Kitabı oku: «Gespenster meines Lebens», sayfa 4

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»Gerade wenn ich denke, ich gewinne«

»Ghosts« hatte ich 1982 aus dem Radio aufgenommen und den Song ein ums andere Mal gehört, die Kassette am Ende zurückgespult und erneut »Play« gedrückt. »Ghosts« ist ein Stück, das einen, selbst heute noch, dazu bringt, es immer wieder abzuspielen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Song mit unglaublich vielen Details aufwartet und man nie das Gefühl hat, wirklich alles mitbekommen zu haben.

Kein anderes Stück von Japan war wie »Ghosts«. Es war eine Anomalie, nicht nur wegen des Bekenntnishaften – eher eine Ausnahme in der Arbeit einer Band, die einen ästhetisierenden Gestus expressiver Emotionalität vorzog –, sondern auch aufgrund des Arrangements und der Struktur des Songs. In den anderen Stücken auf Tin Drum – dem 1981er Album, auf dem »Ghosts« erstmals veröffentlicht wurde – entfalteten Japan eine Art artifiziellen Ethno-Funk: Elektronische Fetzen huschen durch eine federnde rhythmische Architektur, die Bass und Schlagzeug schaffen. In »Ghosts« hingegen finden sich weder traditionelles Schlagzeug noch eine durchgängige Basslinie. Percussion beschränkt sich auf sanft angeschlagene metallische Wirbel, und sie treffen auf ein Ensemble von Klängen, die asketisch synthetisch auf eine Art sind, die von Stockhausen stammen könnte.

»Ghosts« setzt ein mit Idiophonklängen wie aus dem Innern einer metallenen Glocke. Die Luft ist voller Spannung, ein elektrisches Feld, erfüllt von diffusem Radiowellengezwitscher. Zugleich verströmt das Stück eine immense Stille, eine ruhige Gelassenheit. In Erinnerung bleibt der außergewöhnliche Liveauftritt der Band mit »Ghosts« in der Fernsehshow The Old Grey Whistle Test. Die Musiker scheinen eher in ihre Instrumente versunken, als dass sie darauf spielen.

Einzig David Sylvian wirkt lebendiger, doch letztlich bewegt sich nur sein Gesicht, halb verdeckt durch einen gewaltigen asymmetrischen Pony. Die in seiner Stimme schwingende Existenzangst verbindet sich auf eigentümliche Art mit der asketischen elektronischen Instrumentierung des Stücks. Das Gefühl einer entkräfteten Vorahnung wird durch das einzig Melodramatische im Song durchbrochen, einzelne treibende Synthesizer-Einsätze, die an Streicher aus einem Thriller erinnern und zum Chorus überleiten: »Just when I think I’m winning / When I’ve broken every door / The ghosts of my life / Blow wilder than before… // Gerade als ich denke, ich gewinne / Jede Tür aufgebrochen habe / Heulen die Gespenster meines Lebens / Wilder als je zuvor…«

Welche Dämonen genau sind es, die Sylvian heimsuchen? Der Song bezieht seine Atmosphäre nicht zuletzt aus der Weigerung, diese Frage zu beantworten, aus einer fehlenden Festlegung. In den Lücken können wir unsere eigenen Schemen entdecken. Klar wird indes, dass es keine äußerlichen Umstände sind, die Sylvians Wohlbefinden verderben. Etwas aus seiner Vergangenheit, etwas, das er längst hinter sich lassen wollte, holt ihn immer wieder ein. Er ist unfähig, es hinter sich zu lassen, weil er es mit sich schleppt. Antizipiert er nur das nahende Unglück oder hat das Verhängnis bereits seinen Lauf genommen? Das Präsens – oder vielmehr das Schwanken zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsform – schafft Ambiguität; angedeutet wird eine schicksalhafte Unendlichkeit, ein Wiederholungszwang – ein Zwang, der zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden mag. Die Dämonen kehren wieder, weil er es befürchtet…

