographische oder poetische Darstellungen liefern, wie uns etwa in Epist. 6,16, 6,20Plinius der JüngereEpist. 6.16/20 und 7,33Plinius der JüngereEpist. 7.33 an Tacitus oder in 9,33Plinius der JüngereEpist. 9.33 an den Dichter Caninius Rufus suggeriert wird. Eine nähere Analyse der betreffenden Texte wird jedoch verdeutlichen, dass diese Charakterisierung von Briefen als „Hilfsmaterial“ für literarisch anspruchsvollere Werke lediglich eine Variante des rhetorischen Bescheidenheitstopos darstellt und diese Episteln tatsächlich den Anspruch erheben, in Wettstreit mit den jeweiligen Gattungen zu treten. Plinius weist zudem mehrmals darauf hin, dass seine Briefe dazu dienen, Zusatzinformationen zu seinen eigenen literarischen Aktivitäten als Redner oder Dichter zu liefern und die Genese, Verbreitung und den Anklang der betreffenden Werke beim Publikum zu schildern; auch in diesem Rahmen reflektiert Plinius über das Verhältnis der Epistolographie zu den betreffenden Genres.36
Aufschlussreich sind auch Pliniusʼ Bemerkungen zum Themenspektrum, das sich in Briefen behandeln lässt: Es wurde bereits mehrfach beobachtet, dass die Plinius-Briefe im Gegensatz zu denjenigen Ciceros zumeist um einen einzigen Gegenstand kreisen,37 ein Merkmal, über das sich Plinius sogar selbst in Epist. 2,1Plinius der JüngereEpist. 2.1.12 über Verginius Rufus äußert,38 wo es am Ende heißt (12): volui tibi multa alia scribere, sed totus animus in hac una contemplatione defixus est. Ereignisse wie das Staatsbegräbnis des Verginius Rufus gehören überdies zu den res urbanae, die zusammen mit res peregrinae auch an anderen Stellen den Inhalt der Korrespondenz mit abwesenden Adressaten bilden; so etwa in 2,11Plinius der JüngereEpist. 2.11.25 über den Prozess gegen Marius Priscus (25: habes res urbanas; invicem rusticas scribe!)39 oder in 4,11Plinius der JüngereEpist. 4.11.15 über den Inzestskandal um die Vestalin Cornelia und seine Folgen (15: qui non solum res urbanas, verum etiam peregrinas tam sedulo scribo, ut altius repetam); auf seinem tuskischen Landgut wünscht sich Plinius von seinem Adressaten wiederum Berichte über die Ereignisse in der Stadt (9,15,3Plinius der JüngereEpist. 9.15.3: nobisque sic rusticis urbana acta perscribe). Dass Briefe nicht nur Privates, sondern auch den Staat Betreffendes thematisieren sollen, fordert Plinius in 3,20Plinius der JüngereEpist. 3.20.10‒11 über kürzlich erfolgte Beamtenwahlen im Senat, wo er auch den Aspekt der Neuigkeit betont (10‒11: haec tibi scripsi, primum ut aliquid novi scriberem, deinde ut non numquam de re publica loquerer…habeant nostrae quoque litterae aliquid…nec privatis rebus inclusum).40 Neuigkeiten bzw. Stadtgespräche soll auch der oben schon erwähnte Brief 8,18Plinius der JüngereEpist. 8.18.11 über das Testament des Domitius Tullus liefern (11: habes omnes fabulas urbis), und als eine Art Klatschgeschichte gibt sich auch der Brief 4,7Plinius der JüngereEpist. 4.7.6 über Regulus’ Schrift auf seinen verstorbenen Sohn (6: habesne, quo tali epistulae gratiam referas?). Dass die Darstellung grausamer Ereignisse die Ressourcen eines Briefes übersteigt, deutet Plinius in 3,14Plinius der JüngereEpist. 3.14.1 über die Ermordung des Larcius Macedo an (1: Rem atrocem nec tantum epistula dignam…).41 Umgekehrt sei das in Epist. 6,20 geschilderte Schicksal des Plinius und seiner Mutter während des Vesuv-Ausbruchs im Gegensatz zum Tod des älteren Plinius (6,16) einer geschichtlichen Darstellung durch Tacitus nicht würdig (6,16,21Plinius der JüngereEpist. 