Kitabı oku: «Das Seltsame und das Gespenstische», sayfa 2

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China Miéville argumentiert, dass diese Innovation bei Lovecraft unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges entstanden sei: der traumatische Bruch mit der Vergangenheit habe das Neue hervortreten lassen. Aber vielleicht ist es hilfreich, Lovecrafts Werk als Auseinandersetzung mit dem Trauma überhaupt zu verstehen, insofern als es sich mit Rissen im Gewebe der Erfahrung beschäftigt. Einige Bemerkungen von Freud in Jenseits des Lustprinzips legen nahe, dass er davon ausging, dass das Unbewusste jenseits von Kants »transzendentalen« Kategorien Raum, Zeit und Kausalität operiert, die die Wahrnehmung und das Bewusstsein regieren: »Der Kantsche Satz, daß Zeit und Raum notwendige Formen unseres Denkens sind, kann heute infolge gewisser psychoanalytischer Erkenntnisse einer Diskussion unterzogen werden.« Eine Möglichkeit, die Funktionen des Unbewussten zu begreifen und zu verstehen, wie genau dieser Bruch mit Zeit, Raum und Kausalität vonstatten geht, bestand im Studium der Psyche von Traumatisierten. Das Trauma kann als eine Art transzendentaler Schock begriffen werden, was wiederum Lovecrafts Schriften treffend beschreibt. Das Außen liegt nicht in der »empirischen« Außenwelt, sondern in der transzendentalen Außenwelt; das heißt es geht nicht nur darum, dass etwas zeitlich und räumlich fern ist, sondern um etwas, das jenseits unserer gewöhnlichen Erfahrung und jenseits unseres gewöhnlichen Verständnisses von Zeit und Raum selbst liegt. Immer wieder betont Freud, dass das Unbewusste weder Zeit noch Raum kennt. Daher das an M.C. Escher gemahnende Bild in Das Unbehagen in der Kultur, worin Freud das Unbewusste mit der Stadt Rom vergleicht und als Ort beschreibt, in dem »nichts, was einmal zustande gekommen war, untergegangen ist, in dem neben der letzten Entwicklungsphase auch alle früheren noch fortbestehen.« Freuds seltsame Geometrie zeigt deutliche Parallelen zu Lovecrafts Erzählungen und ihren ständigen Verweisen auf nicht-euklidische Räume. Man betrachte zum Beispiel die Beschreibung der »Geometrie des im Traum geschauten Ortes« in »Call of Cthulhu« (dt. »Cthulhus Ruf«): »abnorm [...], nicht euklidisch und auf ekelerregende Weise an Sphären und Dimensionen fern der unseren gemahnend.«

Es ist wichtig, Lovecraft nicht zu schnell eine Idee des Undarstellbaren unterzuschieben. Zu oft nimmt man ihn für bare Münze, wenn er seine eigenen Wesen und Gestalten »unnennbar« oder »unbeschreiblich« nennt. Wie China Miéville ausführt, bezeichnet Lovecraft ein Wesen immer dann als »unbeschreiblich«, wenn er anfängt, es detailliert zu beschreiben. Ebenso wenig ist Lovecraft zögerlich bei der Verleihung von Namen, auch wenn er das in der Geschichte »The Unnameable« (dt. »Das Unnennbare«) verspottet, aber zugleich verteidigt. Neben der Behauptung und ihrer anschließenden Widerlegung gibt es jedoch noch ein drittes Moment: Nachdem, ers­tens, etwas als »unbeschreiblich« bezeichnet wird und, zweitens, die Beschreibung erfolgt, resultiert daraus, drittens, eine Art Unbildlichkeit. Denn trotz aller Details oder vielleicht gerade deshalb, erlauben Lovecrafts Beschreibungen dem Leser nicht, die logorrhoische Schizophonie der Adjektive zu einem geistigen Bild zu verdichten. Deshalb hat Graham Harman den Effekt solcher Passagen mit dem Kubismus verglichen. Wenn Lovecraft in »Dreams in the Witchhouse« (dt. »Träume im Hexenhaus«) von einer »Ansammlung von Würfeln und Flächen« spricht, wird dieser Vergleich noch eindrücklicher. Tatsächlich kommen in einer ganzen Reihe seiner Erzählungen kubistische und futuristische Techniken und Motive zum Tragen, meistens als (vorgebliche) Hassobjekte. Doch selbst wenn er der modernen Kunst feindlich gegenüberstand, hat Lovecraft doch erkannt, dass sie zur Darstellung des Außen genutzt werden kann.

