Kitabı oku: «Vorspiele», sayfa 5

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Maiandacht

Im Graben bleibt die Sonne über den Winter fast ständig hinter den Hügeln verborgen. Ich mache mir zur Angewohnheit, mich in den Gadenraum zu verziehen. Mich in meine Kamelhaardecken wie in einen Kokon zu wickeln. Das Zwielicht, das hier immer herrscht, lasse ich bestehen. Drehe keine Lampe an, lichtscheu, wie ich geworden bin. Ich starre zur Decke hoch und hätte gerne ein Gespräch mit dir geführt. Troller, Stüten und Wanner meiden mich. Mit mir rechnen sie nicht mehr. Die Schattenkrallen des Brunnenhauses graben sich in meinen Rücken. Ohne Widerstand lasse ich mich in die Dunkelheit des Grabens ziehen. Mein einziger Halt ist der Sarkophag. Wenn ich ein Ohr auf sein Gehäuse lege, höre ich das Meer rauschen und deine Stimme singen. Sein Zitronengelb verspricht Licht, seine Tiefe Ruhe. Ich setze mich in den moosgrünen Stuhl mit den Armstützen und betrachte die spiegelnde Front. Ich zünde eine Kerze auf dem Glanz seines Deckels an. Ich merke kaum, wie es um mich Nacht wird. Wie die Flamme flackert. Wie Figuren über die Wände wirren. Alles wie einst, als ich in der Totenkapelle vor den Särgen betete.

Als ehemaliger Messdiener bin ich vertraut mit Särgen, mit Toten und Begräbnissen. In unserer Schulzeit beneidest du mich, wenn ich dem Unterricht fernbleiben darf, um bei einer Abdankung zu ministrieren. Oft trage ich hinter dem von Pferden gezogenen Leichenwagen und vor der in seinem Schlepptau schreitenden Trauergemeinde das schwarze Kreuz, schnurre bei den aufgebahrten Verstorbenen lateinische Gebete ab und schwinge am Rande der ausgehobenen Grablöcher das Rauchfass. Tote sehen durch die verglaste Sargluke nicht die Gesichter der Trauernden, erzähle ich dir, sondern den Schatten Gottes. So wie die Beichtenden die Silhouette des Pfarrers. Beide schlagen ein Kreuz, der Pfarrer über den Lebenden, der Schatten Gottes über der sterblichen Hülle.

Inzwischen habe ich das Rauchfass an Jüngere weitergegeben, wie du weisst. Meine Intimitäten tausche ich nicht mehr mit Sprachgittern und im Dämmer verschwindenden Pfarrern aus. Im Sprossenfenster des Gadens spiegle ich mich selber. Die Sargtruhe ist meine Zuhörerin. Die Matten im herbstgrellen Licht erteilen mir den Segen. Manchmal aber, beim Übergang zur Nacht, wenn das Dunkle den Graben endgültig ergreifen will, erscheinst du mir hinter dem Gitter der Fenster als Schatten der Erinnerung. Meine ganze davor aufgebaute Sicherheit fällt von mir ab. Ich sehne mich nach einem Austausch mit dir und beginne Kindheitsbilder in ein imaginäres Album zu kleben.

Unsere Finger tauchen in die Messingschale mit Weihwasser. Wir zeichnen das Kreuz auf Stirn, Mund und Brust; die Stellen, die wir mit unseren ersten Küssen berührt und bedeckt haben. Die Hostie, die der Pfarrer auf die Zunge legt, versuchen wir in der Mitte der Kommunionbank ausgeteilt zu bekommen, dort, wo sich Frauen- und Männerseite treffen. Wir halten dem Pfarrer unsere rosa Zungen entgegen und lassen uns den papierdünnen weissen Mond auf die feuchte Spitze legen. Während wir ihn an den Gaumen kleben, damit er sich auflöse und in Wasser verwandle, senken wir betrügerisch fromm unsere Augen und drücken gleichzeitig unsere Leiber aneinander. Von alldem darf der Pfarrer nichts wissen. Zu unseren Geheimnissen hat er keinen Zugang. Im Beichtstuhl lernen wir Sünden erfinden. Wir werden zu Dichtern, nur um den Pfarrer zu beruhigen und in seiner Neugier zu befriedigen. Wir flüstern einander zu, welche lässlichen Lügengeschichten wir ihm heute erzählen und auftischen wollen, vor allem, was uns beim Codewort Nächstenliebe oder beim Schlüsselwort Schamhaftigkeit einfällt. Der Pfarrer zeichnet den von Murmeln begleiteten Segen in den Dämmer seines vergitterten und sündenvertilgenden Gehäuses. Wir entfliehen ihm, um die ersten Tastpflaster an Stellen zu legen, die noch unberührt vom Weihwasser sind. Als Baldachin dient uns das Blechdach im Schuppen, als Strahlenkranz die Zinken des Laubrechens.

