Kitabı oku: «Der Engel, der seine Flügel verbrannte», sayfa 2

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Das menschliche Cello

Die Musikerin sitzt in schwarzer Corsage auf dem Stuhl, das Violoncello zwischen den Schenkeln. Ihre Finger zittern am Hals des Instruments. Strähnen fließen silbern durch die Flut ihres Haares und locken sich dunkel vor ihrem Bauch. Sie streicht das Cello. Wieder und wieder gleitet der Bogen über die Saiten. Die Musik weitet das Zimmer zu einer Kathedrale. Die Augen der Cellistin ruhen auf der jungen Frau, die ihr nackt und mit verbundenen Augen gegenübersitzt. Weich schweben die Töne durch den Raum, legen sich nieder auf dem Piano in der Ecke, den schweren Samtvorhängen und dem Kirschholzboden. An der Haut des Mädchens perlen sie ab wie Schmelzwasser und hinterlassen ein heißes Sehnen. Mit leicht geöffnetem Mund sinkt ihr Kopf in den Nacken; feine Schweißperlen wie poliertes Glas zieren ihre Oberlippe. Die Abendsonne spielt auf den schummrigen Wänden. Eine vorüberziehende Wolke blickt kurz in das Zimmer, ehe der Wind sie aus dem Schoß des Abends treibt. Ein Lufthauch, warm wie der Atem eines Tieres, strömt durch das offene Fenster ins Zimmer und streichelt die Frauen.

Eine alterslose, porzellangesichtige Japanerin tippelt im schwarzen Tai-Chi-Anzug herein, das graue Haar zum Knoten gesteckt, der von zwei langen, gekreuzten Holznadeln gehalten wird. Sie bringt einen Pinsel mit und chinesische Tusche. Auf das Kopfnicken der Cellistin hin zieht sie das Mädchen behutsam vom Stuhl und fordert von ihr mit hypnotischer Stimme, vor der Musikerin niederzuknien und ihr die Stiefel zu küssen.

Die Kleine tut, wie ihr befohlen.

Die Japanerin setzt sich neben sie auf den Stuhl und malt dem Mädchen mit der Präzision einer Kalligraphin zwei Schallöffnungen auf den schmalen, nach vorn gebeugten Rücken, die in Größe und Form exakt denen des Cellos entsprechen.

Das Flüstern der Musik macht Platz für den Gesang der Zikaden. Die Realität beginnt, ihre Blätter einzurollen.

Die Cellistin gibt der Asiatin einen Wink. Diese verbeugt sich, schiebt den Stuhl in den Winkel und entfernt sich, den Kopf wie im Gebet gesenkt.

Hinter dem Rücken des Mädchens lehnt ein mannshoher Barockspiegel an der Wand. Die Musikerin betrachtet darin von oben bis unten das Abbild der jungen Frau, die devot vor ihr auf dem Boden kniet: blondes Haar, das im Nacken zu einer Spitze ausläuft; Schulterblätter, gefalteten Flügeln gleich; ein vollendet symmetrisch geformtes Gesäß, das auf den Fersen ruht. Die Cellistin legt ihr Instrument fort und rückt mit dem Stuhl ganz dicht an das Mädchen heran, saugt ihr einen leichten Biss auf den Hals, dass der Kleinen die Röte ins Gesicht schießt. Die Zunge der Cellistin gleitet in ihren Mund und presst sich weich gegen die ihre. Mit der Linken packt sie den schmalen Nacken und hält ihn gefangen, die Rechte tastet nach dem Cello-Bogen. Als die Lippen sich voneinander lösen, beobachtet sie sich selbst im Spiegel. Mit wachsender Erregung streicht sie die gespannten Pferdehaarsaiten mehrmals hintereinander über den Rücken des Mädchens, das erzittert und wimmert und sich auf die Lippen beißt, um nicht zu schreien. Die Finger der Cellistin graben sich in den Hals der anderen. Süßer Schmerz fährt durch deren Körper und gebiert flüssige Perlen, die unterhalb der Augenbinde an ihren Wangen hinunterlaufen.

