Kitabı oku: «Boheme»
Inhalt
Impressum
Großstadtballaden
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Über den Autor
Kennenlernen
Weitere Großstadtballaden
Impressum
Buchreihe: Großstadtballaden
Titel: Boheme
© 2021 Markus Szaszka
Autor: Markus Szaszka
Herausgeber: Gefahrgut Edition
Lektorat: Selfpublishingo
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Großstadtballaden
Seit ein paar Jahren schon reise ich von Stadt zu Stadt, wo ich jeweils ein paar Monate, manchmal auch ein Jahr bleibe.
In dieser Zeit schreibe ich einen Roman, eine Geschichte, die an dem Ort spielt, an dem ich gerade eben bin.
In meinen Büchern beschäftige ich mich am liebsten mit gesellschaftlich relevanten Themen, aber auch die Liebe und das Alltägliche kommen nicht zu kurz.
Und wenn ich mit einem Manuskript fertig bin, dann ziehe ich weiter und das Abenteuer beginnt von vorne, in einer neuen Großstadt.
Wenn du mehr über mich und mein Schreibkonzept erfahren möchtest, dann schau doch gerne auf grossstadtballaden.com vorbei.
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Lieben Gruß, dein Markus „Nirgendsmann“ Szaszka
Erstes Kapitel
Der Vorhang bewegte sich. Er schaukelte kaum merklich hin und her. Zwischen den Rahmen und Zargen des weiß lackierten hölzernen Kastenfensters waren keine Fugen zu sehen, und doch, ein leichter Luftzug drang ins Innere dieser Krakauer Altbauwohnung in der Ulica Świętego Jana1 Nr. 30. Es war Ende Januar und die Straßen, Autos, Dächer, Fensterbretter und Laternen in eine dreißig Zentimeter dicke Schneedecke gehüllt.
Maksymilian Nowak döste auf seinem Sofa, das er bereits Wochen zuvor nahe an den Heizkörper beim Fenster geschoben hatte, um möglichst viel Wärme abzubekommen, bevor sie im hohen und schlecht zu heizenden Schlafzimmer im zweiten Stockwerk dieses Mietshauses verloren ging. Sein Kopf lag auf einem kleinen Federkissen, auf dem laienhaft ein Häuschen, eine Sonne und ein angedeutetes Meer gestickt waren. Trotz des wenig ansehnlichen Motives hing Maksymilian sehr an diesem Kissen, denn er hatte es von Valeska bekommen, und sie war es auch gewesen, die den Bezug bestickt hatte.
Zu seiner Linken befanden sich die Heizung, der leicht schwingende Vorhang und das Fenster, zu seiner Rechten die Rückenlehne seines Sofas und dahinter das restliche Zimmer: ein großes ungemachtes Bett, ein rundes Holztischlein, auf dem sich eine dem Jugendstil nachempfundene Tischlampe und diverse Bücher befanden, ein Schrank mit wenig Kleidung darin, denn die meiste lag entweder im Wäschekorb oder auf dem Boden verteilt, unter der Schmutzwäsche ein Radio in einer Ecke des Zimmers sowie viele weitere Bücher, die anscheinend immer genau an den Stellen fallengelassen worden waren, an denen Maksymilian sie ausgelesen hatte.
Doch all das interessierte den jungen Mann nicht. Er sah nach vorne, durch den türlosen Rahmen, in dem verwaiste Türangeln den einzigen Blickfang darstellten, ins Wohnzimmer, in dem sich auch eine Kochnische befand. Dort standen ein weiteres Sofa, ein Esstisch, ein Rasierpinselbaum und ein Elefantenfuß – die eine Pflanze auf dem breiten Fensterbrett, die andere auf dem Boden neben dem Sofa. Des Weiteren lagen zahllose geschlossene und aufgeklappte Bücher sowie beschriebene Blätter aus Notizheften zwischen halb aufgegessene Speisen auf schmutzigem Geschirr. An der Wand über dem Herd hing eine Uhr, und nur sie war, bis auf wenige draußen vorbeifahrende Autos, an diesem Abend in dieser Wohnung zu hören.
Maksymilian blickte also nach vorne, aber nicht nur auf die kunstvoll verzierte Porzellantelleruhr, deren antike geschwungene Zeiger träge, Millimeter um Millimeter, im Kreis wanderten, sondern auch in Richtung des morgigen Tages, an dem sein Umzug nach Amerika bevorstand und er seine Heimatstadt endgültig hinter sich lassen würde.