Es fällt schwer, »Ghosts« nicht als eine Betrachtung zu Japans Weg bis zu jenem Zeitpunkt zu hören. In der Band kulminiert eine spezifisch englische Version von Art Pop, die in den frühen 1970er Jahren mit David Bowie oder Roxy Music begonnen hat. Die Musiker von Japan stammen aus Beckenham, Catford, Lewisham, jenem wenig glamourösen urbanen Ballungsgebiet also, wo Kent in den Londoner Süden übergeht – das gleiche vorstädtische Umland, aus dem Bowie, Billy Idol und Siouxsie Sioux kamen. Wie die meisten Protagonisten des englischen Art Pop empfand die Band ihre Umgebung eher als eine negative Inspirationsquelle; Suburbia war etwas, dem man entkommen wollte. »Es gab eine bewusste Tendenz weg von allem, was die Kindheit ausgemacht hatte«, merkt David Sylvian dazu an.32 Pop war das Tor, um diese prosaische Umgebung zu verlassen, die Musik war nur ein Teil davon. Art Pop wurde für Autodidakten aus der Arbeiterklasse zu einer Art Studienkolleg, um Spuren ihrer Vorläufer nachzugehen – Anspielungen in Songtexten, Stücktiteln oder Interviews – und sich so Dinge anzueignen, die im Lehrplan für Jugendliche ihrer gesellschaftlichen Klasse nicht vorgesehen waren: zeitgenössische Kunst, europäische Autorenfilme, die literarische Avantgarde… Sich einen anderen Namen zu suchen, war ein erster Schritt: David legte seinen Familiennamen Batt ab und wählte einen Künstlernamen, der auf Sylvain Sylvain von den New York Dolls verwies, jene Band, deren Stil Japan anfänglich imitierte.

Als »Ghosts« veröffentlicht wurde, war indes die ganze Dolls-Phase mit ihrem Bemühen um amerikanische Coolness längst vergessen; Sylvian hatte zwischenzeitlich als eine artifizielle Massenkopie von Bryan Ferry eine gewisse Perfektion erreicht. Was Ian Penman zufolge die Besonderheit der Stimme Ferrys ausmacht, ist der nur teilweise geglückte Versuch, den Geordie-Akzent abzulegen und ein klassisches, zeitloses Englisch an dessen Stelle treten zu lassen. Sylvians Gesangsstimme nun ist das Fake eines Fakes. Die überempfindliche Zerbrechlichkeit Ferrys wird bewahrt, doch nur als Style ohne emotionalen Inhalt. Es ist eine kultivierte Attitüde, an der nichts natürlich ist; exzentrisch, überaffektiert, und genau aus diesem Grund zugleich auf merkwürdige Art kalt. Der Gegensatz zur Sprechstimme Sylvians in jenen Jahren – plump, unausgebildet, deutlich alle Spuren der Klassenzugehörigkeit und des Londoner Südens offenbarend, die die Singstimme zu kaschieren bemüht war – könnte größer nicht sein: »Sons of pioneers are hungry men. // Söhne von Pionieren sind hungrige Männer.«

»Ghosts« paralysierten sehr englische Ängste: Fast könnte man meinen, da singt Pip aus Dickens’ Great Expectations. In England wohnt dem Aufstieg aus der Arbeiterklasse immer noch die Angst inne, möglicherweise entdeckt zu werden, die Herkunft preiszugeben. Irgendeine Benimmregel wird verletzt, was niemals hätte passieren dürfen. Oder aber es fällt ein falsch ausgesprochenes Wort – die Angst vor einer fehlerhaften Aussprache verfolgt Autodidakten zeitlebens, weil Bücher einem nicht in jedem Fall vermitteln, wie bestimmte Ausdrücke sich anhören müssen. Vielleicht markiert »Ghosts« tatsächlich gerade den Moment, in dem Art Pop dieser Sorge begegnet – der Sorge, dass die Klassenherkunft herauskommt, dass der Background nie überwunden werden kann, dass die Dämonen von Lewisham wiederkehren, ganz egal, wie weit nach Osten die Reise führt.

