Kitabı oku: «Die Aufgabe (E-Book)»

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Markus Bundi

Die Aufgabe

Handbuch für gute Lehrpersonen

ISBN Print: 978-3-0355-1681-4

ISBN E-Book: 978-3-0355-1682-1

1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 hep Verlag AG, Bern

hep-verlag.com

Inhaltsverzeichnis

  Vorwort

  Die Aufgabe

  Lehren Asymmetrie, Ernst und Spiel Die richtige Mischung Der Akt des Unterrichtens Die Autonomie des Anderen Alte Schule, neue Medien

  Prüfen Was sich bewerten lässt Der Effizienzgedanke – oder was am Ende zählt Die Geschichte mit den Noten

  Bestehen Konsum und Konformität Die Zukunft im Blick Qualität, Zuversicht und Gleichmut

  Nachwort aus der Höhle

  Literatur

  Dank

Denn Bildung ist eben das, wofür es keine richtigen Bräuche gibt; sie ist zu erwerben nur durch spontane Anstrengung und Interesse, nicht garantiert allein durch Kurse, und wären es auch solche vom Typus des Studium generale. Ja, in Wahrheit fällt sie nicht einmal Anstrengungen zu, sondern der Aufgeschlossenheit, der Fähigkeit, überhaupt etwas Geistiges an sich herankommen zu lassen und es produktiv ins eigene Bewußtsein aufzunehmen, anstatt, wie ein unerträgliches Cliché lautet, damit, bloß lernend, sich auseinanderzusetzen. Fürchtete ich nicht das Mißverständnis der Sentimentalität, so würde ich sagen, zur Bildung bedürfe es der Liebe; der Defekt ist wohl einer der Liebesfähigkeit. Anweisungen, wie das zu ändern sei, sind prekär; es wird darüber meist in einer frühen Phase der Kindheitsentwicklung entschieden. Aber wem es daran gebricht, der sollte kaum andere Menschen unterrichten.

Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit

Vorwort

Schule ist wie Fußball: Alle wissen Bescheid. Ich schreibe also über ein prominentes Thema. Das ist schwierig, denn die Meinungen sind gemacht. Während jedoch beim Fußball die Exegeten sich noch auf die letzte Live-Übertragung beziehen, infolgedessen klarstellen, warum eine Niederlage unnötig, ein Sieg verdient gewesen sei, ist die Referenzgrundlage bei der Schule die eigene, nicht selten diffuse Erinnerung – und das, was man sich in der Zeit danach in dieser Sache zusammengereimt hat, aus der Not oder für den Bedarfsfall. Einigen bleibt nur die Wehmut, die beste Zeit ihres Lebens schon hinter sich zu haben. Wiederum andere sahen sich von Anfang an benachteiligt, finden in der Schulkarriere die Ursachen für ihr Versagen, und ja, mit dem richtigen Lehrer zur rechten Zeit wären sie durchgestartet. Selbstredend greife auch ich immer wieder auf meine Erfahrungen als Schüler zurück.

Ich glaube, dass die Aufgabe des Lehrers heilig ist; sich dieser Aufgabe zu stellen, verlangt nach unerschütterlicher Zuversicht. Sie ist kein Beruf, sie bedingt ein Ethos. Sie ist also auch zeitlos, in vielen Belangen gänzlich unabhängig von Moden und Trends, von einer gegenwärtigen Politik oder gar Ideologie. Diejenige, die zeigend, darlegend Horizonte eröffnet, derjenige, der mit Empathie Widerstand leistet, mitgeht und sich zuweilen auch geschlagen gibt, das ist die Lehrerin, das ist der Lehrer. Der Heroismus erschöpft sich im Antihelden. Christoph Türcke schreibt in Lehrerdämmerung (2016) zum Profil des Lehrers: «Er muss die Rolle der Identifikationsfigur annehmen, zulassen, dass die Kinder sich im wörtlichen wie übertragenen Sinn an ihn anlehnen – und zugleich auf ihre Selbständigkeit hinarbeiten. Er ist dann ein guter Lehrer, wenn er sie mit vollem Einsatz seiner Person dahin bringt, dass sie ihn nicht mehr brauchen.»