Bis jetzt hat sich meine Auseinandersetzung mit Lovecraft auf das konzentriert, was in den Geschichten geschieht. Doch einer der wichtigsten Effekte des Seltsamen entsteht bei Lovecraft zwischen seinen Texten. Die Systematisierung von Lovecrafts Erzählungen zu einem »Mythos« wurde zwar von seinem Anhänger August Derleth geleistet, doch der Zusammenhang zwischen den Geschichten, die Art und Weise, wie sie eine konsistente Realität bilden, ist entscheidend, um zu verstehen, was an Lovecrafts Werk einzigartig ist. Es mag so aussehen, als würde Lovecraft solche Konsistenz ähnlich herstellen wie Tolkien, doch erneut zeigt sich, wie wichtig das Verhältnis zu unserer Welt ist. Indem die Erzählungen in Neuengland spielen statt in einem unberührten, fernen Land, durchkreuzt Lovecraft das hierarchische Verhältnis zwischen Fiktion und Realität.

Dass bei Lovecraft authentische Geschichte und ausgedachte Forschung nebeneinander stehen, führt zu ontologischen Verwirrungen, ähnlich wie in der »postmodernen« Literatur von Alain Robbe-Grillet, Thomas Pynchon oder Jose Luis Borges. Indem Lovecraft echte Phänomene so behandelt als hätten sie denselben ontologischen Status wie seine eigenen Erfindungen, nimmt er den Fakten ihre Wirklichkeit, während er das Fiktionale zur Wirklichkeit macht. Graham Harman sieht den Tag kommen, da Lovecraft Friedrich Hölderlin von seinem Thron als beliebtestes Forschungsobjekt der Literaturwissenschaft verdrängt haben wird. Und vielleicht können wir uns auf eine Zeit freuen, wenn nicht mehr der postmoderne Borges, sondern der Pulp-Poet Lovecraft als berühmtester Erforscher ontologischer Rätsel gilt. Lovecraft realisiert, was Borges’ nur »fabuliert«; niemand würde jemals glauben, dass Pierre Menards Version von Don Quichotte außerhalb von Borges Geschichte existieren könnte, während nicht wenige Leser die Britische Bibliothek kontaktierten und nach einer Ausgabe des Necronomicon fragten, dem Buch der alten Überlieferung, das in vielen Geschichten Lovecrafts auftaucht. Dabei erzeugt er einen »Realitätseffekt«, indem er uns immer nur kleine Teile des Necronomicon zeigt. Weil die Verweise auf die obskure Schrift fragmentarisch bleiben, beginnt der Leser zu glauben, dass es sich um ein echtes Objekt handeln muss. Man stelle sich vor, Lovecraft hätte tatsächlich einen ganzen Text des Necronomicon produziert; das Buch würde viel weniger echt wirken als wenn wir nur Ausschnitte sehen. Lovecraft schien die Macht dieser Zitate verstanden zu haben, die Art und Weise, wie ein Text echter wirkt, wenn er zitiert wird, als wenn man ihn als Ganzes vor sich hat.

Eine Folge dieser ontologischen Verschiebungen ist, dass Lovecraft keine absolute Autorität mehr über seine Schriften hat. Wenn die Texte eine gewisse Autonomie gegenüber ihrem Autor erlangt haben, dann wird Lovecrafts Rolle als ihr vorgeblicher Urheber nebensächlich. Er wird vielmehr der Erfinder von Wesen, Charakteren und Formeln. Was zählt, ist die Konsistenz seines literarischen Systems – eine Konsistenz, die kollektive Teilnahme von den Lesern und anderen Autoren herausfordert. Wie bekannt ist, haben neben Derleth auch Clark Ashton Smith, Robert E. Howard, Brian Lumley, Ramsay Campell und viele andere Erzählungen über den Cthulhu-Mythos geschrieben. Indem Lovecraft seine Geschichten miteinander verwebt, verliert er die Kontrolle seiner Kreationen an das entstehende System, das seine eigene Regeln hat und das seine Anhänger genauso bestimmen wie er selbst.

Das Seltsame gegen das Weltliche:
H.G. Wells

Ich möchte mich dem Seltsamen jetzt aus einer anderen Richtung nähern und zwar durch eine Lektüre von H.G. Wells Kurzgeschichte »The Door in the Wall« (dt. »Die Tür in der Mauer«). Ich glaube, dass es in diesem Text eine starke Spannung des Seltsamen gibt, wenngleich anders als bei Lovecraft.