6.16.21‒22: nihil ad historiam; 6,20,20Plinius der JüngereEpist. 6.20.20: nequaquam historia digna), ja verdiene möglicherweise nicht einmal einen Brief (6,20,20: digna ne epistula quidem). Auch richten sich Historiographie und Brief angeblich an verschiedene Zielgruppen, wie der Epistolograph Tacitus gegenüber konstatiert (6,16,22): aliud est enim epistulam, aliud historiam, aliud amico, aliud omnibus scribere. Die Tatsache, dass Plinius seine Briefe selbst publizierte und somit ebenfalls einer allgemeinen Leserschaft (omnibus) zugänglich machte, spricht allerdings dafür, dass er seine Sammlung als eine Art Konkurrenzunternehmen zu einer Historie auffasste – ungeachtet der programmatischen Abgrenzung von dieser Gattung in Epist. 1,1Plinius der JüngereEpist. 1.1.1 (1: neque enim historiam componebam).42
Literarisch anspruchsvolle Briefe bedürfen überdies eines gewissen Maßes an otium, wie Epist. 1,10Plinius der JüngereEpist. 1.10.9 impliziert, wo Plinius die zahlreichen und lästigen Verpflichtungen, denen er nachkommen muss, aufzählt (9): sedeo pro tribunali, subnoto libellos, conficio tabulas, scribo plurimas, sed inlitteratissimas litteras.43 Keineswegs unliterarisch sind hingegen die Briefe verschiedener Zeitgenossen, deren stilistische Qualität von Plinius gelobt wird: Die Briefe der Gattin des Pompeius Saturninus,44 die aber auch von diesem selbst verfasst sein könnten, lassen sich wie Plautus oder Terenz in Prosa lesen (1,16,6)Plinius der JüngereEpist. 1.16.6. Voconius Romanus wiederum, der zu den häufigsten Adressaten des Plinius zählt,45 schreibt so elegante Briefe, dass man die Musen selbst Latein sprechen zu hören meint (2,13,7Plinius der JüngereEpist. 2.13.7: ut Musas ipsas Latine loqui credas); an anderer Stelle beschreibt Plinius die Briefe des Romanus als ausgesprochen geschmackvoll und liebevoll (9,28,1Plinius der JüngereEpist. 9.28: elegantissimas amantissimas)46 und gibt den Inhalt dreier Briefe wieder, die er alle gleichzeitig von seinem Freund erhalten hat. Unter anderem habe Romanus geschrieben, dass er sich beim Diktieren und Schreiben Plinius vor Augen stelle (9,28,3: altera epistula nuntias multa te nunc dictare, nunc scribere, quibus nos tibi repraesentes). Abgesehen von den drei bereits zugestellten Briefen habe Romanus noch einen weiteren geschickt, der noch sorgfältiger verfasst wurde (9,28,5: curiosius scriptas), jedoch noch nicht bei Plinius ankam (9,28,5: non accepi). Das ausführliche Lob der Briefe des Romanus fällt nicht zuletzt auf Plinius selbst zurück, den sich Romanus angeblich zum Vorbild nimmt, wie er es in seinem Brief zugegeben haben soll. Form und Inhalt widersprechen sich in einem Brief, den Plinius von Iulius Ferox47 erhalten hat: Dieser behauptet zwar, sich nicht auf literarische Aktivitäten zu konzentrieren, wird aber allein durch die stilistische Qualität desselben Schreibens widerlegt (7,13,2Plinius der JüngereEpist. 7.13.2: est tam polita, quam nisi a studente non potest scribi).48 Seinem jüngeren Zeitgenossen FuscusPlinius der JüngereEpist. 7.9 Salinator49 gibt Plinius auf dessen Wunsch hin Anweisungen für die studia im secessus und listet eine Reihe literarischer Gattungen auf, von denen man als Redner profitieren kann. Dazu gehört auch die Komposition von historiographischen Texten und Briefen (7,9,8):50
Volo interdum aliquem ex historia locum adprendas, volo epistulam diligentius scribas. nam saepe in oratione quoque non historica modo, sed prope poetica descriptionum necessitas incidit, et pressus sermo purusque ex epistulis petitur.