Jeden Abend im Mai pilgern wir in die Marienandacht. Die Kirche ist unser zweites Zuhause. Die Jungfrau unsere Verehrte und Angebetete. Sie besitzt die Fähigkeit, unsere gläubige Hingabe in Liebesgefühle zu verwandeln. Unter Mithilfe der Frühlingsdüfte schmelzt sie unsere Gebete in Leidenschaft um. Wir strampeln per Rad in das nächste Dorf. Der spitz aufschiessende Kirchturm winkt von Weitem. Schwalben durchschrillen die laue Luft. Amseln quirlen ihre Gesangsschleifen vor die rosa Horizontbänder. Wir knien nieder und beten sie an, die Gnadenreiche. Sie thront auf einem Sockel. Hält das gewickelte Söhnchen an der Brust, den Verstorbenen auf den Knien. Wir scheelen über den Mittelgang, blenden die Augen auf und singen einander zu, ohne uns eines Widerspruchs bewusst zu sein. Zum Dank dafür breitet Maria ihren Mantel aus, macht Schirm und Schild für uns daraus. Wir schmettern das Lied, sodass der riesige Raum widerhallt und die Litaneien zu tönen beginnen. Danach, wenn schon die Sterne glitzern, begleitet sie uns schützend in den Garten des Pfarrhauses. Während sie uns verhüllt vor der weiten breiten Welt, ducken wir uns kosend hinter die Büsche und spielen auf den Tastaturen unserer verbotenen Schallkörper.

Die Kirche bleibt unsere Richtschnur, auch als wir längst keine Messen und Andachten mehr besuchen. Du bist mit den Reiseplänen beschäftigt und hast für laufende Kurse und privaten Tanzunterricht zu viel Geld ausgegeben. Der Kostenplan für die Reise gerät ins Wanken. Der niedrige Lohn bei Comestibles Matteo Mastei bereitet dir Sorge. Du brauchst unbedingt einen zusätzlichen Verdienst und lässt dich bei Wattinger, dem Besitzer des Hotels Bahnhof, für das Nachtlokal, wie er es nennt, am Wochenende anstellen.

»Etwas freizügiger muss es dann aber schon gehen«, sagt er frank heraus. »Mit Kleidern vom Gemüsemarkt kann man keine Bar führen. Die Augenlider und Brauen nachziehen. Etwas Rouge kannst du auch vertragen. Und mit diesen langen Röcken kannst du weder einen Staat machen noch hinter einer Theke stehen.«

Du errötest verschämt nach seiner unverschämten Rede. Trotzdem gehst du auf das Angebot ein. Stellst dich hinter den Tresen und versuchst, den Gästen freundliche Augen zu machen. Deine Einkünfte hängen vom Umsatz ab. Obwohl unsere Trennung schon abgemacht und in Rufnähe ist, ertrage ich deine neue Stellung schlecht und hole dich morgens um zwei Uhr ab. Du zapfst Bier, schäumst Milch auf, mischst Getränke und legst deine dunkle Stimme wie Taue um die angepflockte Männerrunde. Unter die jungen Gäste, die deinetwegen gekommen sind, mischen sich auch altbekannte Dorfgrössen. Josef Schweiss, der Unterwäschehausierer, dreht mit seifenweissen Fingern einen Glaskelch unter seinen Augen. Sattler und Tapezierer Bösiger steht, als ob er eine Rede halten wollte. Doktor Schellenbaum lässt die Schlüssel seines Cabriolets wie Glöckchen vor seinen Augen tanzen. Daneben badet der Dorfschneider in einem Duftteich von Wildrosen. Alle rufen und nennen dich Maria, auch wenn sie wissen, dass Du auf den Namen Marina getauft bist. Sie machen dich zu ihrer Heiligen. Heben dich auf den Sockel und krönen dich zu ihrer Patronin. Du hast es aufgegeben, sie zu korrigieren. Schliesslich liegen sie dir zu Füssen. Sie umwerben dich und lassen stets ein grosszügiges Trinkgeld springen. Dass sie ihrerseits ein Garn um dich winden, Erwartungen haben, übergehst du grosszügig. Gönnerhaft neigt sich Filialleiter Tschumper herüber und greift nach deiner Hand. Neben ihm schlägt ein Hotelgast seine Knöchel auf den Tisch und ruft mit englischem Akzent eine Bestellung in den von Kerzenlicht zitternden Raum. Metzger Gantenbein schiebt eine Hinterbacke aufs Gestühl. Der Fassbauch hängt ihm in die Beine. Sein Haar duftet nach Apfelsine.