Der Erzähler ist Redmond und die Geschichte handelt von seinem Freund, dem Politiker Lionel Wallace. Wallace erzählt Redmond von einer Kindheitserinnerung, in der er eine grüne Tür in einer Mauer sieht, irgendwo in den Straßen von West Kensington in London. Aus irgendeinem Grund möchte er sie öffnen. Während er zunächst noch zögert und glaubt, es sei »unklug oder falsch«, die Tür zu öffnen, überwindet er schließlich in einem »Anfall von Emotionen« seine Angst und geht hindurch. Der Garten auf der anderen Seite gleicht einem surrealistischen Gemälde von Paul Delvaux oder Max Ernst; es herrscht eine Atmosphäre träger Freude, und von allen Menschen, die er trifft, geht ein diffuses Gefühl der Güte aus. Ungewöhnliche Dinge spielen sich ab: er sieht zwei Panther und eine Art Buch, auf dessen Seiten »keine Bildern, sondern wirkliches Geschehen« waren. Ob es sich dabei um ein magisches Objekt handelt, ein Beispiel fortgeschrittener Technologie oder das Produkt einer Rauscherfahrung, wird nicht geklärt. Nachdem er eine Weile in dem Buch geblättert hat, sieht er darin plötzlich »eine lange, graue Straße in West Kensington, zur der kühlen Zeit, kurz bevor die Lampen angehen, und dort war ich, eine erbärmliche, kleine Figur und weinte laut.«

Aus Gründen, die nicht ganz klar werden – warum geht er nicht sofort wieder durch die grüne Tür in der Mauer? –, kann er nicht direkt zurückkehren. Wieder der banalen Welt ausgeliefert, verfällt er in einen »untröstlichen Kum­mer«.

Ein paar Jahre später sieht Wallace die grüne Tür zufällig noch einmal. Eines Tages befindet er sich »plötzlich in einem Gewirr ziemlich ärmlicher Straßen jenseits von Campden Hill« und sieht eine lange weiße Mauer und die Tür, die in den Garten führt. Doch dieses Mal öffnet er sie nicht. Er hat Angst, zu spät zur Schule zu kommen und beschließt, später zurückzukehren, wenn er mehr Zeit hat. Er begeht den Fehler, einigen Schulfreunden von der Tür und dem Garten zu erzählen. Die Jungen zwingen Wallace, sie dahin zu führen, aber er findet die Tür nicht.

Noch ein paar Mal sieht er die Tür während seiner Jugend; einmal, als er wegen eines Stipendiums auf dem Weg nach Oxford ist. Doch weil er zu beschäftigt mit den Dingen des Alltags ist, geht er erneut an der Tür vorbei, ohne sie zu öffnen. Nun, da er erwachsen ist, verfolgt ihn wieder der Gedanken an die Tür und er fürchtet, sie niemals wiederzusehen.

»Jahre voll harter Arbeit folgten, und niemals zeigte sich die Tür. Erst vor kurzem ist sie mir wieder erschienen. Mit ihr hat sich ein Gefühl eingestellt, als ob sich ein Schleier über meine Welt gebreitet hätte. Ich hatte angefangen, es für traurig und bitter zu halten, daß ich die Tür nicht wieder erblicken sollte. Vielleicht hatte ich mich etwas überarbeitet – vielleicht war es Ausdruck dessen, was ich das Lebensgefühl mit vierzig habe nennen hören. Ich weiß es nicht. Aber ganz sicher haben die Dinge kürzlich ihren Glanz verloren...«

Und dennoch sieht er die Tür noch einmal – ganze drei Mal. Doch immer geht er daran vorbei. Einmal, weil er in wichtige politische Geschäfte verwickelt ist, ein anderes Mal ist er auf dem Weg an das Totenbett seines Vaters; ein drittes Mal unterhält er sich gerade mit jemandem über seine Stellung.

Als Wallace dies Redmond erzählt, leidet er schon lange unter seiner Unfähigkeit, noch einmal durch die Tür zu gehen. Kaum überraschend erfahren wir als nächstes, dass Wallace tot ist und seine Leiche in einer »tiefen Ausschachtung in der Nähe der East Kensington Station« gefunden wurde.