Wenn ich nun doch ausführlicher werde, dann zum einen, weil es vielleicht nötig ist, zu wiederholen und also darzulegen, was eine Lehrperson ist; zum andern geht es mir darum, die Diskrepanzen aufzuzeigen, die meiner Erfahrung nach zwischen dem Anspruch an die Aufgabe und den Möglichkeiten ihrer Erfüllung bestehen. Viele der scheinbaren Hindernisse, so meine ich, lassen sich überwinden oder dann umgehen.

Rahmenbedingungen, Schülerperspektive und Haltung der Lehrperson lassen sich nie zur Gänze isoliert behandeln. Weil Lehren, Prüfen und Bestehen an einer Schule nun einmal zusammengehören, lassen sich diese Bereiche nur bedingt isoliert voneinander betrachten. Dennoch scheint mir die Dreiteilung angebracht, weil auf diese Weise einzelne Aspekte gezielt in den Fokus genommen werden können. Vielleicht entspricht dieser Aufbau letztlich der Situation des Unterrichtens ganz gut: Denn es gilt, das Ganze nie aus dem Blick zu verlieren. Selbstverständlich schreibe ich hier auch als Leser; manches von dem, was ich zu Wort bringe, hat so oder so ähnlich schon jemand vor mir geäußert und entsprechend schriftlich dargelegt. Insbesondere, wenn es um die Berufung zur Lehre geht, dieser eigentümlichen Mischung von Intimität und Distanz, dürfte das auf der Hand liegen, denn diese Aufgabe ist in ihren Grundzügen schon in der Antike dieselbe gewesen.

Auskunft geben möchte ich als einer, der selbst viele Jahre als Lehrer tätig ist, insgesamt dürften es über zehntausend Lektionen sein, die ich bislang unterrichtet habe. Ich bilde mir also ein, zumindest in Teilen zu wissen, wovon ich rede.

Die Aufgabe

Ich erachte die Schule als eine der größten kulturellen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte bislang. Ihr Erfolg lässt sich allein dadurch belegen, dass sie schnell alternativlos wurde – sowohl als Aufenthaltsort für Kinder, Jugendliche und Adoleszente als auch als Bildungsanstalt, als die sie – ursprünglich – von Staates wegen institutionalisiert worden ist. Hätte sich Schule als Institution nicht über die Jahrhunderte hinweg bewährt, ich bin überzeugt, es gäbe längst andere Optionen.

Tatsächlich nimmt die Wichtigkeit der Schule in jüngster Zeit rasant und auf eine Art und Weise zu, die ich für problematisch halte. In seinem quellenreichen Text Für die Schule lernen wir (2013) zeigt Roland Reichenbach auf, wie sehr sich allein der Zeitaufwand für die Schule im vergangenen Jahrhundert und bis heute gesteigert hat. Für einige Länder Europas lässt sich von einer allgemeinen Hochschulpflicht sprechen (das trifft dann zu, wenn über 75 Prozent einer Generation eine Hochschule absolvieren). Das heißt nichts anderes, als dass in gewissen Ländern immer mehr junge Menschen bereits zwanzig und mehr Jahre an Schulen verbringen – und die Tendenz ist ungebrochen. Die Entwicklung als solche erscheint mir besorgniserregend, doch ist sie nicht Hauptgegenstand dieses Buches. Woran es aber festzuhalten gilt: Auch für die kommenden jungen Generationen dürfte Schule weiterhin unverzichtbar sein und der wichtigste Ort bleiben.

Wenn es im Folgenden darum geht, die Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern im heutigen Umfeld zu beschreiben, dann sind jene Pädagoginnen und Pädagogen gemeint, die an einer Schule Kinder, Jugendliche oder Adoleszente unterrichten, und also nicht Gelegenheits-, Nachhilfe- oder Hauslehrer und auch nicht Abendschullehrerinnen. Ich nehme diese Einschränkung vor, weil die Schwierigkeiten, die ich darlegen möchte, zur Hauptsache mit der Aufgabe zusammenhängt, die an öffentlichen Schulen zu meistern ist.