EpistolographiePlinius der JüngereEpist. 7.9 und Historiographie werden hier in einem Atemzug genannt, wenn es um die descriptiones geht, die man bisweilen in eine Rede einbauen muss. Der pressus sermo purusque ist dabei Plinius zufolge der für die Epistolographie spezifische Stil,51 der demjenigen der Historiographie gegenübergestellt und in die Nähe der Dichtung gerückt wird.52 Seine theoretischen Ausführungen untermalt Plinius auch im Text selbst, indem er seinen Gedanken im Rahmen einer Enallage ausdrückt (historica…poetica descriptionum necessitas).53 Die in den eben betrachteten Passagen wiederholt hervorgehobene Qualität des diligentius/curiosius/polite scribere wird auch als wesentliches Merkmal der Plinius-Briefe angekündigt,Plinius der JüngereEpist. 7.9.8 wie aus Epist. 1,1Plinius der JüngereEpist. 1.1.1 hervorgeht: Aus seiner ursprünglich offenbar umfangreicheren Korrespondenz hat Plinius, so wird uns suggeriert, gerade die sorgfältiger verfassten Briefe (1: si quas paulo curatius scripsissem) ausgewählt.54
Abgesehen von stilistischer Sorgfalt können Briefe auch „in der Art der Geschichtsschreiber“ (9,16,1Plinius der JüngereEpist. 9.16.1: historicorum more) komponiert sein, wie es Plinius am Schreiben eines gewissen Mamilianus55 beobachtet, der über seine ergiebige Beute bei einer Jagd berichtet hat. Beispiele für einen Stil, der dem Gebot der Kürze und Einfachheit für Briefe zuwiderläuft, führt Plinius in Epist. 9,26Plinius der JüngereEpist. 9.26 an, wo er sich selbst als „Übeltäter“ enttarnt. Dieser Brief an einen gewissen Lupercus,56 der in einer Rede des Plinius einige Passagen als zu schwülstig und übertrieben angestrichen hat (9,26,5: ut tumida…ut improba), versucht die Notwendigkeit von rhetorischer sublimitas zu rechtfertigen57 und vergleicht in diesem Zusammenhang den stilistischen Wagemut eines Redners mit den Gefahren, denen sich ein Steuermann während eines Seesturms aussetzt (9,26,4): at, cum stridunt funes, curvatur arbor, gubernacula gemunt, tunc ille clarus et dis maris proximus. Nicht nur durch seinen Umfang entspricht dieser Brief eher einem Traktat,58 sondern er übersteigt auch durch die darin verwendeten Ausdrücke die Grenzen der Epistolographie.59 Plinius ist sich dessen durchaus bewusst, denn am Ende des Briefes bittet er den Adressaten, auch hier unpassende Wortgebilde zu korrigieren (9,26,13):
Exspecto, ut quaedam ex hac epistula, ut illud ʻgubernacula gemuntʼ et ʻdis maris proximusʼ, isdem notis quibus ea, de quibus scribo, confodias. intellego enim me, dum veniam prioribus peto, in illa ipsa, quae adnotaveras, incidisse.
Geschwollene Ausdrücke, an denen sich Puristen bereits in einer Rede stören können, sind in einem Brief offenbar erst recht unpassend. Abgesehen davon wird auch durch die ungewöhnlich hohe Anzahl griechischer Zitate aus den Reden des Demosthenes und Aischines sowie aus Homer60 das in Epist. 7,9 propagierte Ideal des sermo purus unterminiert.Plinius der JüngereEpist. 9.26
Neben Inhalt und Stil bringt auch der Umfang einen Brief an seine generischen Grenzen:61 So reflektiert Plinius in Epist. 4,17Plinius der JüngereEpist. 4.17.11 über den Unterschied zwischen Brief und Rede, wenn er seinem Adressaten gegenüber angkündigt, dass er Corellia, die Tochter des Corellius Rufus,62 in einem Rechtsstreit vertreten werde. Seine Argumente, die sich im Brief nur kurz umreißen lassen, werde er in der Prozessrede breiter ausführen können (4,17,11: si haec eadem in actione, latius scilicet et uberius, quam epistularum angustiae sinunt…dixero).63 In Epist. 1,20Plinius der JüngereEpist. 1.20.25 an Tacitus64 führt Plinius aus, warum seiner Meinung nach lange Reden mehr Überzeugungskraft besitzen als kurze, und fordert diesem Gedanken entsprechend am Ende von seinem Adressaten ein besonders langes Antwortschreiben, sollte dieser anderer Meinung sein (25: proinde, si non errare videor, id ipsum quam voles brevi epistula…scribe…; si erraro, longissimam para!). Analog zu einer Rede kann auch ein Brief dieser Logik zufolge besser überzeugen, je ausführlich er ist. Epist. 2,5Plinius der JüngereEpist. 2.5.13 ist ebenfalls einem rhetorischen Thema gewidmet, denn hier kommentiert Plinius eine Rede, die er seinem Adressaten zusammen mit dem Brief geschickt hat.65 Sein Schreiben beschließt Plinius mit der Feststellung, dass ihn die Freude an der Unterhaltung mit seinem Freund schon zu weit geführt habe (13: longius me provexit dulcedo quaedam tecum loquendi)66 und er nun eine Ende setzen werde, um den Brief nicht länger auszudehnen als die Rede (13: ne modum, quem etiam orationi adhibendum puto, in epistula excedam). Auch Epist. 