»Maria voll der Gnade«, brüllt er, »ein Bier.« Alle stimmen mit ein. »Maria«, rufen sie, um dich auf den Arm zu nehmen und anzuhimmeln. Sie flüstern über die Theke, dass du heute zum Vernaschen schön seist. Flirten mit dir über die Mole gelehnt. Gischten an Deine Ufer. Rollen auf deinen Strand zu. Und du lächelst. Wirfst dein Haar zurecht. Klimperst mit den getuschten Wimpern. Ziehst den ungewohnt kurzen Stretch über die Oberschenkel.

Ich sitze in der dunkelsten Ecke im Schummerlicht einer schlecht brennenden Kerze. Warte, bis die Bar endlich schliesst. Erinnere mich unserer Kindheit, unserer Kirchgänge im Mai, als die Jungfrau Maria unser Allerheiligstes war. Ich deklamiere im Stillen die damaligen Litaneien, vergegenwärtige die Lieder. Das Gebet in der Bar hört jeder, denke ich. Es wird zum öffentlichen Gut. In der Kirche versickert es allzu leicht in den Katakomben. Ich suche wieder deinen Blick, der heute allen, nur nicht mir gehört. Wie du das aushältst mit diesen stacheldünnen Absätzen, geht es mir durch den Kopf. Und immer die Frische, die Kesse und Schöne spielend. Maria, rufen die Männer jetzt im Chor. Ein Gelächter schwappt über die Bande. Du tischst Geschirr um. Die Tassen werden zu Rettungsbötchen auf dem Oberdeck der Kaffeemaschine. Zum Abfahren auf das Meer. Das Frühjahr. Mit dir. In die Maiandacht.

Nachtzug, 22 Uhr

Aus einem fernen Abteil hörte Burger Stimmen. Eine laute Begrüssung war im Gange. Überraschte Ausrufe und Gelächter wirbelten durcheinander. Einige Bekannte schienen sich unverhofft begegnet zu sein. Burger nahm den Platz gegen die Fahrtrichtung auf der Korridorseite ein. Er wollte sehen, was vorging. Sogleich machte sich jenes Gramseln im Magen bemerkbar, das sich beim Rückwärtsfahren regelmässig einstellte. Wenn die Lichter, die Landschaft, die Häuser und Felder sich vor ihm entfernten, fühlte er sich, als würde der Boden unter seinen Füssen weggefahren.

Eine Person sprach jetzt allein. Die anderen hörten ruhig zu. Sie wird ihre persönliche Geschichte erzählen, vermutete Burger. Er sah zwei Männer an das Fenster lehnen. Die andern werden im Abteil sitzen oder im Durchgang stehen, dachte er.

Die Rückwärtsbewegung setzte ihm zu. Er hatte das Gefühl, die Gegenstände der Aussenwelt würden aus dem Nichts an ihm vorbeigeschleudert. Immer hatte er das Nachsehen. Eine Leuchtschrift, die er nicht lesen konnte. Eine mit Scheinwerfern angestrahlte Kirche, die er verpasste. Ein vorbeirasender Zug, der ihn unvorbereitet erschreckte. Burger hasste die Sicht auf das, was schon vorbei war. So wie er Abschiede hasste.

Einer der Männer löste sich vom Fenster und suchte die Toilette auf. Er trug eine Kippa mit verzierter Bordüre. Er lachte durch Burgers Fenster, winkte, als ob er die eben erlebte Überraschung als frohe Botschaft weiterverbreiten wollte. Beim Zurückgehen rief er, noch während er an seiner Hose nestelte, in den Flur:

»Das gibt es doch nicht. Darauf müssen wir anstossen!«

Getränke schienen vorhanden zu sein. Burger hörte das Knallen eines Korkens und die beinah feierlich anmutenden Glockenschläge von Gläsern. Wo sie die wohl aufgetrieben hatten, fragte er sich. Vielleicht von der Wagenführerin bekommen. Oder ein Verrückter hatte sie gar in seine Tasche gepackt. Das Gespräch ging in ein ruhiges Geplätscher und Geplauder über und vermischte sich mit dem übrigen Rumpeln. Ab und zu löste sich ein scharfes Lachen und schnitt eine Wunde in die Nacht. Die Tür war mittlerweile zugeschoben. Die Geräusche drangen gedämpft herüber, bis sie ganz verstummten und im Singen des Windes ertranken.