Warum sollten wir »The Door in the Wall« als eine Geschichte aus dem Reich des Seltsamen verstehen? Was Wells und Lovecraft verbindet und uns direkt ins Zentrum des Seltsamen führt, ist die Konfrontation unterschiedlicher – inkommensurabler – Welten. Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, hat das Seltsame immer mit einer Schwellenerfahrung zu tun. Die »Tür in der Mauer« ist offenkundig eine solche Schwelle. Die Anziehungskraft der Welt auf der anderen Seite entsteht durch die Gegenüberstellung mit dem profanen Londoner Setting und den alltäglichen Details:

»Dort befanden sich seiner Erinnerung nach eine Anzahl ärmlicher, schmutziger Läden und insbesondere ein Installateur- und Tapetengeschäft mit einem staubigen Durcheinander von Tonröhren, Bleiblechen, Wasserhähnen, Tapetenmusterheften und Farbbüchsen.«

In Lovecrafts Geschichten gibt es ständig Schwellen zwischen zwei Welten: oft ist die Durchgangsstelle ein Buch (der gefürchtete Necronomicon), manchmal – wie in den »Silver Key«-Geschichten mit Randolph Carter – im wörtlichen Sinne ein Pforte. Tore und Pforten in diesem Lovecraft’schen Sinne gibt es auch in den Marvel Comics über Doctor Strange zuhauf. David Lynchs Film- und Fernsehwerk ist ebenso fixiert auf Türen, Vorhänge und Pforten. Wie wir später sehen werden, handelt es sich bei Inland Empire um so etwas wie einen »löchrigen Raum« an der Schnittstelle zweier Welten, eine Art ontologischer Kaninchenbau. Und manchmal ist es nur eine Frage der Größenordnung: Richard Mathesons The Incredible Shrinking Man (dt. Die unglaubliche Geschichte des Mister C.) zeigt, dass unser eigenes Wohnzimmer zu einem furchterregend wie wundersamen Ort werden kann, wenn man nur klein genug ist.

Die wichtige Rolle, die Türen, Schwellen und Pforten spielen, zeigt, dass die Idee des Dazwischen für das Seltsame zentral ist. Würde Wells Geschichte nur im Garten hinter der Tür spielen, kein Effekt des Seltsamen würde sich einstellen. (Deswegen heftet sich das Gefühl des Seltsamen bei C.S. Lewis auch nicht an Narnia, sondern an die Straßenlaterne.) Wäre die Geschichte auf den Garten beschränkt, befänden wir uns im Genre der Fantasyliteratur, in der fremde Welten naturalisiert werden. Das Seltsame hingegen entnaturalisiert alle Welten, indem es ihre Instabilität und ihre Offenheit für das Außen bloßstellt.

Ein offensichtlicher Unterschied zwischen Wells und Lovecrafts Erzählungen besteht darin, dass in Wells »The Door in the Wall« keine nicht-menschlichen Wesen vorkommen. Als Wallace den Garten betritt, trifft er zwar merkwürdige Figuren, aber sie wirken alle menschlich. Das Seltsame entsteht nicht durch diese trägen, gütigen Wesen; es braucht überhaupt keine »schrecklichen Mons­trositäten«, die für Lovecrafts Erzählungen so wichtig sind.

Ein zweiter Unterschied besteht in der Art der Spannung. Wie wir gesehen haben, arbeiten Lovecrafts Geschichten selten mit Angst, das heißt wir fragen uns nicht, ob das Außen echt ist oder nicht. Am Ende von »The Door in the Wall« jedoch sind Redmonds Gedanken von »Fragen und Rätseln« verdüstert. Er kann die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Wallace an einer »seltenen, aber nicht einmaligen Art von Halluzination« gelitten hat. Entweder handelt es sich bei ihm um einen Verrückten oder einen »Träumer, Seher und Phantasten«. »Wir sehen unsere leidliche Alltagswelt, die Bretterwand und den Schacht«, schließt Redmond unsicher. »Mit unserem Maßstab des Tageslichts gemessen, ging er aus der Sicherheit in das Dunkel, in die Gefahr und den Tod. Ob er aber das so sah?«