Japan überführen Art Pop in absolute Oberflächlichkeit, in kompromisslosen Ästhetizismus. Tin Drum, das 1981er Al­bum, von dem »Ghosts« stammt, ist Art Pop als Barthes Pop, ein offenkundig verführerisches Spiel mit Zeichen um ihrer selbst willen. Das Albumcover lässt einen sofort in eine durchgestylte Welt eintreten: Sylvian, mit Trevor-Horn-Brille, den wasserstoffblonden Pony mit viel Haarspray kunstvoll über die Stirn drapiert, sitzt in einem schmucklosen, chinesisch anmutenden Raum, Essstäbchen in den Händen, während sich hinter ihm ein dort hängendes Mao-Poster von der Wand löst. Alles ist Pose, jedes Zeichen mit geradezu fetischistischer Sorgfalt gewählt – allein die Art, wie der Lidschatten die Lider beinahe opiumschwer wirken lässt –, und doch sieht alles zugleich unglaublich zerbrechlich aus: Sylvians Gesicht eine Nō-Maske, anämisch bleich, seine Körperhaltung marionettenhaft. Hier sitzt er nun, einer der letzten Glam-Rock-Prinzen und vielleicht der großartigste, sein Gesicht und Körper – nicht anders (und nicht weniger) als die Musik – ungewöhnliche, grazile Kunstwerke, und alles fügt sich zusammen zu einem übergreifenden Konzept. Jedwede soziale, politische oder kulturelle Bedeutung scheint demgegenüber verschwunden. Wenn Sylvian in »Cantonese Boy«, dem letzten Stück des Albums, »Red Army needs you« singt, dann spricht daraus ebenfalls der Geist eines semiotischen Orientalismus: Signifikanten aus dem Reich der Mitte werden plakativ verkürzt, ausgebeutet und sorgen so für einen kurzen Moment der Erregung.

Zur Zeit der Veröffentlichung von Tin Drum hatten Japan die Abkehr vom Trashigen der New York Dolls längst vollzogen und war zu einer Band von Gentlemen-Connaisseurs geworden. Die Jugendlichen aus der Arbeiterklasse von Beckenham hatten sich zu kosmopolitischen Lebemännern entwickelt. (Zumindest, soweit das möglich scheint: »Ghosts« legt ja gerade nahe, dass die Verwandlung niemals vollständig gelingen kann und deshalb die Angst bleibt. Je stärker das Bemühen, den Background zu verschleiern, desto schmerzhafter wird es, wenn er ans Licht kommt.) Die glatte Oberflächlichkeit von Tin Drum ist die eines (Hochglanz-)Fotos, die Distanziertheit der Band entspricht der des Fotografen. Bilder werden dekontextualisiert, um sodann neu zusammengefügt und zu einem merkwürdig abstrakten »orientalischen« Panorama kombiniert zu werden. Das Ergebnis ist ein Ferner Osten, wie ihn der surrealistische Schriftsteller Raymond Roussel erdacht haben könnte. Wie Bryan Ferry bleibt auch David Sylvian Objekt und Subjekt gleichermaßen: nicht nur ein eingefrorenes Bildnis, sondern auch derjenige, der die Bilder arrangiert, und zwar nicht in irgendeinem pathologischen, an Peeping Tom erinnernden Sinn, sondern cool und distanziert. Die Distanzierung ist selbst wiederum eine Performance, in der Sublimierung verschleiert sie die Angst. Die Texte bilden kleine Labyrinthe, unauflösbare Enigmen – vielleicht auch nur das Aufscheinen von Enigmen –, Phantastereien, deren falsche Fassade chinesische und japanische Motive schmü­cken.

Auch Sylvians Stimme ist Teil der Maskerade. Selbst in »Ghosts« beansprucht sie nicht, für bare Münze genommen zu werden. Es ist keine Stimme, die etwas offenbart oder vorgibt zu offenbaren, sondern es ist eine, die etwas zu verbergen weiß, darin dem Make-up und den ostentativ präsentierten Chinoiserien vergleichbar. Die Fixiertheit auf Geo­graphie lässt Sylvian wie einen Touristen auftreten, einen außenstehenden Beobachter, auch seinem »Innenleben« gegenüber. Die Stimme scheint ganz und gar vom Kopf zu kommen, kaum etwas körperliches ist darin zu hören.

Und was dann? Japan sollten sich auflösen, während Duran Duran auf dem besten Weg waren, die exzentrischen Superstarallüren in einer Billigversion zu übernehmen. David Sylvian begab sich auf die Suche nach »Authentizität«, was zwei Dinge bedeutete: eine Abwendung von Rhythmik und eine Hinwendung zu »wirklichen« Instrumenten. Er wischte sich die Schminke aus dem Gesicht, suchte nach Sinn, entdeckte das wahre Selbst. Dabei klingen seine Soloprojekte bis zu seinem 2003er Album Blemish wie das angestrengte Bemühen um eine emotionale Authentizität, die seine Stimme nie wirklich liefern konnte – während das Alibi Ästhetizismus nun vollkommen fehlt.

Tin Drum blieb das letzte Studioalbum von Japan; zugleich war es einer der letzten Momente des britischen Art Pop. Eine Zukunft war in aller Stille entschlafen, doch andere sollten auftauchen.