Pfingsten

Wir hatten ins Brunnenhaus eingeladen. Bis in unser Heimatdorf war die Aufforderung zur Teilnahme am Fest gestreut worden. Eine Art verspätete Hausräucherung an Pfingsten. Die ersten Gäste kamen früh am Nachmittag und lenkten die im Kies knisternden Reifen ihrer Fahrzeuge auf den behelfsmässigen Parkplatz am Grabenbach.

Ein Arzt, nach Haartracht und Bart zu urteilen eher ein Medizinmann als ein Mediziner, entstieg einem der ersten Gefährte. An der einen Seite trabte auf elastisch langen Beinen ein russischer Windhund, den er auffällig laut mit Namen Messias rief, an die andere Seite schmiegte sich seine Freundin, die er Baby nannte. Es war jener Arzt, den wir in seinen privaten Räumen einst besucht hatten. Obwohl du damals Aufdringlichkeiten ausgesetzt warst, lud ich den Exzentriker zum Pfingstfest ein. Du hättest dich bestimmt dagegen gewehrt. Was ich damit bezweckte, war mir selber nicht bewusst. Ohne seinen bizarren Auftritt am Fest wäre mir einiges erspart geblieben. Er war ein Intellektueller, der sich gerne in fremder Kulisse bewegte, um kalkuliert aufzufallen. Schon arriviert mit einer eigenen Praxis, kostete er von der Jugendlichkeit der Studenten. Mit Doktortitel und weitgefächerter Halbbildung versehen, pflegte er herablassende Beziehungen zu Künstlern und Handwerkern, die sein Wohlwollen mit unterwürfiger Verehrung zurückzuzahlen hatten. Seine Freundin erschien mit nacktem Bauch und knappem Top. Beim Gehen wiegte sie den Oberkörper und hielt ihre grossen Brüste stets in pendelnder Bewegung. Auf den ärztlichen Rat ihres Freundes zog sie sich bald nach Ankunft ihre Jeanshose aus und ging in den feinen Fasern von roten Strumpfhosen umher. Da sie weder Slip noch Schlüpfer trug, schimmerte im Schritt ihrer Beine der Schatten des Schamdreiecks. Die hochhackigen Lederschuhe behielt sie an.

Ein Philosophiestudent rollte jetzt im väterlichen Cabriolet heran und sprang elegant über die Seitentür des Sportwagens. Sein sanftes, früh abgeklärtes Wesen und die ersten Silbersträhnen im sonst dunklen Haar hatten ihm den Namen Türkentaube, gerufen Türk, eingebracht. Baby begrüsste ihn mit ausgestrecktem Arm und mit nach unten gekippter Hand. Türk gab sich ihren Reizen gegenüber desinteressiert. Und doch sah ich ihn gelegentlich den Kopf herumwerfen, vorgeblich um seine Tolle mit gespreizten Fingern nach hinten zu kämmen, in Wirklichkeit aber, um mit seitlichem Blick fasziniert das Schreiten der roten Strumpfhosen zu studieren. Nach und nach füllten sich die Plätze und Räume. Ein Zahnmedizinstudent mit struppigem Bart, zerzauster Haartracht und bulligem Leib trat in die Küche. Er präsentierte grinsend und mit nassem Goldzahn seine etwas ältere Freundin. Eine Lehrerin stand verlegen in der Schar und stellte sich als Agape Zinsfuss vor. Danielle erschien mit Drahtbrille, Trikotshirt, abgewetzten Jeans und schweren Schuhen. Barbaras Gärtnerinnenleib lehnte wie aus dem Nichts im Türrahmen und lachte mir entgegen. Meret, einen breitrandigen Hut schwenkend, umsurrte auf ihrem Insekt den Lindenplatz.