Das führt uns zu einem dritten Unterschied zwischen Lovecraft und Wells: die Funktion des Wahnsinns. Bei Lovecraft ist jeder Wahn, der eine Figur befällt, eine Konsequenz des transzendentalen Schocks, der durch den Kontakt mit dem Außen entsteht; keinesfalls ist der Wahnsinn dafür verantwortlich, dass die Figuren die Wesen so wahrnehmen wie sie es tun (denn das würde natürlich ihren Status herabsetzen, sie wären dann lediglich Produkte des Deliriums). »The Door in the Wall« lässt die Frage nach dem geistigen Zustand des Protagonisten offen: Es ist möglich – obwohl er hinzufügt, dass es ihm »nicht ernst damit« sei –, dass Wallace verrückt oder verblendet ist oder die ganze Erfahrung aus verzerrten Kindheitserinnerungen zusammenfabuliert hat (die, um einen Gedanken aus Freuds Essay über Deck­erinnerungen aufzunehmen, dann Erinnerungen über die Kindheit, nicht aus der Kindheit wären). Auch Wallace selbst erwägt, ob er eine Kindheitserinnerung überhöht oder noch einmal erträumt hat, bis zu dem Punkt, wo sie völlig unkenntlich geworden ist.

Der wichtigste Unterschied zwischen »The Door in the Wall« und Lovecrafts Geschichte besteht jedoch in der Art der Sehnsucht, die evoziert wird. Bei Lovecraft muss die positive Anziehungskraft des Außen immer unterdrückt oder invertiert, in Ekel und Furcht verwandelt werden. In »The Door in the Wall« strahlt die Faszination der anderen Welt gewissermaßen durch die Pforte hindurch. Die entscheidende Differenz bei Wells besteht nicht zwischen natürlich oder übernatürlich; wenig deutet darauf hin, dass die Welt hinter der Tür irgendwie übernatürlich ist, auch wenn sie sicherlich »verzaubert« ist. Vielmehr geht es um den Unterschied zwischen dem Alltäglichen und dem Numinösen. Wallaces Beschreibung der »unbeschreiblichen, durchscheinenden Unwirklichkeit (…), jener Abweichung von der gewöhnlichen Erfahrungswelt, die über allem lag« erinnert an Rudolf Ottos Beschreibung des Numinösen in Das Heilige (1917). Bei beiden entsteht die »unbeschreibliche Qualität einer »durchscheinenden Unwirklichkeit« immer in Begegnungen mit dem, was wirklicher als die »gewöhnliche Erfahrungswelt« ist. Das Reale fühlt sich nicht real an; es involviert eine gesteigerte Wahrnehmung, es trans­zendiert die Parameter unserer gewöhnlichen Erfahrung, doch für Wallace »wenigstens war die Tür in der Mauer eine wirkliche Tür; die durch eine wirkliche Mauer zu einer unvergänglichen, wirklichen Welt führte.«

Michel Houellebecq nannte sein Buch über Lovecraft Against the World, Against Life (dt. Gegen die Welt. Gegen das Leben); doch vielleicht richtete sich Lovecrafts eigentliche Antipathie vielmehr gegen das Weltliche, gegen jene gemeinen Grenzen des Alltäglichen, die seine Erzählungen immer wieder aufsprengen. Der Angriff auf den Mangel des Weltlichen ist in jeden Fall ein treibendes Element von »The Door in the Wall«. »O wie schmerzlich diese Rückkehr war«, ruft Wallace aus, als er wieder »in diese graue Welt« versetzt ist. Wallace spürt, dass seine Depression daher rührt, dass er der Versuchung des Weltlichen erlegen ist.

Wenn Wallace seine Trauer beschreibt, scheint er ein Spielball des psychoanalytischen Todestriebes zu sein:

»Es ist nämlich so – es handelt sich nicht um Geistererscheinungen und doch – es hört sich merkwürdig an, Redmond – ich bin heimgesucht. Ich bin durch etwas heimgesucht – das alles andere verblassen läßt, das mich mit Sehnsucht erfüllt...«

Als Redmond über den ersten Kontakt von Wallace mit der Tür nachdenkt, stellt er sich »die Gestalt des kleinen Jungen« vor, »gleichzeitig angezogen und abgestoßen2 Genauso beschreibt Freud den Todestrieb: als die ambivalente Anziehung dessen, was unangenehm ist. Es waren Lacan und seine Anhänger, die die Geometrie des Todestriebes vervollständigt haben, die Art und Weise wie sich das Begehren erhält, indem es ständig das Objekt seiner Befriedigung verfehlt – genauso wie es Wallace misslingt, noch einmal durch die Tür zu gehen, obgleich es sich um seinen tiefsten Wunsch handelt. Die Faszination, die von der Tür und dem Garten ausgeht, nimmt all seinen weltlichen Befriedigungen und Erfolgen den Geschmack:

»Nun, da ich den Schlüssel dazu habe, scheint es seinem Gesicht sichtbar aufgeprägt. Ich besitze ein Foto, auf dem dieser abweisende Blick eingefangen und verstärkt ist. Er erinnert mich an den Ausspruch einer Frau – einer Frau, die ihn sehr geliebt hatte. ›Plötzlich‹, sagte sie, ›verliert er das Interesse. Er vergißt dich. Er macht sich keinen Deut aus dir – während du ihm direkt vor der Nase sitzt...‹«

Die Tür war immer eine Schwelle und wer sie übertrat, gelangte über das Lustprinzip hinaus und in das Seltsame hinein.