»Deine Augen ähneln meinen…«

Ein Treibgut aus Japans »Ghosts« driftete vierzehn Jahre später auf »Aftermath«, der ersten Single von Tricky. Es war nicht gesampelt, sondern wurde von Mark Stewart beigetragen, Trickys Mentor und wie er ebenfalls aus Bristol stammend. Im Hintergrund der trottend-kratzigen Rhythmen des Tracks ist Stewarts Sprechgesang zu hören, und er rezitiert die Zeilen: »Just when I thought I was winning, just when I thought I could not be stopped… // Gerade als ich dachte, ich gewänne, als ich dachte, ich könnte nicht aufgehalten werden…« Die Verwendung des Japan-Zitats und ebenso die Präsenz von Stewart – einer wichtigen Figur in Bristols Post-Punk-Szene, seit er in den 1970ern The Pop Group mitgründete – weisen bereits unverkennbar darauf hin, dass die gängige Verortung Trickys als »TripHop«-Künstler reduktiv und irreführend ist. Allzu oft bezeichnet das Etikett TripHop faktisch »schwarze« Musik, in der das »Schwarze« zum Schweigen gebracht oder entfernt wurde, HipHop ohne Rap. Doch der »Trip« in Trickys Musik hat weniger mit Psychedelics als mit einer wolkigen Marihuana-Indolenz zu tun. Doch Tricky treibt die Ganja-Lethargie über Kiffer-Schlaffheit hinaus in einen visionären Zustand, in dem die für den Rap typische Aggressivität und das Posen nicht so sehr zurückgenommen als im Hitzedunst einer träumerischen, hydroponischen Umgebung gebrochen werden.

Vordergründig ließe sich Trickys rauer Rap als britische Antwort auf HipHop etikettieren, doch bei ein wenig aufmerksamerem Hören fällt auf, dass er auch Fäden aus Post-Punk und Art Pop aufnimmt und neu belebt. Zu seinen Altvordern zählt Tricky Post-Punk-Acts wie Blondie, The Banshees und The Cure (»Die letzte große Pop-Band, denke ich«, stellt er fest). Dabei geht es nicht darum, eine solche Genealogie den Soul-, Funk- und Dub-Referenzen entgegenzusetzen, die in Trickys frühsten Stücken so klar erkennbar sind. Zumal schon Post-Punk und Art Pop selbst ganz erheblich auf Funk und Dub zurückgriffen.

Tricky erzählt, als ich ihn 2008 interviewe:

»Ich bin in einem weißen Ghetto aufgewachsen. Mein Dad kam aus Jamaika, meine Großmutter ist weiß. Wenn ich in ein Einwandererviertel ging und die dortigen Freunde traf, fragten die so was wie: ›Warum hängst du mit diesen Skinhead-Typen ab, diesen weißen Typen?‹ Und meine Skinhead-Freunde meinten: ›Was hängst du mit diesen schwarzen Typen ab?‹ Ich hab’s nicht geschnallt, ich konnte das gar nicht verstehen. Ich konnte immer in beiden Welten ein- und ausgehen, ich konnte in einen Reggae-Club und dann in einen Club mit Weißen und das nicht einmal mitkriegen, weil in meiner Familie alle ganz verschiedenfarbig sind, da hast du alle möglichen Farbtöne. An Weihnachten waren Weiße da, Leute aus der Karibik, afrikanisch aussehende, asiatisch aussehende… Wir haben darauf nicht geachtet, meine Familie ist farbenblind. Doch ganz plötzlich gerieten manche Sachen in Bewegung, Unarten kamen auf, Leute fingen an, dir Sachen zuzuflüstern wie: ›Warum hängst du mit diesen weißen Typen rum?‹ Gemeint waren die, mit denen ich aufgewachsen bin, die ich kenne, seit ich fünf war, die Typen, die selber ›Was hängst du mit diesen schwarzen Typen ab?‹ fragten. Doch dann sehe ich The Specials im Fernsehen, sehe, wie diese weißen und schwarzen Typen zusammenfinden.«33