Nun tänzelte ein italienischer Gitarrist aus einem weissen Alpha Romeo. Nervös wie ein Junge streifte er sich mit zwei Fingern das halblange, glänzend schwarze Haar seitlich aus dem Gesicht. Sein spitzer Mund leuchtete rot, als würde er sich die Lippen schminken oder wenigstens wundbeissen. Er war klein gewachsen und knabenhaft schlank. In den schwarzen Röhrenhosen und spitzen Stiefeletten hätte er einen Mephisto abgeben können. Die beweglichen Augenbrauen und grimassierenden Lippen verrieten ein hitziges Temperament. Immer in Bewegung hatte er bald alle begrüsst und sich einen Überblick über die Gäste verschafft. Er hatte mit mir schon improvisiert. Mein experimenteller Ansatz fand bei ihm Anklang. Er kam, um Musik zu machen, auch um mich für sein eigenes Projekt abzuwerben. Vorläufig aber interessierte ihn noch anderes. Er hatte es bald auf die Freundin des Arztes abgesehen. Sie liess sich die Werbung gefallen. Bei unserem damaligen Besuch hatte der Arzt eine Auseinandersetzung mit Baby. Wir räkelten uns auf dem Wasserbett im Wohnzimmer wie auf einem Floss und hörten den Disput in der Küche, als würde er aus dem nahen Ufergehölz dringen. Baby fühlte sich verletzt und zurückgestossen, weil er mit dir so aufdringlich flirtete. Sie redete sich ihre Sorgen von der Seele. Wir warteten angespannt auf seine Antwort. Hörten das Scheppern von Geschirr. Das Blubbern von kochendem Wasser. Der Duft von gebratenem Fisch entwich aus der Küche und strich über den phosphorgrünen Teppichflor. Dann liess der Arzt eine wortreiche Erklärung wie glitzernde Luftblasen aufsteigen und an der Oberfläche platzen. Baby sei ein ganz und gar monogames Wesen. Sie werde weder je die Möglichkeit haben noch den Wunsch verspüren, aus einer Beziehung auszubrechen. Er hingegen, sprudelte es aus ihm heraus, sei hoffnungslos polygam veranlagt. Seine Seitensprünge hätten nichts mit Untreue zu tun. Ihre Beziehung würde dadurch in keiner Weise gefährdet. Am Ende schienen sie sich zu versöhnen. Wir hörten ein Schnalzen und Suckeln, bis es nach Verbranntem roch. Sie brachten je zwei Teller in die Stube und legten sich zu uns aufs Wasserbett. Wie im alten Rom assen wir liegend. Der Arzt benutzte genüsslich die Hände. Nahm ein Stück Fisch, hielt es hoch in die Luft und liess es im Schlund verschwinden. Er rückte zu dir und tauchte mit seinen Fingern wie zufällig in deine Beine. Ich sah mich genötigt, mich einzumischen. Versuchte es humorvoll zu nehmen und schob mich als Flusswehr dazwischen. Heute kam mir Baby eigenwilliger vor. Als ob sie sich vorgenommen hätte, sich im Geiste zu emanzipieren. Ich sah, wie sie die heiteren Blicke des Gitarristen erwiderte. Sie wirkte wie eine Frau, in der sich seit Langem wieder einmal Liebesgefühle regten. Ein deutliches Indiz dafür war, dass sie ohne besonderen Grund die Jeanshose wieder überzog. Unter der Linde wurden alle vom weichen Licht geküsst. Alle suchten sich ihren besonnten oder beschatteten Platz. Ich fühlte mich nirgends zugehörig und ging von da nach dort und wieder zurück. In der Küche waren sie beim Zurichten und Einheizen, am Brunnen beim Rüsten und Schneiden, auf der das Wohnhaus umlaufenden Rampe bei Gitarren- und Handtrommelspiel. Die Wasserfläche im Trog zitterte vom Aufklatschen der Salate. Aus der Küche drang die Backhitze. In den Hohlräumen von Herd und Ofen prasselte, knallte, sprühte es wie von explodierenden Tannzapfen. Durch die Stubenfenster sank das von Lindenduft schwere Licht und warf helle Zeichnungen auf den Riemenboden. Die Vorhänge wurden bei Zugluft wie Röcke gehoben und die Töne flatterten von der Rampe in die Küche. Nur im besenschrankkleinen Plumpsklo, diesem Holzkabuff am Ende der Küchenschlucht unter der hinteren Aussentreppe, versickerte der Festlärm und wandelte sich zu einem fernen Mauscheln und Raunen, übertönt vom Sumsen der Fliegen, vom bohrenden Surren irr gewordener Bremsen und vom Rumoren des eigenen Geschäfts. Ich ging durch die Küche zurück, wo mir eine Schüssel aufgedrängt und ein Schwingbesen in die Hände geklatscht wurde mit dem Auftrag, Sahne zu schlagen.

Auf den Kopfsteinen unter der Linde sammelte sich eine Gemeinde um den Arzt. Ich suchte meinen Platz am Geländer zum Kellerabgang. Während mein Schwingbesen immer wieder stockte, hörte ich mir die ärztliche Predigt an.