Als Maksio, wie seine Familie und engsten Freunde ihn seit früher Kindheit nannten, den Vorhang pendeln sah, schob er diesen ein kleines Stück zur Seite und blickte hinaus. Das Haus auf der anderen Seite war nur wenige Meter entfernt, der Schneefall dicht, der Himmel schwarz und das spärliche Licht der Laternen schien in einem warmen Orange. Manche der Fenster im Haus Nr. 16 waren erleuchtet, andere wiederum nicht, doch Maksymilians Aufmerksamkeit galt alleine einem Fenster, nämlich dem schräg über ihm, im Dachgeschoss des gegenüberliegenden Hauses. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Valeska noch dort gewohnt und gearbeitet, und seit ihrem Auszug zwei Monate zuvor war das Licht im Atelier nicht mehr eingeschaltet worden.
Er sah hoch und erinnerte sich. Es war, als wäre die kalte verwaiste Mansarde für wenige Momente wieder zu altem Leben erwacht. Junge Wilde öffneten stürmisch das Fenster, um blauen Zigarettenqualm in die eisige Luft zu pusten. Mit Gläsern in ihren Händen prusteten sie vor Lachen und verschüttet so einiges, während rhythmischer Blues unnötig laut an ihnen vorbei ins Freie dröhnte.
Dort oben hatten Valeska, Michał, Mateusz und er einen guten Teil ihrer Jugend und ihres frühen Erwachsenenalters verbracht – die fliehenden Füchse, wie sie sich genannt hatten. Oft dachte Maksymilian nicht mehr an seine einstige Künstlergruppe, doch an diesem Abend tat er es, aus einem ihm unerfindlichen Grund. Die Füchse. Das muss … tatsächlich … es ist schon neun Jahre her, als wir uns so nannten.
Eine Weile noch sinnierte Maksymilian über die alten verrauchten und berauschten Zeiten, als sie zu viert Gedichte bei Wein rezitiert, sich aufgeregt Musikstücke vorgespielt, auf dem Dach balanciert, Nachbarn verärgert und die Kunst zu ihrem Gott erhoben hatten. Wir wollten die Besten sein und wir waren die Besten, für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein selbstzufriedenes Lächeln über Maksymilians Lippen, bis er sich weiter erinnerte. Und dann haben Valeska und ich alles zerstört.
Der dreiundzwanzigjährige Autor zog den Vorhang wieder zu, drehte sich um, vergrub sein Gesicht zwischen Sitzfläche und Rückenlehne des Sofas, griff blind nach dem auf der Lehne liegenden Mantel und bedeckte sich damit. Die Augenlider kniff er so fest zusammen, wie es nur ging, bis die weißen Flecken zu bunten Mustern verschwammen und Galaxien zu formen begannen. Er versuchte, nicht an das zu denken, was er in den letzten Monaten verloren hatte, sondern sich zu besinnen, auf seinen Neuanfang und darauf, dass alles gut werden würde, denn es musste alles gut werden.
Ein kurzes Vibrieren in Maksymilians Hosentasche weckte ihn. Eine SMS war lautlos, doch spürbar angekommen. Er hob seinen Kopf und sah zur Uhr über der bescheidenen Küchenzeile auf der anderen Seite seiner Wohnung. Es war 22:15 Uhr und somit hatte er nicht länger als fünfzehn Minuten gedöst. »Ach, was soll's! Ist ja doch noch zu früh, um zu schlafen«, murmelte er, holte sein zehn Jahre altes Motorola C118 hervor und fing an, die Textnachricht durch das gesprungene Glas zu entziffern: Als der Raum sich in die Zeit verliebte, begann mein Glück und auch mein Leid. Und auch wenn es die Sonne irgendwann einmal nicht mehr geben wird, möchte ich doch, dass du wieder glücklich wirst, stand da. Kryptische Zeilen, deren Inhalt Maksymilian weniger aufwühlte als deren Verfasser beziehungsweise die Tatsache, dass dieser ihm überhaupt geschrieben hatte. 194 Lebenszeichen von Michał, die ersten seit etwas mehr als drei Monaten.
Maksymilian saß nun aufrecht und starr auf dem Sofa. Der Vorhang berührte seine Nasenspitze beinahe. Diese Sitzposition sah ulkig aus, komplett sinnfrei, zumindest von außen betrachtet. Maksio war allerdings gar nicht zum Lachen zumute und seine Aufmerksamkeit gänzlich nach innen gekehrt. Wohin er blickte, war für ihn nicht mehr von Bedeutung, jetzt mussten aufkeimende Erinnerungen – an den enttäuschten Michał, die weinende Valeska, den selbstgefällig dreinblickenden Mateusz und ihn selbst, wie er im Affekt und voller Wut ein Flugticket gekauft hatte – verarbeitet und die Atmung beruhigt werden. Doch alle Bemühungen waren vergebens, ruhig bleiben konnte er nicht mehr, also stand Maksymilian auf.