Wie stellt sich das Erfolgsmodell Schule dar? – Die meisten Räume sind Unterrichtszimmer, das bedeutet, in ihnen unterrichtet jemand, das ist die Lehrerin. Man sollte mit Synonymen sparsam sein, in gewissem Sinn ist sie die Vorsteherin des Zimmers – in jedem Fall aber ist sie die Chefin. Denn sie vertritt die Lehre, die in ihrem Zimmer unterrichtet wird, sie steht für diese Lehre ein, entsprechend ist ihr Fach in der Stundentafel vermerkt. Die Lehrperson verfügt über einen Vorsprung an Wissen, aber auch an Methoden, die mit der Vermittlung der Lehre einhergehen. Ohne ihr Wohlwollen geht genau genommen nichts, und das meint nur am Rand die Zensuren, die sie verteilt. Alle Versuche, ältere und neuere, an der Asymmetrie zwischen Lehrern und Lernenden zu rütteln, verkennen den Kern der gegebenen Situation (und das gilt selbstredend auch für Phasen, in denen sich die Lehrperson vermeintlich auf Augenhöhe mit den Schülerinnen und Schülern stellt).

Das Unterrichtszimmer ist nicht die Welt, sondern ein spezifischer Teil davon, nicht die Wirklichkeit draußen, ansonsten wäre es kein eigener Ort und nicht durch eine Tür von anderen Räumen getrennt. Es ist diese Abgeschlossenheit auf Zeit, die Unterricht erst möglich macht. Ohne diese Gegebenheit wird die Idee der Propädeutik zu einem flüchtigen Inhalt ohne Gefäß. In Konrad Paul Liessmanns Streitschrift Geisterstunde (2014) wird diese Einsicht in einen aktuellen Kontext gestellt: «In einer sich – angeblich – rasch verändernden Gesellschaft benötigen Bildungssysteme Entschleunigung, nicht Hektik, Besonnenheit, nicht Tempo, Stabilität, nicht permanenten Wandel, Sicherheit, nicht medialen und politischen Dauerbeschuss.»

Schulzimmer weisen unter sich – zumindest in der westlichen Welt – eine erstaunliche Ähnlichkeit auf: Sie bieten Platz für 25 bis 35 Schülerinnen und Schüler. In solchen Räumen werden also Klassen (Abteilungen, Kurse) unterrichtet. Je höher die Schule, desto homogener die Klassen, denn Schulen unterliegen dem Leistungsprinzip. Schülerinnen und Schüler werden aufgrund erbrachter Leistungen promoviert, es findet eine Selektion statt.

Dieses Setting ist über Jahrhunderte zu dem geworden, was es heute ist. Zwar werden einzelne Aspekte eines Schulsystems immer wieder hinterfragt, offen kritisiert, zuweilen entsprechend justiert oder modifiziert, doch fraglos ist die Institution Schule das stabilste System einer jeden Gesellschaft. Wirtschaftskrisen oder auch Kriege können der Schule in der Regel nicht viel anhaben. Bricht in einem Staat das Schulsystem zusammen, befindet sich dieser Staat unmittelbar vor der Auflösung. Andersherum: Schule ist der Stabilitätsfaktor einer Gesellschaft, in keinem anderen System findet sich heute auch nur eine ähnliche Kontinuität.