»Ich habe in den USA studiert. Aus reiner Nostalgie bin ich das erste Mal per Ozeanriesen über den grossen Teich gefahren. Manhattan, verstehst du, Manhattan musst du einmal so anschiffen, wie es die Einwanderer über Jahrhunderte getan haben.«

Ein Gelächter wie von einem Schwarm Möwen klapperte seiner Einleitung hinterher. Schon hatte er die Zuhörenden im Griff. Die Handtrommel vor dem Haus verstummte. Neugierige kamen um die Ecke.

»In Chicago habe ich als Masseur gearbeitet. The best in the west bin ich gewesen, verstehst du. Dass heute einer noch fähig ist, hierzulande zu studieren, ist absurd. Wer etwas werden will, muss verreisen. Ver-rei-sen! Verstehst du. Lange halte ich diese verbiederte und verkorkste Gesellschaft nicht mehr aus. Schau dich doch um.«

Er deutete auf Danielle, die sich auf den Lattenzaun des Gemüsegartens stützte, und machte sich über deren Ernsthaftigkeit lustig. Als sie nicht reagierte, schimpfte er sie ohne vorgehaltene Hand moraltantig und ansatzweise frigid, was allerdings in dieser verklemmten Umgebung nicht verwunderlich sei. Danielle hatte nur ein schnippisches Lächeln für den Arzt übrig.

»Eigentlich müssten wir alle therapiert werden«, rief er aus. »Und das in einem Land, in dem Bleuler und Jung gewirkt haben. Die Entdecker der Schizophrenie und Deuter der Menschheitssymbole. Es ist eine Schande, wie weit wir zurückgeblieben sind. Rückständig. Verstehst du. Das Tierchen Mensch ist an einem Höhepunkt angelangt und niemand kapiert es. Seit Ewigkeiten erklären die Wissenschaften, dass wir auf das Abrakadabra der Religionen verzichten können. Die Schar der Apostel aber schaltet auf stumm. Religion? Vergiss es. Der Mensch ist eine Ansammlung von Materie. Sich selbst bewusst gewordener Dreck. Verstehst du. Alles bewiesen. Aber niemand will es hören.«

Einige lösten sich aus der Zuhörerschaft. Wollten sich das Pfingstfest nicht verderben lassen. Andere aber rückten in gieriger Erwartung näher.

»Ich weiss, dass ich meiner Zeit voraus bin, verstehst du, dass aber der Abstand zum Volk, das immer noch von Gott und Engeln babbelt, so gross ist, gleicht einer Katastrophe. Gott? Tss, das ist schlicht und einfach das Absolute. Was früher einmal Beten war, sind heute Konzentrationsübungen. Wir müssen uns fit machen. Verstehst du. Zwei oder drei Fernsehprogramme auf einmal müssen drinliegen. Sonst dämmern wir bald nur noch dahin.«

Er lachte ein kehliges Lachen, indem er aus der Gurgel mehrmals hintereinander ein langgezogenes »Ch« hervorpresste und fauchte wie eine sich verteidigende Katze. Seine Gedankenhöhe überraschte ihn offenbar selber. Seine langen Haare standen vom Kopf wie bei einem Saturn. Er fauchte noch immer. Wandte sich Einzelnen zu. Streckte seinen Hals vor und nickte wie besessen mit dem Kopf, um Zustimmung zu erheischen. Er bekam etwas Gebuckeltes. Zugleich rief seine Gestalt – weil die Hände schlaff wie nasse Handschuhe von seinen angewinkelten Armen hingen – etwas Affenartiges, etwas eindrücklich Urtümliches hervor. Er zupfte lange und auffällig an der Wolle seines rauen Pullunders, den er auf der nackten Haut trug. Endlich fragte Wanner, ob er ihn selbst gestrickt habe.

»Nicht nur gestrickt, ich habe auch am Spinnrocken gesessen«, kam die Antwort prompt. »Du weisst nicht, was ich alles kann.«

Er stellte sich auf das erhöhte Wurzelwerk der alten Linde. Mit seinem Gurt um die Taille seines ärmellosen Vlieses sah er aus wie der Mann im härenen Gewande. Mit seinen Sandalen spielte er den Messias. Er holte zum endgültigen Schlag aus.

»Gott, tss, verstehst du, ist nichts als die Verstandesabsolutheit, die wir selber zu regieren aufgefordert sind. Ch-ch-ch-ch-ch.«

Grinsen in der Gemeinde. Verlegenes Schulterzucken. Er genoss die Pause. Jetzt meldete sich Türk, der Philosophiestudent, der sich zum Auftakt die gewellten Haare mit gespreizten Fingern nach hinten strich. Er war gross. Ein leidenschaftlicher Anflug in den dunklen Augen, ein überlegter Ausdruck in Gestik und Mimik. Einer, dem das Gewand der Kultiviertheit wie selbstverständlich passte. Er begann mit sanfter Stimme einige Einwände anzubringen. Nichts von der Selbstgefälligkeit und der Despotie des Arztes in seinem Ton.