Tricky betritt genau in dem Augenblick die Bühne, als Britpop drauf und dran ist sich durchzusetzen – eine reaktionäre Inszenierung im Rock, die zeitgenössische schwarze Einflüsse »weiß« übertüncht. Die in den Medien hauptsächlich verhandelte, verlogene Gegenüberstellung von Blur und Oasis lenkt dabei nur ab von den tatsächlichen Bruchlinien in der britischen Musikkultur jener Zeit. Der wirklich bedeutsame Gegensatz nämlich verlief zwischen einer Musik, die das, was in den 1990er Jahren neu war – Technologie, kultureller Pluralismus, Genre- und Stilinnovationen –, anerkannte und weiter vorantrieb, und Strömungen, die in einer monokulturellen Britishness Zuflucht suchten: Das musikalische Ergebnis war wichtigtuerischer, weißer Jungs-Rock, der fast ausschließlich auf die in den 1960er und 1970er Jahren etablierten Formen setzte. Solche Musik war dazu geschaffen, verunsicherten weißen Typen Halt zu geben, zumal in einer Zeit, da Gewissheiten unter Druck gerieten, auf die bislang Verlass war – am Arbeitsplatz, in den Geschlechterverhältnissen, im Hinblick auf die ethnische Identität. Wir wissen, dass Britpop letztlich als Sieger dastand. Tricky verschwand ohne viel Aufsehen und blieb Vorbote einer Zukunft des britischen Pop, die sich niemals materialisiert hat. (Eine Art Annäherung zwischen Tricky und Britpop schlug – glücklicherweise – fehl. Damon Albarn von Blur sollte als Gast zu dem von Tricky unter dem Alias Nearly God produzierten Album gleichen Titels beitragen, neben Terry Hall von The Specials und vielen anderen. Doch schließlich wurde der gemeinsam aufgenommene Track noch vor der Veröffentlichung verworfen.)

Als Maxinquaye 1995 erscheint, wird Tricky plötzlich über Nacht als die Stimme einer bislang stummen, entpolitisierten Generation verehrt, als der versehrte Prophet, der die psychische Last eines ganzen Jahrzehnts auf seine Schultern geladen hat und überliefert. Welches Ausmaß diese Verherrlichung annahm, verdeutlicht der Ursprung des Alias Nearly God, das auf eine Interviewfrage eines deutschen Journalisten zurückgeht: »Wie fühlt es sich an, Gott zu sein? Na, jedenfalls beinahe Gott?« Doch statt die ihm zugewiesene Rolle im Mainstream-Pop der 1990er anzunehmen und das Falsche zu tun, bloß weil es möglich ist und ein kleiner Dämon es ihm eingibt, verdrückte sich Tricky irgendwo seitwärts und geriet beinahe in Vergessenheit. Und zwar so sehr, dass es vielen fast den Atem verschlug, als er 2011 als Gast bei Beyoncés Auftritt auf dem Glastonbury-Festival auf die Bühne kam – als ob wir, einen Moment lang, in eine Parallelwirklichkeit eintauchten, in der Tricky da war, wo er verdientermaßen hätte sein müssen, ein mächtiger Gargouille am Prachtbau des Pop im 21. Jahrhundert. Es entbehrte nicht einer gewissen Symbolik, dass Trickys Mikro während des Auftritts offenbar nicht eingeschaltet war – und er folglich kaum zu hören.

»Auf Maxinquaye«, schreibt Ian Penman in einem im März 1995 in The Wire veröffentlichten, bemerkenswerten Essay, »klingt Tricky wie ein Spuk aus einem anderen Sonnensystem.«34 Das Geisterhafte an Trickys Musik, die Art, wie sie sich weigert, zu konkretisieren oder zu repräsentieren, die Art, wie sie zwischen Luzidität und Unartikuliertheit oszilliert, steht in einem scharfen Gegensatz zur vielfarbigen Ernsthaftigkeit des, wie Penman es nennt, »Face-Cover/Talkin Loud/Jazzie B-Nexus eines groovigen One World-Vibes.« Signifikant an der von Tricky und Goldie vertretenen Version des Multikulturalismus ist gerade die Absage an Ernst und Seriosität. Ihre Musik erbittet keineswegs die Inklusion in irgendeine Art von Normalität. Stattdessen schwelgt sie in ihrem extraterrestrischen Anderssein, ihrem Science-Fiction-Glamour. Wie bei David Bowie, dem frühen Pionier des Art Pop, geht es dabei um eine Identifikation mit dem Alien, und das Alien steht für technologische Innovation und kognitive Provokation – und letztlich für Formen bislang noch kaum vorstellbarer sozialer Beziehungen. Bowie war indes keineswegs der erste, der eine solche Identifikation propagierte: »Loving the Alien«, das Alien zu umarmen, ist eine Geste, die sich in den Selbstmythologisierungen schwarzer Magier – in Kodwo Eshuns Sonic Fiction-Kanon etwa Lee Perry, George Clinton, Sun Ra – lange vor Bowie findet. Und die Identifikation mit dem Alien – was nicht so sehr heißt, für das Alien zu sprechen, als das Alien durch einen selbst sprechen zu lassen – ist etwas, dem die populäre Musik im 20. Jahrhundert einen großen Teil ihrer politischen Bedeutung verdankt. Identifikation mit dem Alien bietet eine Möglichkeit, Identität zu entfliehen, in andere Subjektivitäten, andere Welten.