Die Gesellschaft ist seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts merklich in Bewegung. Hielt die Generation heutiger Großeltern noch den Wahlspruch «Trautes Heim, Glück allein» hoch, so ist insbesondere die Familie mittlerweile kein fixes Arrangement mehr. Die Zeiten, in denen der Vater ein Leben lang und nahe dem Wohnort derselben Arbeit nachging, währenddem die Mutter zu den Kindern schaute, den Haushalt besorgte, sind wohl endgültig vorbei. Im einen Haus kommt es zur Scheidung, im andern entsteht eine neue Patchwork-Familie. Die Karriere des Kindes beginnt im Kinderhort, oft, bevor es um sich selber weiß, führt über Kitas und Kindergärten in die Schule. Kommt das Kind nach Hause, trifft es nicht selten niemanden an. Infolgedessen ist die Schule für viele junge Menschen der vertrautere, mitunter der sicherere Ort.

Und dennoch: Weder die Verpflichtungen noch die Verantwortung von Menschen, die Kinder in die Welt setzen, sind im 21. Jahrhundert kleiner geworden. Die Schule kann (oder soll) das Zuhause nicht ersetzen, die lehrende Funktion der Eltern lässt sich nicht delegieren: «Der Beginn des wechselseitigen Zeigens ist die Menschwerdung im engeren Sinne. Der Mensch ist das zeigende Tier. Er macht seinen Nachkommen nicht nur vor, was die dann nachmachen. Sondern er hebt Sachverhalte hervor, die er dann mit ihnen teilt. Zeigendes Hervorheben ist Lehren. Das zeigende Tier ist auch das lehrende Tier, und die ersten Lehrer sind Mütter und ihre Trabanten» (Türcke).

Lehren

Eine Lehrerin muss Vorbild sein – sowohl für das, was sie ist, als auch für das, was sie vertritt, wofür sie einsteht. Ohne diese Selbstverständlichkeit verdient sie keine Aufmerksamkeit. Wer nicht der Überzeugung ist, als Vorbild dienen zu können, taugt nicht als Lehrperson. Sie oder er stünde permanent neben den Schuhen, suchte das Heil in wechselnden Rollen im steten Versuch, den Anschein einer Lehrkraft zu wahren. Das ist nicht nur kräfteraubend, daraus entsteht auch kein fruchtbarer Unterricht. Im besten Fall schauen beachtliche Einzelvorstellungen heraus, nie aber ein organisches Ganzes.

Der Umkehrschluss, Lehrerinnen und Lehrer dürften keine Rollen spielen, ist freilich falsch. Tatsächlich verfügen Lehrkräfte über ein beeindruckendes Repertoire an Rollen; es gehört zum Rüstzeug einer jeden Pädagogik. «Lehren stellt eine spezifisch absichtsvolle Form der Ansprache in sozialer Kommunikation und Interaktion dar», schreibt Andreas Gruschka. Das Planerische hat freilich seine Tücken, denn schon junge Menschen entwickeln schnell ein Gespür dafür, wenn links und rechts Leitplanken aufgestellt werden, wenn der eingeschlagene Weg keine Abzweigungen mehr bietet. «Gelungene pädagogische Arrangements zeichnen sich durch ein Paradox aus: die Absichtslosigkeit», hält Reinhard Kahl fest, und er stellt die rhetorische Frage: «Ist vielleicht ein Übermaß an Absicht die Erbsünde der Pädagogen?»

Vorbild sein zu wollen, lässt sich nicht lernen. Es handelt sich um eine Voraussetzung, die jede Lehrperson mitbringen muss, ein Charakterzug, der freilich ambivalent ist, ohne den entsprechenden Willen jedoch sollte sich niemand freiwillig vor eine Klasse stellen. Es geht um Glaubwürdigkeit, ohne die nie ein Vertrauensverhältnis entstehen kann: Fühle ich mich als Lehrer in einem Unterrichtsraum nicht wohl, kann ich nicht unterrichten. Ich muss mich darstellen und der Situation aussetzen wollen, selbst wenn dies, mein Tun, nur immer dem Stand meiner jüngsten Irrtümer entspricht. Ohne ein hohes Sendungsbewusstsein keine Lehre.