Von Schuldgefühlen getrieben suchte er nach seiner zweiten Socke, ohne sich daran erinnern zu können, wann er sie überhaupt ausgezogen hatte. Zwecklos! Er nahm eine andere aus dem Schrank. Frische Luft und Bewegung, erinnerte sich Maksymilian, das tat ihm immer gut, wenn er aufgebracht war, also zog er einen dicken schwarzen Wollpullover über den dünnen weißen und eine Jeans über seine lange Unterhose. Mit den Schlüsseln in der einen zitternden und dem Handy in der anderen Hand tapste er zur Diele gegenüber der Kochnische, in welcher sich eine Kommode und zwei Türen befanden; eine führte ins Bad und eine nach draußen. Er legte sich einen langen Schal aus Schurwolle nachlässig um den Hals, schlüpfte in seine gefütterten cognacfarbenen Winterschuhe aus Kalbsleder und in den dünnen sandfarbenen Herbstmantel – denn einen anderen besaß er nicht –, streichelte geistesabwesend seinen altersgrauen Belgischen Schäferhund, der sich nur selten von seinem Lieblingsfleckchen neben der Kommode rührte, und verließ die Wohnung. Das Licht aber brannte weiter.
Es war ein merkwürdiger Zustand, in dem sich Maksymilian befand. Sein Herz pochte, er war aufgewühlt und seine Hände zitterten ein wenig, doch gleichzeitig lächelte er. Herauszufinden, welche Mixtur aus Emotionen er eigentlich empfand, vereinnahmte wie so oft seine ganze Konzentration. Bin ich wieder ängstlich? Nein. Traurig? Ein bisschen. Glücklich wohl am ehesten, glaube ich, obwohl das keinen Sinn ergibt. Ferner überlegte er, gegen wen die nach wie vor latent vorhandene Wut in ihm eigentlich gerichtet war: gegen Mateusz, Valeska oder sich selbst? Vielleicht war Wut auch unangebracht und keiner von ihnen dreien schuldig. Fehler sind schließlich menschlich, dachte er, und weiter: Doch so einfach ist es nicht.
Langsam und bedächtig schloss er die Tür hinter sich, um dann vom breiten Balkon – der als Flur fungierte und auf dem drei Mietparteien ihre Wohnungseingänge hatten – in den Hof zu sehen, in dem der obdachlose Wojtek wie jeden Abend sein Nachtlager im stets offenen, überdachten Müllcontainerbereich vorbereitete, in einer viel zu weiten Cordhose und einer abgetragenen Bomberjacke, seine alte Schmusedecke unter einem Arm und den Verschluss der Wodkaflasche mit seinen Zähnen aufschraubend.
Würde Maksymilian in dieser Stadt bleiben, dessen war er sich sicher, würde auch er so verrückt und alkoholkrank werden wie der arme Wojtek. Zu groß war die Aufmerksamkeit um seine Person, zu einschneidend die Erlebnisse der letzten Monate, zu schön Valeska, zu verzweifelt Michał, zu präpotent Mateusz und zu schuldig er selbst. Bis auf das verlorene Seelchen Wojtek war der Blick vom Balkon aus schön. Die Schneeflocken fielen beständig und die Sterne versteckten sich hinter ihnen, der Mond aber zeichnete sich deutlich im Hintergrund ab, rund und strahlend – Herr über die winterliche Stille.
Während Maksymilian das Haustor zufallen ließ, warf er – nicht zum ersten Mal – mit seinem Mantelsaum die Buchsbaumkugel samt Topf um. Die Pflanze fiel geräuschlos auf den weichen schneebedeckten Boden. Für gewöhnlich hob er sie gleich wieder auf und ließ die verstreute Erde, im Winter zumindest, unter dem Schnee verschwinden, an diesem Tag aber bemerkte der junge Schriftsteller sein Missgeschick nicht. Stattdessen schlenderte er in einem gemütlichen Tempo los, denn allzu kalt war es nicht, und hielt seinen Mantel, dem sämtliche Knöpfe fehlten, mit beiden Händen zu.
Trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit waren auf den Straßen noch viele Menschen unterwegs. Wie auch Maksymilian gingen sie mitten auf der Straße, denn nur selten verirrte sich bei diesem Wetter und um diese Zeit ein Auto in die Innenstadt. Pärchen kreuzten seinen Weg, junge und gealterte, manche hielten Händchen und küssten sich, andere zankten und waren genervt. Touristen gingen mit vollen Einkaufstüten in Richtung ihrer Hotelzimmer, staunten über die gut erhaltene, altertümliche Architektur der niedrig gebauten Stadt an der Weichsel, die sie für wenige Tage in eine längst vergangene Zeit zu entführen vermochte, in eine Zeit der tapferen Ritter und holden Maiden, der Burgen und Drachen.