»Der Körper, ein Wust aus Tentakeln«:
Das Groteske und Seltsame bei The Fall

»Das Wort grotesk hat seinen Ursprung in einem romanischen Ornamentdesign, das zuerst im 15. Jahrhundert entdeckt wurde, bei der Ausgrabung der Bäder von Titus. Benannt nach den grottoes, in denen sie gefunden wurden, bestanden die Formen aus menschlichen und tierischen Figuren, die mit Blattwerk, Blumen und Obst zu fantastischen Formen verschlungen waren, die in keinem Verhältnis zu den logischen Kategorien der klassischen Kunst standen. Einen zeitgenössischen Bericht über diese Formen finden wir bei dem lateinischen Schreiber Vitruv. Vitruv war als Beamter mit dem Bau von Rom unter Kaiser Augustus beauftragt, den sein Bericht Zehn Bücher über Architektur anspricht. Kaum überraschend geht er mit dem ›verderbten Mode‹ des Grotesken hart ins Gericht: ›Derlei aber gibt es weder, noch kann es geben, noch hat es gegeben‹, sagt der Autor über die Verschlingung aus Menschen, Tieren und Pflanzen: ›Denn wie kann ein Rohr in Wahrheit ein Dach tragen, oder ein Lampenständer den Giebelschmuck, oder ein schwacher und weicher Stengel eine sitzende Figur, oder wie können aus Pflanzen und Stengeln Blumen mit Halbfiguren hervorsprießen? Aber obwohl die Menschen solche Lügen sehen, tadeln sie dieselben nicht, sondern ergötzen sich daran und machen sich nichts daraus, ob etwas möglich ist, oder nicht.‹« Patrick Parrinder, James Joyce

Wenn es sich bei Wells Geschichte um einen Fall des melancholischen Seltsamen handelt, dann können wir nun auch eine weitere Dimension betrachten, indem wir über sein Verhältnis zum Grotesken nachdenken. Wie das Seltsame entsteht auch das Groteske, wenn etwas deplatziert ist. Die Reaktion auf die Erscheinung eines grotesken Objekts kann Lachen oder Abscheu hervorrufen. In seiner Studie über das Groteske hat Philip Thomson darauf hingewiesen, dass das Groteske oft durch die Verbindung des Lächerlichen mit dem tief Ernsten charakterisiert wurde. Die Fähigkeit, andere zum Lachen zu bringen, zeigt, dass das Groteske vielleicht am Besten als eine bestimmte Form des Seltsamen zu verstehen ist. Es ist schwer, sich ein groteskes Objekt vorzustellen, das nicht zugleich seltsam ist, aber es gibt seltsame Phänome, die nicht zum Lachen sind – beispielsweise Lovecrafts Geschichten, bei denen der Humor eher zufällig ist.

Das Zusammentreffen des Seltsamen und des Grotesken wird vielleicht nirgends deutlicher als in der Musik der Postpunk-Band The Fall. Ihr Werk – vor allem in der Zeit zwischen 1980 und 1982 – ist voll von Verweisen auf das Groteske und Seltsame. Die Methode der Band zu jener Zeit lässt sich durch das Cover der Single »City Hobgoblins« von 1980 verdeutlichen, auf dem wir eine urbane Szenerie sehen, voll von »emigres from old green glades // Emigranten der alten grünen Wiesen«; ein lüs­tern dreinblickender, fieser Kobold thront über einem verfallenen Wohnhaus. Doch anstatt die Figur bruchlos in das Foto zu integrieren, ist der schlecht gezeichnete Kobold zart in den Hintergrund platziert. Hier handelt es sich um einen Krieg der Welten, einen ontologischen Kampf, ein Kampf um die Mittel der Repräsentation. Aus der Perspektive der bürgerlichen Kultur und ihrer Kategorien darf und dürfte eine Gruppe wie The Fall aus der Arbeiterklasse, aber experimentell, populär und modern im Stil nicht existieren, und The Fall gelingt es hervorragend, den kulturellen politischen Gehalt des Grotesken und des Seltsamen zu entfalten. Man kann sagen, dass The Fall eine seltsame, populäre, an der modernen Ästhe­tik orientierte Kunst entworfen haben, worin das Seltsame sowohl die Form als auch den Inhalt bestimmt. Tatsächlich beginnt das Märchen des Seltsamen mit der Seltsamkeit der ästhetischen Moderne – ihrer Fremdheit, ihrer Kombination vormals inkommensurabel geglaubter Elemente, ihrer Verdichtung, ihrer Herausforderung gewöhnlicher Modelle der Lesbarkeit – sowie mit all den Schwierigkeiten und Zwängen des Post-Punk-Sounds.