Mit Entzücken gewahrt die Musikerin die Striemen auf dem Rücken des Mädchens. Langsam fährt sie ihr mit der Stiefelspitze in der Loipe des Rückgrats bis zum Steißbein hinab. Eine Welle der Begierde durchfährt sie dabei: ihre Schenkel zittern, ihr Gesicht verzerrt sich vor Lust, und der Brunnen in ihrem Schoß läuft über.

Als die Nacht hereinbricht, klatscht die Musikerin ein paar Mal in die Hände. Ihr schönes Gesicht leuchtet vor Befriedigung. Der besessene Glanz in ihren Augen ist etwas gewichen, der teuflische Zug um ihre kleinen, vollen Lippen jedoch ist geblieben.

Abermals betritt die Japanerin den Raum: sie schiebt einen schwarzen Cello-Koffer vor sich her. Sie legt ihn neben dem Mädchen auf den Boden und klappt ihn auf. Sie nimmt das Mädchen bei der Hand und führt es, bis es sich aus freien Stücken wie ein Embryo in die mit schwarzem Samt ausgelegte Schale hineinschmiegt. Daraufhin wird der Koffer zugeklappt und die Schnallen werden geschlossen. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte stellt die Japanerin den Koffer auf und rollt ihn ins Musikzimmer nebenan, wo sich bereits identische Koffer befinden, in denen menschliche Cellos stumm verharren.

Die grotesken Schwestern

Bianca und Rosalie gehörten zu der Kategorie Zwillinge, die sich glichen wie ein Ei dem anderen, sodass eigentlich nur ihre Mutter sie zuverlässig unterscheiden konnte. Dass sie die genau gleichen Frisuren trugen, machte die Sache auch nicht einfacher. Oft machten sie sich einen Spaß daraus ihre Umwelt zu verwirren, indem sie ihre Identitäten tauschten. Sehr zum Leidwesen ihres Vaters: »Bianca, hilf doch bitte mal deiner Mutter beim Abwasch.«

»Papa, ich bin die Rosalie!«, sagte Bianca scheinbar entrüstet und verdrehte die Welpenaugen. »Ich hab schon den Tisch abgeräumt, soll Bianca helfen.«

Ihr Vater musterte mit erhobenen Händen hilflos seine Frau, die still in sich hineinlächelte und einen raschen Blick mit Rosalie tauschte, die sich grinsend aus dem Staub machte. Da mit der Zeit die Streiche der Mädchen jedoch an Dreistigkeit zunahmen, beschlossen die Eltern − nomen est omen − Bianca fortan ganz in Weiß, Rosalie dagegen in Rot zu kleiden, damit nun wirklich jeder sah, mit welchem der Zwillinge er es zu tun hatte. Den Kindern verbot man die Kleider zu tauschen, und damit sie sich daran hielten, machten ihnen die Eltern kleine Geschenke für gute Schulnoten oder die Mithilfe im Haushalt: So bekam Bianca eine weiße Haarschleife oder eine weiße Muschel, während Rosalie im Gegenzug mit einem roten Wasserball oder einem Körbchen Erdbeeren belohnt wurde. Allmählich entwickelte jede ein Faible für ihre Farbe. Bianca wurde zu einer Adeptin des Weiß, Rosalie schwärmte für das Rot. Zugleich wuchs in beiden eine Abneigung gegen die Farbe der anderen heran, die in den nachfolgenden Jahren immer ausgeprägter werden sollte.

Im Erwachsenenalter lebten die Yin-Yang-Zwillinge weiterhin gemeinsam im Haus ihrer längst verstorbenen Eltern. Zwar hassten sie sich mittlerweile bis aufs Blut, doch brauchten sie einander auch, so wie das Licht den Schatten. Ihr Farbfetischismus hatte inzwischen schon fast krankhafte Ausmaße angenommen, sodass sie sämtliche Freunde, Verwandte und auch die heiratslustigen Männer vergraulten und gezwungenermaßen ein einsames, zurückgezogenes Dasein fristeten. Ihr einziger Hausgenosse war Rosalies Kater Barbarossa, den Bianca aber wegen seines kupferroten Fells verabscheute.

Einmal, als Rosalie an einem Wintertag ihre roten Lederstiefel vor dem Haus anziehen wollte, waren diese bis zum Rand mit Schnee gefüllt. Maliziös lächelnd beobachtete Bianca durchs Küchenfenster hindurch, wie ihre Schwester fluchend den Schnee aus den Stiefeln schüttelte und den Rest mit den Fingern herauskratzte. Als sie aus der offenen Milchtüte trank, hatte sie plötzlich Ketchup im Mund. Sie eilte zur Spüle und spuckte angewidert aus.