Auch die Identifikation mit dem Androiden findet statt. »Aftermath« enthält ein Dialogsample aus Blade Runner: »I’ll tell you about my mother // Ich erzähl ihnen ‘was von meiner Mutter«, die höhnische antiödipale Bemerkung, die der Replikant Leon seinem Peiniger Holden im Verhör entgegenschleudert, bevor er ihn erschießt. »Ist es nur ein Zufall, dass Sylvians Verse und das Zitat aus Blade Runner in ein und demselben Song zusammenfinden?«, fragt Penman.

»›Ghosts‹ … Replikanten? Elektrizität hat uns alle zu Engeln werden lassen. Technik (von der Psychoanalyse bis zur Überwachung) hat uns alle zu Gespenstern gemacht. Der Replikant (›Your eyes resemble mine… // Deine Augen ähneln meinen…‹) ist ein sprechendes Nichts. Das erschreckende an ›Aftermath‹ ist die Behauptung, heute seien wir alle so. Sprechende Nichtse, aus Fragmenten und Zitaten zusammengefügt… durch die Erinnerungen anderer kontaminiert… abdriftend…«35

Als ich Tricky 2008 treffe, kommt er von sich aus auf »After­math« und die Zeile zu sprechen, die Penman in seinem Essay aufgreift.

»Der ersten Lyrics, die ich jemals für einen Song geschrieben habe, waren ›Your eyes resemble mine, you see as no others can // Deine Augen ähneln meinen, du siehst, wie niemand anderes es kann‹. Ich hatte damals überhaupt noch keine Kinder, von was ist da also bloß die Rede? Von wem spreche ich? [Meine Tochter] Maisy war noch nicht geboren. Meine Mutter hat regelmäßig Gedichte geschrieben, doch zu ihrer Zeit konnte sie mit sowas nichts anfangen, ihr bot sich da keine Gelegenheit. Es ist fast so, als wäre sie dafür gestorben, mir eine Chance zu geben, meinen Texten. Ich werde nie ganz verstehen, warum ich als Frau schreibe; ich denke, ich habe das Talent meiner Mum geerbt, ich bin ihr Medium. Deshalb brauche ich eine Sängerin, die das singt.«36

Hauntology, Telepathie, die Persistenz des Nicht-mehr… Auch ohne den Glauben an Übersinnliches lässt sich Familie als ein Zusammenhang beschreiben, in dem es spukt, ein Overlook Hotel voller böser Vorahnungen und immer wiederkehrender unheimlicher Geschehnisse, etwas, das vor uns spricht, statt unsrer selbst… Von Anfang an verfolgten Tricky, wie uns alle, Gespenster, und die verstörend knis­ternde Textur der Hauntology im 21. Jahrhundert war bereits in seinen frühesten Stücken wahrzunehmen. Als ich ein Jahrzehnt später Burial zum ersten Mal hörte, drängte sich mir auf der Stelle der Vergleich mit Trickys erstem Album Maxinquaye auf. Auf eine solche Wesensverwandtschaft deutet nicht nur, dass beide, Maxinquaye und Burial, das Knistern und Knacken von Vinylscheiben als eine Art Sig­natur verwenden, sondern auch die auf beiden Alben vorherrschende Stimmung, die erstickte Traurigkeit und die murmelnde Melancholie, die Liebesschmerzerotik und die wie im Traum gesprochenen Worte. Beide Alben wirken wie in Landschaften verwandelte Gefühlszustände, doch während die Musik von Burial urbane Szenen in einem permanenten Blade Runner-Nieselregen heraufbeschwört, fühlt man sich in Maxinquaye in eine Wüste versetzt, ein delirierendes und dalieskes Gebiet, jenem Landstrich vergleichbar, den in Nicholas Roegs Film Walkabout die Protagonisten auf ihrer Initiationsreise durchqueren: der Boden ist verbrannt, rissig und öde, doch gelegentlich bricht üppiges Grün daraus hervor. (Im erotisch expliziten »Abbaon Fat Tracks« beispielsweise könnten wir uns in die zerstörte Idylle von Talk Talks Spirit of Eden verirrt haben.)