Vieles davon, wenn auch indirekt und enigmatisch, verdichtet sich in The Falls Album Grotesque (After the Gramme) von 1980. Wenn wir uns daran erinnern, dass das Groteske in Parrinders Beschreibung ursprünglich auf »Formen aus menschlichen und tierischen Figuren, die mit Blattwerk, Blumen und Obst zu fantastischen Formen verschlungen waren, die in keinem Verhältnis zu den logischen Kategorien der klassischen Kunst standen« verweist, dann beginnen wir anderweitig unverständliche Bezüge plötzlich zu begreifen: »huckleberry masks // Hei­delbeermasken«, »a man with butterflies on his face // ein Mann mit Schmetterlingen auf seinem Gesicht«, »ostrich headdress // Straussenkopfschmuck« oder »light blue plant-heads // hellblaue Pflanzenköpfe«.

Die Lieder auf Grotesque sind Märchen, aber sie werden nur halb erzählt. Die Worte sind Fragmente, als ob wir sie durch eine schlechte Verbindung hören, die ständig abbricht. Perspektiven werden entstellt; ontologische Unterscheidungen zwischen Autor, Text und Charakter werden vermischt und zerbrochen. Es ist unmöglich, die Worte des Erzählers scharf von direkter Rede zu unterscheiden. Die Lieder sind Palimpseste, schlecht aufgenommen, in absichtlicher Ablehnung der »Kaffeetisch«-Ästhetik, die der Bandleader Mark E. Smith im kryptischen Booklet denunziert. Der Aufnahmeprozess wird nicht wegretuschiert, sondern in den Vordergrund gerückt, Hintergrundrauschen und unentzifferbare Kassettengeräusche bestimmen die Lieder mit wie die improvisierten Nähte das Gesicht Frankensteins in einem Hammer-Film. Das Lied »Impressions of J Temperance« ist in diesem Zusammenhang typisch, eine Geschichte im Stile Lovecrafts, in der der »schreckliche Wiedergänger« (»hideous replica«) eines Hundezüchters (»brown sockets...purple eyes...fed with the rubbish from disposal barges // braune Höhlen...violette Augen...gefüttert mit Müll vom Entsorgungsschiff«) in Manchester herumstreunt. Dabei handelt es sich um eine seltsame Geschichte, allerdings eine, die mit den Methoden der ästhe­tischen Moderne, der Verdichtung und der Collage arbeitet. Das Ergebnis gleicht einer Ellipse: Der Text klingt, als sei er aus dem Kanal von Manchester gefischt worden, kaum noch zu erkennen unter Schlamm, Schimmel und Algen, und Steve Hanleys Bass wirkt wie das Pochen von Baggerarbeiten.

In jedem Fall gibt es hier Gelächter, eine wilde Art der Parodie und des Spotts, von der man zögert, sie Satire zu nennen, vor allem in Anbetracht der blassen und zahnlosen Form, die die Satire in Großbritannien in den letzten Jahren angenommen hat. Bei The Fall scheint es hingegen, als sei die Satire an ihre Ursprünge im Grotesken zurückgekehrt. Ihr Gelächter stammt nicht aus dem gesunden Menschenverstand des Mainstreams, sondern aus einem gleichsam psychotischen Außen. Es ist eine traumartige Satire wie bei James Gillray, Beschimpfung und Spott steigern sich bis ins Delirium, ein (psycho)­tropologisches Herausrotzen von Assoziationen und Ani­mositäten, deren wahres Ziel nicht die Demaskierung irgendeiner Redlichkeit ist, sondern die Illusion, dass menschliche Würde überhaupt möglich sei. Es überrascht nicht, dass Smith in einer kaum hörbaren Zeile von »City Hobgoblins« auf Alfred Jarrys Theaterstück Ubu Roi (dt. König Ubu) anspielt: »Ubu le Roi is a home hobgoblin. // Ubu le Roi ist ein Kobold«. Für Jarry wie für Smith galt es, die Zusammenhanglosigkeit und Unvollständigkeit des Obszönen und Absurden gegen die falschen Symmetrien der praktischen Vernunft in Stellung zu bringen. Man kann sogar sagen, dass es die Bestimmung des Menschen ist, grotesk zu sein. Denn es ist das menschliche Tier, das deplatziert ist, der Freak der Natur, ohne einen Platz in der natürlichen Ordnung und trotzdem fähig, die Dinge der Natur in furchtbare neue Formen zu bringen.