Bianca hockte mit hochgezogenem Fuß auf dem Toilettensitz und lackierte sich die Zehennägel weiß, als Rosalie mit ihrer exzentrischen roten Brille à la Elton John den Kopf durch den Türspalt steckte und genervt ein weißes Halstuch ins Badezimmer schmiss. »Was hat dieses Ding auf meiner roten Bettdecke verloren?«

»Keine Ahnung«, meinte Bianca und wackelte mit den Zehen.

»Untersteh dich bloß.« Mit einem Kopfschütteln verschwand Rosalie, und an ihrer Stelle spazierte Barbarossa ins Bad und beschnüffelte das Tuch.

Bianca hatte sich inzwischen den anderen Fuß vorgenommen und beobachtete den Kater argwöhnisch. »Hau ab!«, zischte sie und drohte ihm mit dem erhobenen Lackpinsel.

Der Kater hob den Kopf und fauchte sie an. Dann zitterte er mit dem Schwanz, und ehe Bianca reagieren konnte, markierte er auf ihren Schal und rannte davon.

»Eines Tages krieg ich dich, du rolliger Bastard!«, rief Bianca ihm hinterher. »Pfui Teufel, stinkt das!«

»Was hast du eben gesagt?« Rosalie war zurückgekehrt und schob sich ihre Brille auf die Stirn hoch. Auf ihrer Stirn erschien eine senkrechte Falte.

»Lass das blöde Vieh endlich kastrieren.«

»Kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Kram.«

So zog sich der Kleinkrieg noch eine Weile hin, bis eines Tages Barbarossa auf dem Feld eine vergiftete, sich im Todeskampf windende Maus erwischte und auffraß. Nicht lange nachdem er ins Haus zurückgekehrt war, zitterte er plötzlich unter Krämpfen und seine Augen quollen hervor. Als Rosalie ihre Katze in diesem jämmerlichen Zustand erblickte, kniete sie sich neben sie und streichelte sanft ihren Kopf. »Was hast du, mein Süßer?« Als der Kater zu würgen anfing und sich übergeben musste, rief sie in scharfem Ton nach ihrer Schwester.

»Was ist los?«, fragte Bianca, die mit verschränkten Armen gemächlich die Treppe herunterstieg. »Igitt, der kotzt ja wie ein Reiher!«

»Danke für dein Mitgefühl.« Rosalie schoss einen giftigen Blick auf Bianca ab. »Es geht ihm gar nicht gut.«

Achselzuckend und mit distanziertem Interesse musterte Bianca die Katze. »Dann bring ihn zum Tierarzt.«

»Vorhin krampfte er, als wäre er vergiftet worden.« Der versteckte Vorwurf in Rosalies Stimme war unüberhörbar.

»Und was hat das mit mir zu tun?«

Rosalie verbiss sich eine Antwort und beeilte sich, den Katzentransport-Käfig aus dem Keller zu holen. Dann wickelte sie ihren Kater in ein Frottiertuch und legte ihn in den Käfig. »Mach wenigstens sauber hier!«, ermahnte sie Bianca, als sie mit dem kranken Tier das Haus verließ.

Nachdem der Tierarzt Barbarossa von seinem Leiden erlöst hatte, kehrte Rosalie mit verweinten Augen nach Hause zurück. Als sie im Korridor den leeren Tiertransportbehälter abstellte, hört sie Biancas Singsang aus dem Bad: »Gestern rot und heute tot. Ich vermiss dich nie, du garstig Vieh …«

Na warte, Katzenmörderin du!

Rosalie schnappte sich das Tranchiermesser aus der Küche und ging geduckt in Richtung Badezimmer. Durch den weißen Duschvorhang erblickte sie die Silhouette ihrer verhassten Schwester, wie sie sich den Schaum vom Körper abbrauste. »Diesem scheißweißen Badezimmer fehlen einfach ein paar rote Akzente«, murmelte sie vor sich hin, und ihre Hand mit dem Messer schnellte vor. Die Klinge durchstieß den weißen Vorhang und bohrte sich in den Körper ihrer Schwester.