»Wenn du von einem absoluten Verstand sprichst, darfst du nicht im gleichen Atemzug von selbstbewusst gewordener Materie sprechen.«

»Was ich darf und was nicht«, antwortete der Arzt höhnisch, »musst du schon mir überlassen.«

»Ein Verstand, der als absolut gilt«, fuhr Türk unbeirrt fort, »ist auch ein absoluter Anfang. Der Anfang unserer bewussten Taten beispielsweise, aber auch des Daseins überhaupt, wenn du willst.«

»Ich will gar nichts«, frotzelte der Arzt wieder dazwischen. Einige Zuhörende begannen sich wie bei einem Wettkampf zu gebärden. Schlugen eine Faust in die Hand oder riefen ein »Ja« in die Runde. Andere lehnten am Brunnenrand. Hände in die Bundtaschen gesteckt. Ellbogen abgewinkelt. Nacken gereckt.

»Der absolute Verstand ist – wie das Wort sagt – unabhängig«, erklärte Türk. »Wer ihn für sich beansprucht, erhebt sich über das Materielle. Wer dagegen die Materie zum Ursprung des Daseins macht, ist durch sie bestimmt. Deine eben geäusserten Gedanken wären dann von deinem Gehirn ausgeschwitzt. Nicht du hättest sie gedacht, sondern die Prozesse in deinem Gehirn hätten sie ausgesondert.«

»Du kannst mir noch vieles anhängen, musst aber danach meine Reaktion ertragen«, spottete der Arzt, ohne seine nassen Handschuhe anzuheben.

Ein einsames »Ja« wurde in die Runde gerufen.

»Wenn deine Gedanken mit einem ausgeschiedenen Sekret vergleichbar sind, kann nur eine medizinische Behandlung das Denken verändern, aber keine Konzentrationsübung. Der Begriff selbstbewusste Materie ist darum irreführend. Die Erforschung des Gehirns bringt Fakten über materielle Vorgänge, die Untersuchung des Bewusstseins liefert Erkenntnisse über das Denken. In einem Fall denkt das Denken ein Objekt, im anderen denkt es sich selbst. Das ist der Graben zwischen Naturwissenschaft und Philosophie. Im Denken über das Denken kannst du Gott als den absoluten Verstand, der sich selber regiert, durchaus finden. In der Reduktion des Daseins auf Materie verschwindet nicht nur Gott, sondern auch dein persönliches Ich«.

»Das ist mir zu abstrakt!«, rief Wanner.

»Nur Kopf!«, doppelte Barbara nach.

»Ich entscheide mit dem Bauch«, liess sich der Zahnmediziner vernehmen. Aufbegehren und Befürworten. Murmeln und Rufen wechselten sich ab. Ich konnte nichts mehr verstehen. Meine Sahne begann, steif zu werden.

Türk hatte geschlossen. Er spreizte die Finger und strich seine Haare zurück. Verlegen blickte er in die Runde. Er hatte sich ins Feuer geredet. Seine Stimme war brüchig geworden. Wahrscheinlich glaubte er, sich eine Blösse gegeben zu haben. Der Arzt, ein Seismograf für psychische Schwächen und labile Erschütterungen, hatte die Stimmungslage Türks aufmerksam verfolgt und die aufkommende Schwäche mit immer höher zuckenden Augenbrauen registriert. Solche Kontrahenten brauchte er nicht zu fürchten. Der Anfänger lief von selbst ins Leere. Er begann zu rekapitulieren, was Türk ausgeführt hatte, ironisierte oder überspitzte da und dort, um einige Lacher für sich zu gewinnen. Er machte klar, dass er Türks Gedankengänge längst durchexerziert hatte. Danach referierte er geschickt über die Spitzfindigkeiten der Scholastiker, die mit der kümmerlichen Frage, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz fänden, sich ins Abseits manövriert hätten.

»Und in diesem Abseits«, behauptete er, »befindet sich die Philosophie noch heute.«

An der Hauswand entdeckte der Arzt ein Beil. Er schnappte es wie von einem Gedanken getrieben. Wog es in der Hand. Schritt auf den Scheitstock vor dem Kellerabgang zu. Drehte sich zum Publikum und stellte ein Holzstück auf den Klotz. Während er das Beil immer wieder halb fahren liess und am Stiel nachfasste, sodass es an seiner Seite wippte, brachte er seine Rede zu Ende.