Unterrichten meint auch immer Verschwenden und hat mit Verwalten nur dann etwas zu tun, wenn es darum geht, Störfaktoren zu bekämpfen, die dem Lehren und Lernen abträglich sind. Unterrichten ist also im Grundsatz ein Geben. Das Einstehen für die Sache ist ein Stehen für sich. Ist das zu Vermittelnde nicht Herzenssache, ist es niemandes Sache: Bilden Lehrer und Stoff keine Einheit, zerfällt beides – anders gesagt: Es besteht kein Interesse mehr, übrig bleibt eine Marionette, die irgendwem etwas vorgaukelt. Eine Marionette aber ist als Vorbild untauglich, ein Irgendetwas bleibt immer unverbindlich.

Mangelt es in der Klasse an Aufmerksamkeit, so liegt das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht nur an den Schülerinnen und Schülern. Unterrichten ist Unterhalten, also das Publikum in Bann ziehen.

Den Schülerinnen und Schülern geht es zunächst allerdings nie um alles (warum sollte es das?), doch sind sie (fast) immer bereit, sich verführen zu lassen. Demut dürfte den Lehrkräften kein schlechter Ratgeber sein: «(…) man kann auch zu der Einsicht kommen, dass der Charme der Pädagogik gerade darin liegt, jenseits der Resignation und Klage über einen ‹unmöglichen Beruf› (Freud) die Aktstruktur der Vermittlung als das Moment der Freiheit wie der Herausforderung zu sehen» (Gruschka).

Asymmetrie, Ernst und Spiel

Unterhalten meint: begeistern und überraschen – oder auch nur durchbringen. Denn das Ziel eines Lehrers kann nur das eine sein: die Schülerinnen und Schüler zum Denken anregen (solange diese dafür nicht zu ausgelaugt sind). Ernsthaftigkeiten durchspielen, Varianten testen, Fehler machen, auch vorsätzlich, das ist Sinn und Zweck jeder Übung. Eine Übung ohne Wagnis ist verbrannte Zeit. Ohne Verrückungen ergibt sich nie ein neues Bild – und also kein Aha-Effekt. Dieses Durchspielen, Testen, Scheitern und Gelingen entspricht der Idee der Propädeutik: ein Vorbereiten und Vorbilden, das Horizonte zur eigenen Bildung eröffnet.

Eine Lehrerin muss eine erfahrene Spielerin sein, deren Mut zum Risiko aber ungebrochen ist. Hat sie ausgespielt, gar abgeschlossen, so hat sie nichts mehr zu sagen. Wir setzen uns zusammen, damit wir uns auseinandersetzen können. In diesem Wir ist die Lehrperson inbegriffen: Stellt sie sich selbst nicht zur Disposition, erklärt sich stattdessen zur Nichtspielerin, entbindet sie sich jeder Zuständigkeit – und bleibt außen vor. Wer nicht Motor und Katalysator in einem sein will, ist keine Lehrkraft.

Die Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler anzunehmen, heißt, sich ihnen aussetzen, heißt, stets von Neuem den Beweis zu erbringen, als Vorbild bestehen zu können – als Mensch zu bestehen. Dazu gehört fraglos fachliches Wissen, damit sich aber eine Verbindlichkeit hinsichtlich des Stoffes überhaupt etablieren kann, bedarf es der Integrität. Handelt es sich bei der Lehrperson nicht um eine präsente, um eine fassbare Person, ist jede Annäherung an ein Thema – beziehungsweise an die Methode zu dessen Vermittlung – von vorneweg prekär.

Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: Kein Lehrer ist Superman. Gerade nicht. Doch er muss mit beiden Füßen auf dem Boden – sprich im Leben – stehen, und er muss Inhalte vermitteln wollen. Abstrahiert er während des Unterrichtens von seiner Person, möchte er lediglich Stoff durchnehmen, wird nur wenig von dem, was er an die Jungen heranzutragen versucht, bei diesen ankommen.