Bianca schnappte nach Luft, die Duschbrause fiel ihr aus der Hand und polterte in die Wanne. »Rot…«, stammelte sie fassungslos, stöhnte, und sackte zusammen.

Die Maske des Entführers

Von völliger Finsternis umgeben kommt Sarah zu sich. Benommen hebt sie den Kopf, ein Schmerz durchzuckt sie, als ob ein Hammer gegen die Hirnschale schlagen und jemand gleichzeitig ihre Sehnerven durchschneiden würde. Die blonden Haarsträhnen kleben ihr an der verschwitzten Stirn. Stöhnend versucht sie sich in der Realität wiederzufinden, hört ihr Herz klopfen, ertastet mit den Fingerspitzen eine Matratze. Bruchstückhaft erinnert sie sich daran, wie sie in der schummrigen Tiefgarage nach dem Fitnesstraining ihre Sachen in den Kofferraum ihres Wagens lud, als sie … hinterrücks niedergeschlagen wurde? Sie bemüht sich, tief und gleichmäßig zu atmen. Hier drin stinkt es erbärmlich. Kellermoder und Mief. Hat man mich entführt? Warum? Lösegeld kann keine Rolle spielen, ich komme aus einfachen Verhältnissen. Was dann?

Die Alternative zum Lösegeld bringt ihr Herz zum Rasen. Das Schlimmste aber ist, dass sie in den nächsten zehn Tagen niemand vermissen wird, da sie heute offiziell im Flieger nach Mauritius sitzt. Niemand weiß, wo sie sich dort genau aufhalten wird, nicht einmal ihr verheirateter Lover Serge, der momentan an einem mehrtägigen IT-Administrator-Training teilnimmt.

Scheiße verfluchte!

Sarah hat nicht die Kraft aufzustehen, ihr ist so schwindelig, und doch erkennt sie vor sich die schwach erhellten Umrisse einer Tür. Sie versucht, sich auf die in der Mitte leuchtende kleine Glasscheibe zu konzentrieren. Eisige Panik greift nach ihr, als eine weiße Vollmaske dahinter auftaucht. Minutenlang wird sie stumm beobachtet, ehe die Maske weggleitet. Das Licht hinter der Tür brennt weiter und macht Sarah, der alle Farbe aus dem Gesicht gewichen ist, die bedrückende Enge ihres Kellerverlieses nur allzu bewusst.

Nach einer Weile hört sie eine Flüsterstimme: »Hallo? Wie heißt du?«

Sarah rappelt sich hoch, merkt, dass sie ihre Sneakers nicht mehr anhat, und lauscht gebannt.

»Komm rüber zur Wand. Komm …«

Vorsichtig bewegt sich Sarah im Dunkeln auf die Stelle zu, von der sie die Stimme vermutet. Dort ertastet sie ein Loch in der Betonwand, etwas größer als ein Bierdeckel. »Wer ist da?«

»Ich bin Chloé. Und du?«

»Sarah … Wurdest du gekidnappt?«

»Ja.« Ein Schniefen.

»Wie …«, stockend holt Sarah Luft. »Wie lange bist du schon hier?«

»Weiß nicht. Seit Tagen? Oder Wochen?« Chloés Stimme klingt rau.

Sarah braucht ein paar Sekunden, um diese Information zu verdauen. »Weißt du, wer der Maskenmann ist? Was will er von uns?« Sie hat sich vor das Loch gesetzt.

»Keine Ahnung, aber er muss ein Sadist sein. Manchmal quält er mich. Einmal stand die Zellentür offen, und als ich mich rausgeschlichen habe, hat er mir oben an der Treppe aufgelauert, um mich niederzuschlagen und mir eine Plastiktüte über den Kopf zu ziehen. Bin dabei fast erstickt. Dann … dann hat er mir mit einer Rasierklinge in die Oberarme geschnitten und Salz in die Wunden gerieben, ich war fast wahnsinnig vor Schmerz.« Es folgt ein Schluchzen. »Das Schwein sagt nie ein Wort und trägt immer eine weiße Maske.«

Sarahs Augen weiten sich. »Denkst du er belauscht uns?« Sie senkt die Stimme. »Sicher ist hier alles verwanzt.«