»Wer über Verstand und Vernunft nur isoliert nachdenkt«, erläuterte er genüsslich, »wird im praktischen Leben nie reüssieren. Nie! Wer wie die heutigen Philosophiestudenten nur den Fussnoten hinterherrennt, statt sich im Leben zu beweisen, wird über kurz oder lang bei Herrn Bleuler oder bei Herrn Jung auf der Couch landen oder direkt interniert werden.«

Er stellte sich spreizbeinig hin. Schwang das Beil mit beiden Händen über seinen Kopf, spaltete mit einem gekonnten Schlag das Holz und schrie: »That’s life!«

Splitter spritzten in alle Richtungen. Ich war so gebannt, dass ich nicht bemerkte, wie eines der Geschosse in meiner längst steifen Sahne landete. Türk wusste gegen diese krude Argumentation nichts mehr anzubringen, umso mehr, als dem Arzt der Applaus und die Lacher sicher waren. Kopfschüttelnd zog er sich zurück. Der Ring war wieder frei. Aber kein Herausforderer stieg mehr auf die Plattform. Nur der Zahnmediziner versuchte es mit einem bissigen Witz über die Ärzte als Götter in Weiss. Sofort kam er in die Mangel. Er wurde in einige medizinische Fangfragen verwickelt, die er nicht beantworten konnte. Und schon hatte der Arzt die Möglichkeit, den Studenten als unwissend zu verhöhnen und die Zahnärzte allgemein als geldgeile Typen zu verschimpfen und als gescheiterte Mediziner abzutun. Technischer K.o.

»Was ich nicht alles weiss!«, kommentierte er, als der Gegner unschädlich in den Seilen lag. Und dann folgte wieder sein fauchendes Lachen und sein mechanisches Nicken. Trotz der Urteilsschärfe in seinen Voten hörten ihm die Leute zu. Die schlaue Einfühlungsgabe war perfekt und massgeschneidert. Im rechten Moment vollzog er eine Wende und spielte am Opfer sogleich den Therapeuten. Wer einmal als problembeladen oder unwissend analysiert war, wurde auf dem Fuss mit einer Streicheleinheit wieder sozialisiert und in Watte gepackt. Es ging auf das Essen zu. Auf der Rampe und unter der Linde gluckerten die Wasserpfeifen. Der Italiener hatte von einer moosgrünen Tafel weichen Harz in den Pfeifenkopf gebröselt. Er setzte das Zündholz an, brachte den Harz zum Glühen, inhalierte und presste die Lippen zusammen. Während er das Gefäss sofort mit der Zündholzschachtel abdeckte und an Barbara, die neben ihm auf ihren nackten Fersen sass, weiterreichte, war sein Gesicht zu einer roten Grimasse verzerrt. Wanner kauerte in der Hocke, Unterarme auf den Knien, die grossen Schuhe wie flache Boote auf der gekräuselten Fläche des gepflästerten Platzes. Troller lag auf einigen Grasbüscheln, den Kopf seitlich in eine Hand gestützt, als wäre er die Venus auf weichem Divan. Stüten lehnte wie ein Schiffsmast an der Rampe, die Füsse im Kies. Danielle übte sich im Lotussitz, die schweren Schuhe hatte sie ausgezogen. Baby stand im Schatten des Hausdaches – einen Fuss gegen den Türrahmen gestellt, die Arme verschränkt – und suchte die Augen des Italieners. Meret und ich brachten Stapeln von Tellern und anderes Geschirr nach draussen, zwischen Küche und zwei Friedenspfeifen pendelnd. Agape beobachtete die Szenen mit Skepsis, wollte die Spiele aber nicht verderben und gab das bei ihr angelangte Pfeifchen an Türk weiter, ohne einen Zug aus dem gekrümmten Schnabel gewagt zu haben. Türk wiederum, der eigentlich schon hätte losfahren wollen und von Agape zurückgehalten worden war, sass eingeknickt in der Nähe seines Cabriolets auf einem Feldstein und beteiligte sich nur halbherzig am Pfeifenritual. Der Kopf des Italieners lief jetzt ein weiteres Mal rot an. Unter keinen Umständen wollte er zulassen, dass auch nur ein kostbarer Silberfaden als Weihrauch in den Himmel stieg. Wirklich für sich alleine war nur der Arzt. Er sass auf dem Brunnenrand und drehte eine Zigarette, während ich daran war, den Schneebesen und anderes Geschirr abzuwaschen.

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