Ich erinnere mich an einen meiner Englischlehrer, er zeichnete sich nicht nur durch eine Begeisterung für Literatur aus, die weit über den Pflichtstoff hinausging, er konnte auch leidlich Gitarre spielen – und singen. Damit hatte er uns alle in der Tasche (nicht zuletzt, weil er dieses Instrument dosiert einzusetzen wusste). Ein anderer, ein Geschichtslehrer, an den ich mich gut erinnere, war Politiker, zu meiner Gymnasiumszeit Mitglied des Schweizer Nationalrats. Da kamen Faxnachrichten bei uns an, die der Mann im Zug nach Bern eilends noch verfasste, um uns zumindest aus der Ferne zu grüßen, da standen aktuelle Themen zur Debatte, da ging es zuweilen auch um Wahlkampf.

Kurzum: Das waren Lehrpersonen, die als Vorbilder taugten – fassbar als Menschen im Unterricht und über die Schule hinaus. Werden Wirkungskreise spürbar, entstehen Resonanzräume, die mit der Funktion des Stoffvermittelns allein nicht zu schaffen zu sind.

Selbstverständlich tut eine Lehrkraft alles, um einen guten Unterricht zu gewährleisten, doch sie ist keine Maschine. Sie kennt Trauerfälle, auch sie findet nicht immer leicht in den Schlaf. Der Energietank ist zwar hoffentlich immer annähernd voll, doch gewiss nicht zu jeder Zeit. Wer Indisponiertheiten um jeden Preis zu kaschieren versucht, kann nicht mehr ankommen. In den Worten von Theodor W. Adorno: «Sie [die Lehrer] dürfen ihre Affekte nicht unterdrücken und dann rationalisiert doch herauslassen, sondern müßten die Affekte sich selbst und anderen zugestehen und dadurch die Schüler entwaffnen. Wahrscheinlich ist ein Lehrer überzeugender, der sagt: ‹Jawohl, ich bin ungerecht, ich bin genauso ein Mensch wie ihr, manches gefällt mir und manches nicht›, als einer, der ideologisch streng auf Gerechtigkeit hält, dann aber unvermeidlich verdrückte Ungerechtigkeit begeht.»

Der Verdacht, die Schule sei weltfremd, wird gern und oft geäußert. Doch was sind die Gründe dafür? Dass der Ernst des Lebens ausgeblendet werde? Die Realität außen vor bleibe? Die Praxis zu wenig zum Zug komme? Zu wenig konkrete Ausbildung hinsichtlich zu ergreifender Berufe gepflegt werde? – Erstaunlich und eigentlich durch nichts zu begründen ist die Idee, man habe es ja von vorneweg immer schon mit fertigen Menschen zu tun, schließlich ist doch in jedem das Potenzial zum Erwachsenen angelegt, es braucht nur noch in die richtigen Bahnen gelenkt zu werden, man liefere also gefälligst die zukünftigen Redakteurinnen und Ingenieure, Informatiker und Managerinnen, die Ärztinnen und Juristen – das kann doch nicht so schwer sein, ist doch alles im Internet greifbar … Liessmann hält dagegen: «Eine Pädagogik des Denkens, Erkennens und Verstehens will nicht die Sinnlichkeit reizen, sie will die Sinne vergessen machen. Sie beschwört und inszeniert nicht Lebensnähe, sondern hält daran fest, dass das Denken eine Form der Abstraktion und Konzentration ist und eine Störungsfreiheit benötigt, die eine gewisse Lebensferne, eine Distanz zum Alltag, eine methodische Reduktion geradezu als eine Voraussetzung erscheinen lässt.»

Jede Lehrerin und jeder Lehrer weiß, dass Entwicklung Zeit braucht. Ein Selbstbewusstsein zu gewinnen, um Verantwortung übernehmen zu können, bedingt die Möglichkeit, Fehler zu machen. Austesten, Wagnisse eingehen und zuweilen scheitern – wer den Umgang mit Freiheit nicht übt, wird zu keinem eigenen Denken finden, kein rechtes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten gewinnen. Wie Hartmut Rosa im Gespräch mit Wolfgang Endres (Resonanzpädagogik, 2016) formuliert: «Das bedeutet, sich auf eine Resonanzbeziehung einzulassen. Konkret heißt das, offen dafür zu sein, dass mir etwas Neues oder anderes begegnet, wovon ich berührt, ergriffen oder bewegt werde, also zuzulassen, dadurch verändert zu werden. Und das geht immer auch mit einer gewissen Verletzlichkeit einher. Schule kann und soll einen Schutzraum dafür bilden.»