Erneutes Schniefen. »Und wenn schon. − Hast du Durst?«

»Meine Kehle ist staubtrocken.«

»Hier, ich geb dir Wasser rüber. Wenn ich schlafe, stellt mir das Schwein oft Wasser und Essen in die Zelle.« Sarah ertastet eine Plastikflasche. »Danke.« Kann ich dieser Chloé trauen? Sie schraubt den Deckel ab und riecht am Flaschenhals. Kein verdächtiger Geruch. Der Durst ist stärker als die Angst. Sie trinkt in großen Schlucken, benetzt Gesicht und Nacken und fühlt sich ein bisschen frischer. »Wenn du schon so lange hier gefangen bist, sucht man sicher nach dir.«

»Ha.« Ein freudloser Lacher. »Etwa mein Zuhälter, dieser Wichser? Dragan rennt gewiss nicht zu den Bullen und meldet mich als vermisst.«

»Du gehst auf den Strich?«

»Ja, na und?«

»Wie bist du entführt worden?«

»Eine schwarze Limo hielt am Bordstein an und der Fahrer hat mir durchs offene Fenster einen großen Schein gezeigt. Gottverdammich, dass ich eingestiegen bin! Hab aber nicht viel von ihm gesehen, es war ja Nacht. Er trug Hut und Brille. Sofort hat er die Türen verriegelt und mir einen stinkenden Lappen ins Gesicht gedrückt. Ich wurde ohnmächtig.«

Wie viele Jahre wird Sarah schon in diesem Keller gefangen gehalten? Dreckverkrustet über den Boden kriechend … Hungerqualen leidend, mit verfilztem Haar und stumpfem Blick zusehends dem Wahnsinn verfallend … Brüllend wie ein verwundetes Tier, sich immer wieder gegen die Türe werfend …

Und nun ist der Maskenmann gekommen, um nach Chloé auch sie zu töten.

Vom Korridorlicht erhellt, steht er wie ein Schattenriss unmittelbar vor ihr. Ein strenger Modergeruch geht von ihm aus. Er reißt sich die Maske ab und wirft sie achtlos weg. Sein Gesicht ist wie von der Lepra entstellt, die Lippen sind weggefressen. Namenlose Angst erfasst Sarah. Zitternd kauert sie sich noch mehr zusammen und hört sich schreien, als sie seine Finger auf der Haut spürt. Ein Meer von Angst und Grauen reißt sie mit sich fort … Schweißgebadet und um sich schlagend erwacht sie aus ihrem Alptraum. Ein dumpfer Kopfschmerz holt sie in die Realität zurück. Sie bemerkt, dass man ihr Wasser und etwas zu essen in die Zelle gebracht hat. Außerdem befindet sich in einer Ecke ein Eimer aus Metall, daneben liegt ein Stapel mit größeren Zeitungsfetzen − wohl für ihre Notdurft.

Die Kälte des Kellerbodens dringt durch Sarahs Socken, als sie ein paar Tage später erneut Tür und Scharniere abtastet: Es gibt keine Klinke. Die Tür ihres Verlieses ist fest verankert. Die Scharniere sind aus Stahl. Verzweifelt schlägt sie mit geballten Fäusten gegen die Tür, schreit unter Tränen ihre Angst und Wut heraus: »Was willst du von mir, du Mistkerl!? Mach die verdammte Tür auf und lass mich raus! SOFORT!« Zitternd und erschöpft sinkt sie zu Boden und vergräbt das Gesicht in ihre Hände.

Die Tage in Gefangenschaft sind ein einziges schwarzes Loch, lediglich aufgehellt durch die Gespräche mit Chloé. Sarah hat Angst hier zu sterben. Eine eiserne Faust drückt gegen ihre Brust, raubt ihr den Atem, nicht aber ihre düstere Gedankenkette: Verlies, verloren, verreckt, verscharrt, verrottet und vergessen …

Sie hört Chloé nebenan schreien: »Lass mich in Ruhe! Sarah! Hilfe!«

Sarah schreckt hoch und kniet sich vor das Loch in der Wand: »Lassen Sie sie in Ruhe! Sie hat Ihnen nichts getan!«

Dies scheint den Maskenmann kaum zu beeindrucken, denn Chloé heult wiederholt auf. Und dann wird eine Tür zugeschlagen.