»Deine Augen ähneln meinen…« Vom ersten Moment an ist Tricky – wenn er mit der Stimme seiner toten Mutter spricht, ein semi-benigner Norman Bates – bewusst, von weiblichen Dämonen besessen (und enteignet) zu sein. In seiner Vorliebe für Make-up und Crossdressing erscheint er wie ein letztes Aufglühen der Glam-Energie im britischen Pop, seine Genderambivalenz ein willkommenes Antidot gegen das depraviert Jungshafte des Britpop. Dabei ist Genderunbestimmtheit für Tricky keine Angelegenheit pantomimischer Verkleidung, sondern etwas, das seine Musik im Kern berührt. Die Feststellung, Tricky schreibe aus »weiblichem Blickwinkel«, verfehlt allerdings die unheimliche Dimension seines Tuns, insofern er auch Passagen, die aus einer männlichen Perspektive zu sprechen scheinen, von Sängerinnen interpretieren lässt.

»Ich mag es, Frauen in die Männerrolle zu stecken, sodass eine Frau die Starke spielt und ein Mann den Schwachen. Ich wuchs auf, da saß einer meiner Onkel für 30 Jahre hinter Gittern und der andere für 15 Jahre. Meinen Dad sah ich nicht, ich wuchs bei meiner Großmutter und meiner Tante auf, und meine Großmutter habe ich sich auf der Straße prügeln sehen. Ich hab’ gesehen, wie Tante und Großmutter mit den Fäusten aufeinander losgingen, ich hab gesehen, wie Großmutter meine Tante am Arm packte und den Arm in die Tür quetschte und ihn ihr brach, da ging es um ein Stück Fleisch. Also, Frauen habe ich als tough erlebt. Sie haben fürs Essen und für Kleidung gesorgt, meine Großmutter brachte mir das Stehlen bei, meine Tante, wie man kämpft, sie schickte mich zum Boxen, da war ich 15. Wenn Männer in den Krieg ziehen, dann stehst du auf einer Seite, ich auf einer anderen, wir schießen aufeinander, aber das Härteste ist, wenn du zuhause bist und die Kinder weinen hörst und du dafür sorgen musst, dass etwas auf den Tisch kommt. Das ist tough, ich hab da keine Männer gesehen, meinen Onkel hab’ ich für sieben Jahre einfahren sehen, dann meinen anderen Onkel für zehn; mein Dad hat nie bei uns geklingelt. Die Frauen halten alles zusammen, sorgen dafür, dass Essen auf dem Tisch steht, verteidigen uns, verteidigen die Kinder, und wenn uns einer blöd kam, waren sie auf der Straße, an der Schule. Männer habe ich so was nie für mich tun sehen, nie hab ich Männer derart für mich da sein sehen. So kenne ich nur Frauen.«37

Gender löst sich hier nicht in farb- und gesichtslose Geschlechtsneutralität auf, sondern schafft einen instabilen Raum, in dem die Subjektivität ständig zwischen männlichen und weiblichen Stimmen changiert. Es ist eine Kunst der Teilung und zugleich des Verdoppelns. Durch die für ihn (oder an seiner Stelle) auftretenden Sängerinnen wird Tricky weniger als eins, ein gespaltenes Subjekt, das sich nicht als Ganzheit wiederherstellen lässt; zugleich wird er, wenn sie seiner Unvollkommenheit ihre Stimme leihen, mehr als eins, ein Doppelwesen auf der Suche nach seiner verlorenen anderen Hälfte, die sich niemals zurückgewinnen lassen wird. So oder so erschüttert Tricky – sowohl als Vokalist als auch als Autor/Produzent, der eine Andere singen lässt – die Vorstellung, die Stimme sei der feste und unvergängliche Garant von Präsenz und Identität. Trickys eigene gedämpfte, zurückgenommene Stimme, all dieses Heisere, das Murmeln und Raunen deuten eine kaum gegenwärtige Präsenz an, etwas Supplementäres, eher nicht Zentriertes. Doch auch die in diesen Songs eingesetzte Hauptstimme, gewöhnlich die einer Sängerin, klingt häufig abwesend und zerstreut. Tatsächlich erinnern die weiblichen Stimmen, in ihrer ausdruckslosen, erschöpften Art, die die üblichen gefühlsbetonten Kadenzen vermissen lässt, sehr stark an ein Medium, dessen Stimme die einer oder eines anderen ist.