Klotzen und Kleckern, Lachen und Weinen, Bestätigung und Enttäuschung – oder einfacher: Um zu erfahren, was geschieht, wenn ich etwas tue, ohne hernach gleich angeklagt oder desavouiert zu werden, dafür ist das Schulzimmer da. Dieses Verständnis der Funktion von Unterrichtsräumen ist gerade nicht weltfremd, sondern weltoffen, wie ein Blick in die von Karl Popper genannten «Grundlagen zu einer neuen Berufsethik» bestätigt: «Es ist unmöglich, alle Fehler zu vermeiden oder auch nur alle an sich vermeidbaren Fehler. Fehler werden dauernd von allen Wissenschaftlern gemacht. Die alte Idee, dass man Fehler vermeiden kann und daher verpflichtet ist, sie zu vermeiden, muss revidiert werden: Sie selbst ist fehlerhaft.»

Das Schulzimmer ist der Schutzraum der Entfaltung, und dafür gibt es keinen adäquaten Ersatz, weder zu Hause noch auf der Straße, auch nicht in der Zukunft. Denn Entfaltung (Selbsterkenntnis) bedingt die anderen, sowohl die Mitschülerinnen und Mitschüler als auch die Lehrerin, ergo ein bekanntes Umfeld mit gültigen Spielregeln. So verstanden, ist der Lehrer immer auch Gastgeber (nicht Dienstleister). Der Respekt und das Wohlwollen den Schülern gegenüber ist grundsätzlicher Natur. Hingegen zu erwarten, beides komme vonseiten der Lernenden der Lehrperson gegenüber ebenso natürlich, entspricht einem Missverständnis, sitzt dem Fehlschluss auf, es handle sich bei einer Schulklasse um eine Gruppe ausgewachsener Menschen. «Jeder pädagogische Prozess, selbst wenn er das nicht will, beinhaltet einen Moment von Paternalismus. Das heißt, dass es in der Erziehung eine Art von Bevormundung gibt, die das Gute für das Kind will, auch wenn es gegen seinen Willen durchgesetzt wird» (Rosa).

Die Differenz, die es zwischen jungen Menschen und Erwachsenen gibt, geben muss, gilt es auszuhalten. Niemand kommt zur Welt und steigt am nächsten Tag in einen Formel-1-Wagen, und kein Kind ist in der Lage, einem älteren Menschen einen Zahnersatz zu implantieren. Ob man sich alltägliche Fähigkeiten in Erinnerung ruft oder eine neurologische Studie darüber liest, wie sich das Gehirn eines Menschen in jungen Jahren entwickelt (und derweil zunehmend an Plastizität verliert), die Unterschiede sind mannigfach, und sie sind offenbar. Wäre dem nicht so, der Pädagoge wäre nie erfunden, die Ideen von Erziehung und Lehre schon immer als Hirngespinste abgetan worden. Schon im Einstieg zu seiner berühmt gewordenen Schrift Emile oder Über die Erziehung (1762) legte Jean-Jacques Rousseau dar: «Man beklagt den Kinderstand, aber man sieht nicht, dass die Menschheit zugrunde gegangen wäre, wenn der Mensch nicht als Kind begonnen hätte.» – Ohne den hier diagnostizierten Unterschied wäre eine Entwicklung weder möglich noch nötig. Im herausgehobenen Kinderstand steckt freilich eine Reihe von bedenkenswerten Implikationen, die ich hier nicht weiter kommentiere. Es reicht fürs Erste aus, daran festzuhalten, dass Entwicklung sowohl möglich als eben auch nötig ist.

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