Sarah weicht erschrocken zurück, als ihre Kellertür krachend auffliegt. Der Maskenmann kommt reingestolpert, die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Ihm folgt eine sportlich gebaute Frau mit dunklem, ungebändigtem Haar. Sie tritt dem Kerl in die Kniekehlen. Der Maskenmann fällt hin. Die Frau − Chloé? − fuchtelt mit einer Pistole herum: »Ich hab das Schwein, Sarah, ich hab ihn!«, ruft sie triumphierend.

Sarah ist perplex: »Aber … wie hast du ihn überwältigt?« »Hab ihm die Haarnadel ins Ohr gerammt, die ich von Anfang an in der Matratze versteckt hatte. Dann habe ich ihm in die Eier getreten und ihm die Knarre abgenommen.«

Sarahs Blick fliegt zwischen den beiden hin und her.

»Und was machen wir jetzt mit ihm?«

»Erschießen!«

»Nein, wir müssen die Polizei …«

Chloés wütendes Schnauben unterbricht sie. »Damit er auf Bewährung wieder freikommt und sich die Nächste schnappen kann?« Sie schüttelt entschieden den Kopf. »Hier, nimm!« Chloé hält ihr, den Lauf nach unten gerichtet, die Pistole hin. »Halt ihn damit in Schach, während ich seine Fesseln überprüfe.«

Sarah starrt auf die mattschwarz glänzende Waffe in ihren Händen. Zitternd zielt sie auf den Maskenmann, der sie mit einem gequälten Blick ansieht und ein kehliges Geräusch von sich gibt.

»Die Fesseln sind okay. Erschieß ihn!«

Sarah schüttelt den Kopf. »Ich … ich kann nicht.« Der Mann bewegt hektisch den Kopf und stöhnt. Die starre weiße Maske verrutscht ein wenig. »Woher kennst du dich so gut mit Waffen aus, Chloé?«, fragt Sarah misstrauisch.

»Einer meiner Freier hat mich ab und zu in den Schießstand mitgenommen. Und jetzt gib schon her!« befiehlt Chloé mit scharfer Stimme. Sie nimmt Sarah die Waffe aus der Hand, kniet sich hinter den Maskierten und schießt ohne ein weiteres Wort in sein Genick. Von den Kellerwänden hallt die Detonation um ein Vielfaches zurück.

Sarah presst die Hände an die Ohren und schreit hysterisch.

Der gefesselte Mann ist zusammengesackt. Sein Kopf liegt in einer sich rasch ausbreitenden Blutlache.

Chloé verpasst ihm einen Tritt. Als er sich nicht rührt, sichert sie die Waffe, steckt sie sich in den Hosenbund und nimmt dem Mann die Maske ab. »Mal sehen, wen wir hier haben.« Sie schaut in sein Gesicht und schüttelt den Kopf. »Ich kenne diese Visage nicht. Du vielleicht?« Sie legt den Kopf schief und mustert Sarah ausgiebig.

»Wohl kaum«, flüstert diese, nähert sich aber vorsichtig dem Toten. Als Erstes bemerkt sie den Klebestreifen auf seinem Mund. Dann nehmen ihre Augen einen ungläubigen Ausdruck an und sie verzieht schmerzlich das Gesicht. Schaudernd hält sie sich die Hand vor den Mund: Der Tote ist ihr Geliebter Serge! Panisch schaut sie zu Chloé hoch, ihre Stimme überschlägt sich: »Was wird hier gespielt?«

Chloé zuckt mit den Achseln und grinst. »Serge, mein lieber Gatte, ist gerade von einem IT-Seminar zurückgekommen und hat gemeint, ich spiele mit ihm zur Begrüßung mal wieder eins unserer Latexspielchen im Keller. Hat wie immer schön brav mitgemacht.« Langsam geht sie auf Sarah zu und schlägt ihr ins Gesicht. Ihre Augen funkeln hart. »Du Schlampe hast mir meinen Mann weggenommen.« Sie sticht mit dem Finger in die Luft.