»So this is the aftermath… // Das also sind die Folgen …« Nicht, dass Tricky Sängerinnen hätte; eher bewegt er sie dazu, an seinen Trancezuständen teilzuhaben. Die ihm aus einer verlorenen weiblichen Quelle zufließenden Worte kom­men durch den Mund einer Sängerin zurück. »I’m already on the other side // Ich bin bereits auf der anderen Seite«, singt Martina Topley-Bird in »I Be the Prophet« auf dem Album Nearly God. In Trickys Jugend hatte das Schaurige einen besonderen Platz.

»Meine Großmutter achtete darauf, dass ich gewöhnlich zuhause blieb, weil mein Stiefgroßvater normalerweise weg zur Arbeit war, und sie schaute regelmäßig all diese schwarz-weißen Horror- und Vampirfilme, es war, als würde ich in einem Film aufwachsen. Meine Mum, ihre Tochter, hatte sie verloren, und mich setzte sie mitten auf den Boden. Sie gab sich gern als Billie Holiday, rauchte eine Zigarette und sagte so Zeugs wie ›Du siehst wie deine Mum aus‹ und beobachtete mich dabei. Ich war immer der Geist meiner Mutter. Ich wuchs in einer traumähnlichen Situation auf. Einmal sah ich einen Suizid in der Nähe eines NCP-Parkhauses und die Polizei vernahm mich, um zu hören, was ich gesehen hatte, und am nächsten Tag stand mein Name in der Evening Post. Als ich dann aufwachte, hing das am Kühlschrank, meine Großmutter hatte die Zeitung an den Kühlschrank gehängt, als ob ich eine Berühmtheit wäre.«38

Wer besessen ist, ist zugleich enteignet – der eigenen Identität und Stimme. Doch ist diese Art des Enteignetseins zweifellos für ein wirklich starkes Schreiben ebenso wie für eine überzeugende künstlerische Darbietung eine Vorbedingung. Autorinnen und Autoren müssen andere Stimmen einschalten, in den darstellenden Künsten gilt es bereit und in der Lage zu sein, sich äußeren Kräften zu überlassen – Trickys mitunter großartige Liveauftritte verdanken sich nicht zuletzt der Fähigkeit, sich selbst in einen unglaublichen Zustand schamanischer Selbstauslöschung zu versetzen. Wie das Okkulte bietet auch die Religion ein symbolisches Repertoire, das auf die Vorstellung jenseitiger Präsenz rekurriert, der fremden Zunge, der Macht der Toten über die Lebenden, und Trickys Sprache war immer schon voller biblischer Bildlichkeit. Die Fegefeuer-Landschaft auf Maxinquaye ist übersät von religiösen Zeichen, und Pre-Mil­len­nium Tension stellt eine Art religiösen Rausch zur Schau: »I met a Christian in Christiansands / A Devil in Helsinki // Ich traf einen Christen in Kristiansand / Einen Teufel in Helsinki«, heißt es im Track »Christiansands«, und »Tricky Kid« reimt: »Here comes the Nazarene / Look good in that magazine […] / Mary Magdalene / That’d be my first sin // Hier kommt der Nazarener / Sieht gut aus in dem Magazin […] / Maria Magdalena / Das wäre meine erste Sünde«.

Als ich ihn interviewe, hat Tricky gerade die Single »Coun­cil Estate« veröffentlicht. In dem Song sprechen Gespenster der Klassenzugehörigkeit, allerdings nicht zum ersten Mal in Trickys Schaffen. Die in der Klasse schwelende Wut kann man von Anfang an in vielen seiner Tracks entdecken. »I’ll master your language / And in the meantime / I’ll create my own // Ich werde deine Sprache beherrschen / Und in der Zwischenzeit / Schaffe ich meine eigene«, warnt er in »Christiansands« aus dem Jahr 1996, in dem er selbst die Rolle des proletarischen Caliban einnimmt, der Rachepläne gegen das anmaßende Establishment schmiedet. Tricky ist überaus bewusst, wie die Klassenherkunft das Schicksal determiniert. »Eine Wohnung oder ein Auto aufbrechen heißt Schlosser, Versicherung, da wird aus mir Geld gemacht. Je länger ich dann im Gefängnis bin, desto mehr Geld machen sie aus mir. Moderne Sklaverei: Statt zu Sklaven machen sie einen zum Kriminellen.«39

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