4,5Plinius der JüngereEpist. 4.5.3‒4 gibt sich als Begleitschreiben zu einer Rede aus, deren Umfang es nicht gestatte, dass sich auch der Brief in die Länge ziehe (3: non sinit me longiore epistula praeloqui), da die Möglichkeit zur brevitas auch ihre Notwendigkeit mit sich bringe (4: oportet enim nos in hac certe, in qua possumus, breves esse). Ein Begleitbrief bringe zudem die Gefahr mit sich, dass er bei allzu großer Geschwätzigkeit die Neugier auf die oratio mindere (5,20,8Plinius der JüngereEpist. 5.20.8: ne gratiam novitatis et florem…epistulae loquacitate praecerpam).67 Wenn es sich noch dazu um Gedichte handle, dann sei eine lange Vorrede in Form eines Briefes ohnehin überflüssig (4,14,8Plinius der JüngereEpist. 4.14.8: nam longa praefatione vel excusare vel commendare ineptias ineptissimum est). Die Hintergründe zu seiner Rede De Helvidi ultione schildert Plinius in der langen Epistel 9,13Plinius der JüngereEpist. 9.13.26, an deren Ende er bemerkt, dass der Brief nun beinahe gleich umfangreich geworden sei wie die Rede selbst (26: habes epistulam, si modum epistulae cogites, libris, quos legisti, non minorem).68 In der didaktischen Epist. 7,9Plinius der JüngereEpist. 7.9.16 behauptet Plinius am Ende seiner Ausführungen, er habe den Brief bereits zu sehr ausgedehnt (16: immodice epistulam extendi) und dadurch seinem Adressaten wertvolle Studienzeit geraubt (16: ut…studendi tempus abstulerim). Der Empfänger kann wiederum selbst schuld daran sein, wenn der betreffende Brief etwas länger ausfällt, nachdem um die Darstellung eines bestimmten Sachverhalts gebeten worden ist (9,13,1Plinius der JüngereEpist. 9.13; 26: postulas, ut perscribam tibi…; sed imputabis tibi).69 Sowohl die Länge einer Rede als auch eines Briefes lässt sich mitunter durch die Größe bzw. Bedeutung des darin thematisierten Gegenstandes rechtfertigen – dies gilt etwa für die in Epist. 4,5Plinius der JüngereEpist. 4.5.4 beschriebene oratio (4: non tamen ultra causae amplitudinem), den Prozess-Bericht in Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9.27 (27: memento non esse epistulam longam, quae tot dies, tot cognitiones…complexa sit) oder die Villen-Ekphrasis in Epist. 5,6, dem längsten Brief innerhalb des Korpus (5,6,44Plinius der JüngereEpist. 5.6.44): non epistula, quae describit, sed villa, quae describitur, magna est.70 Abgesehen vom Thema sind auch Emotionen des Briefschreibers, wie z. B. Freude, mögliche Gründe für die Ausdehnung einer epistula (Epist. 5,14,7Plinius der JüngereEpist. 5.14.7: in infinitum epistulam extendam, si gaudio meo indulgeam).71 Es zeuge überdies von größter Zuneigung, wenn man von seinen Freunden lange Brief erwartet (9,2,5Plinius der JüngereEpist. 9.2.5: est enim summi amoris negare veniam brevibus epistulis amicorum).72
Bisweilen lässt Plinius auch sein Gegenüber als interlocutor zu Wort kommen und sich über den Umfang eines Briefes beschweren; so etwa in der langen Epistel 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9.27 über den Prozess gegen Caecilius Classicus,73 wo folgende Leserreaktion inszeniert wird (27): Dices ‘non fuit tanti; quid enim mihi cum tam longa epistula?’ Durch die (antizipierte) direkte Rede des Adressaten verschwimmen die Grenzen zwischen Brief und Dialog; zudem konstruiert Plinius hier den Typus des „faulen“ Lesers, wie wir ihn insbesondere aus den Epigrammen Martials kennen.74 Auch dort stoßen wir häufig auf negative Reaktionen von Lesern,75 vor allem wenn sie es mit längeren Gedichten zu tun haben oder mit einer Vorrede konfrontiert werden. Plinius scheint in seinem Brief auf die Prosaepistel zu Martials Buch 2 anzuspielen, deren Adressat Decianus heftig gegen die Kombination von Epigrammbüchern mit Prosavorreden protestiert (Mart. 2 praef. 1Martial2 praef.: ‘Quid nobis’ inquis ‘cum epistola?’) und dadurch angeblich verhindert, dass der Brief zu lange wird (14‒15: Debebunt tibi si qui in hunc librum inciderint, quod ad primam paginam non lassi pervenient).76 Eine Variation des Motivs vom faulen Leser findet sich bei Plinius in Epist. 7,2Plinius der JüngereEpist. 7.2, deren Adressat zwar nicht so unwillig reagiert wie die zuvor betrachteten Charaktere – ganz im Gegenteil fordert er sogar die Schriften des Plinius zur Lektüre –, jedoch von so vielen Verpflichtungen eingenommen wird (7,2,1: adsiduis occupationibus impediri), dass Plinius ihm lieber nur kurze Briefe schreiben will (7,2,3: interim abunde est, si epistulae non sunt molestae; sunt autem, et ideo breviores erunt).