Der Sound von Grotesque ist eine scheinbar unmögliche Kombination von Chaos und Strenge, eine Verbindung des Geistig-Literarischen mit dem Idiotisch-Physi­schen. Das ganze Album ist vom Gegensatz zwischen dem Alltäglichen und dem Seltsam-Grotesken strukturiert, als sei es die Antwort auf eine waghalsige Vermutung. Was, wenn der Rock’n’Roll im Herzen der Indus­trialisierung in England geboren wäre, statt im Mississippi-Delta? Der Rockabillysound von »Container Drivers« oder »Fiery Jack« wäre verlangsamt von Fleischpastete und Soße, Fluchtfantasien im Keim erstickt von einem Humpen Bier und einer Tasse schlierigem Tee. Rock’n’ Roll wäre das Kabarett der Arbeiter, vorgeführt von einem gescheiterten Gene-Vincent-Imitator in Prestwich. Doch solche Spekulationen gehen fehl. Rock’n’Roll brauchte die endlosen Highways; er hätte niemals in England entstehen können, in seinen chaotischen Ring­straßen und klaustrophobischen Ballungsgebieten. In dem Lied The N.W.R.A. (»The North Will Rise Again« / »Der Norden wird wieder auferstehen«) wird der Konflikt zwischen der beengenden Weltlichkeit Englands und dem Grostesk-Seltsamen am deutlichsten zur Sprache gebracht. Alle Motive des Albums verdichten sich in diesem Song, einem Märchen über kulturpolitische Intrigen, das wie ein absurder Mulch aus T.S. Eliot, Wyndham Lewis, H.G. Wells, Philip K. Dick, Lovecraft und John le Carré klingt. Das Lied erzählt die Geschichte von Roman Totale, einem Hellseher und ehemaligen Kleinbühnendarsteller, dessen Körper voll von Tentakeln ist. Oft wird gesagt, dass es sich dabei um eines der »Alter-Egos« von Mark E. Smith handelt; tatsächlich steht Smith in derselben Beziehung zu Totale wie Lovecraft zu Randolph Carter. Bei Totale handelt es sich eher um einen Figurentypus statt um eine echte Person. Deswegen hat Totale natürlich keinen fest umrissenen Charakter, sondern ist vielmehr der Träger eines Mythos, ein intertextuelles Konglomerat von Pulp-Frag­menten:

»So R. Totale dwells underground / Away from sickly grind / With ostrich head-dress / Face a mess, covered in feathers / Orange-red with blue-black lines / That draped down his chest / Body a tentacle mess / And light blue plant-heads. //

Also R. Totale wohnt unter der Erde / Fernab der kranken Schinderei / Mit einem Straussenkopfschmuck / Einem dreckigen Gesicht, mit Federn bedeckt / Orangerot mit schwarzblauen Runzeln / Bis zur Brust behangen / Der Körper, ein Wust aus Tentakeln / Und einem hellblauen Pflanzenkopf.«

Die Form von »The N.W.R.A.« ist von organischer Ganzheit so fern wie Totales abscheulicher Tentakelkörper von der menschlichen Figur. Es ist ein groteskes Machwerk, eine Collage, in der nichts zusammenpasst. Vorbild des Liedes ist eher die Novelle statt das Märchen; die Geschichte wird episodisch erzählt, aus verschiedenen Blickwinkeln, mit einem vielstimmigen Gewaltstreich verschiedenster Stile und Register: komisch, journalistisch, satirisch, romanhaft, wie als wäre Lovecrafts »Cthulhus Ruf« vom James Joyce des Ulysses noch einmal geschrieben und in zehn Minuten gepresst worden.

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