»Deshalb habe ich mir diesen kleinen Racheakt ausgedacht, deshalb habe ich dich entführt und dir ein bisschen Theater vorgespielt. Der Maskenmann bin ich. Und ich heiße nicht Chloé.« Sie zieht die blutige Maske ihres toten Mannes an und baut sich bedrohlich vor ihrer Rivalin auf − wie eine Rachegöttin.

Sarah steht unter Schock, ihre Körperhaltung ist die des Kaninchens vor der Schlange: »Du bist komplett irre. Was machst du jetzt mit mir?« Sie betastet ihre blutende Lippe und fixiert ihre Widersacherin voller Abscheu, während ihr Tränen über die Wangen laufen.

»Vielleicht auch erschießen?« Serges Frau kratzt sich nachdenklich am Nacken. »Nein, ich rufe wohl besser die Polizei. Auf der Waffe befinden sich ja ausschließlich deine Fingerabdrücke.« Sie betrachtet ihre Hände, die in transparenten Latexhandschuhen stecken, was Sarah bisher nicht aufgefallen ist, und tippt sich mit dem Zeigefinger ein paar Mal nachdenklich an den Maskenmund. »Hm. Es gäbe da vielleicht eine Alternative zum Gefängnis …« Sie entsichert die Pistole. »Einen erweiterten Suizid zum Beispiel. Man wird denken, du bist deinem Geliebten in den Tod gefolgt, weil er sich trotz seiner Beteuerungen partout nicht von seiner Frau scheiden lassen wollte.«

»Das könnte dir so passen.« Sarahs Stimme klingt schrill. Abwehrend erhebt sie ihre Hand.

»Übrigens, viele Selbstmörder scheitern, weil sie sich Schläfenschüsse verpassen, die eine recht hohe Überlebensquote garantieren, doch meistens wird man dann zum Pflegefall. Manch einem fehlt danach bloß ein Stück Hirnschale oder ein Auge, aber er überlebt und ist gaga bis an sein Lebensende. Wenn du also auf Nummer sicher gehen willst, Schätzchen, dann steck dir den Lauf in den Mund und umschließ ihn mit den Lippen, bevor du abdrückst.« Behutsam legt sie die Waffe neben sich auf den Boden. »Ich mache mir nicht die Finger an dir schmutzig. Du kannst entweder hier verhungern oder dich selbst richten, ganz wie du möchtest.« Mit diesen Worten lässt sie ihre Rivalin mit der Leiche und der Waffe allein, verriegelt die Tür von außen und betrachtet Sarah einen Moment lang durch die Glasscheibe. Sie sieht, wie diese sich zitternd über Serge beugt und weint. Dann schleicht die Frau sich in den benachbarten Keller, kauert sich vor das Loch in der Wand und späht vorsichtig hinüber. Als der Schuss fällt, zuckt sie mit keiner Wimper, wartet nur ab. Nach einer Weile glimmt ein Funken der Erheiterung in ihren Augen. Sie erhebt sich und geht wieder in den anderen Keller.

Sarah liegt reglos neben Serge, die Waffe in der Hand. Ihre rechte Gesichtshälfte ist voller Blut. Plötzlich richtet sie sich auf, zielt mit der Waffe auf die andere und drückt ab.

»Klick«, sagt Serges Frau und geht mit einem triumphierenden Lächeln in die Hocke. »Du bist einerseits clever, Sarah, andererseits aber auch sehr dumm. Clever, weil du versucht hast, das Kellerschloss aufzuschießen, und als es nicht klappte, Serges Blut an dein Gesicht geschmiert hast und dich so lange totstellen wolltest, bis ich wiederkomme und du mich töten kannst. Dumm deshalb, weil du nicht bedacht hast, dass sich nur zwei Patronen in der Waffe befinden könnten. Du hättest dich besser selbst erschossen.« Hasserfüllt sieht sie Sarah an und knallt ihr die Faust ins Gesicht. Als ihr Opfer bereits am Boden liegt, prügelt sie weiter auf sie ein, bis sich nichts mehr unter ihr regt. Danach holt sie ein Seil von nebenan und sinniert darüber, wie lange Sarah wohl überleben wird, ohne Wasser, ohne Nahrung, stets den immer penetranter werdenden Leichengeruch in der Nase, während sie unlösbar an den eiskalten und starren Körper ihres Geliebten gefesselt ist.

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
190 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783961450831
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