Für einen Augenblick blieb Maksymilian stehen. Vor einem bejahrten Kino in einer Seitenstraße präsentierte ein Aufsteller den frisch angelaufenen Streifen Gomorrha. Auf dem Filmplakat war ein surreales Motiv zu sehen, eine im Viereck liegende Schlange. Es war eine Acrylmalerei, die Maksymilian nur zu gut kannte. Er war dabei gewesen, als Valeska sie angefertigt hatte, hatte währenddessen gemeinsam mit Mateusz dessen Text geprobt, für eben diesen Film, wie das Plakat auch verriet, denn in Großbuchstaben stand über der Schlange: Mateusz Michalski. Maksymilian ging die wenigen Meter ins Gässchen, trat unvermittelt und mit voller Wucht gegen den Aufsteller, drehte sich wieder um und flüsterte: »Ich muss raus aus dieser Stadt«, ohne den eingeschüchtert aus dem Kinoeingang blickenden, jungen Ticketverkäufer und dessen leises »Hey« weiter zu beachten.
Am Ende seines Gässchens angekommen, kurz vor der Mündung in den großen Hauptplatz, geriet Maksymilian ins Kreuzfeuer einer Gruppe Jugendlicher, die sich eine erbitterte Schneeballschlacht lieferte. Mit viel Gelächter und Geschrei erfüllten die Heranwachsenden den Abend mit Leben, gruben sich bis auf das Kopfsteinpflaster durch den Schnee und hielten erst inne, nachdem eines ihrer Geschosse Maksymilian am Rücken getroffen hatte.
Dieser bemerkte die unbeabsichtigte Attacke gar nicht, doch es schien, als ob, denn er blieb abermals kurz stehen, um eine weitere Erinnerung vor seinem geistigen Auge abzurufen. Genau an diesem Ort hatten auch seine Freunde und er einander im Winter einmal mit Schneebällen beworfen. Es muss in dem Jahr gewesen sein, entsann er sich, in dem wir die fliehenden Füchse gegründet haben. Damals hat mir Mateusz mit einem Ball ordentliches Nasenbluten verpasst … genau, genau.
»Entschuldigen Sie, Herr«, hörte Maksymilian und ging weiter – davon überzeugt, dass die Kinder jemand anderen gemeint hatten – über den malerischen Rynek Główny2, der nachts zu dieser Jahreszeit dem Inneren einer Schneekugel glich.
Der Hauptplatz bestand aus einer beeindruckend weitläufigen Fläche, vollständig gepflastert und vom Licht hunderter antiker Laternen beleuchtet. Er war so groß, dass gleich mehrere Sehenswürdigkeiten drauf Platz hatten: Kirchen, Türme und Statuen. In dessen Mitte standen die Tuchhallen, ein längliches Gebäude der Renaissance, in dem Felle, Ringe, Holzkästchen und weitere mehr oder weniger praktische, handgefertigte Mitbringsel verkauft wurden. Außen, um die Hallen herum, drängten sich viele kleine Cafés und Restaurants aneinander, bemüht, die Aufmerksamkeit der flanierenden Passanten zu erhaschen. Nicht anders verhielt es sich um den ganzen Hauptmarkt herum, der von zahllosen geschichtsträchtigen Häusern und ihren – bis zum letzten Platz – gut gefüllten, geheizten, nach Braten, Teigtaschen, geräuchertem Speck und allerlei weiteren Köstlichkeiten duftenden Gaststuben umringt war.
Die Weihnachtsbeleuchtungen und der Schmuck hingen noch; Schneekristalle aus Papier, Zweige von Nadelbäumen, Christbaumkugeln, Weihnachtsgebäck- und Präsentattrappen. Ob der visuellen Herrlichkeit kamen die Gäste, die aßen und ihre ohnehin schon vom kalten Wind geröteten Wangen mit ihren Glühbieren und Glühweinen noch rötlicher machten, kaum noch aus dem Grinsen heraus. Eingekuschelt in ihre warmen Wollpullover, fühlten sie sich in dieser nachweihnachtlichen Atmosphäre sichtlich wohl.
Wie die Motte zum Licht, steuerte Maksymilian auf ein besonders bunt ausgeschmücktes Café-Restaurant – das Europejska – zu, blieb vor der Glasfront reglos stehen und beobachtete die Szenerie, bemüht, das Plakat mit dem lebensgroßen Michał auf der Litfaßsäule nebendran auszublenden.
Maksymilian konnte den Braten und den Wein förmlich schmecken, derart herrlich waren die Speisen angerichtet. Ferner stellte er sich vor, wie gut ihm jetzt die Wärme der Heizung tun würde. Bei diesem Gedanken begannen sich unter der dicken Kleidung die Härchen auf seinen Armen aufzurichten.
Er genoss diesen Anblick, der wie geschaffen war, um ihn zu beschreiben. Vielleicht im nächsten Bericht, dachte er. Maksymilian spürte ein leichtes Ziehen am Ärmel seines Mantels. Es war ein junges Mädchen, um die sechzehn Jahre jung, das ihn mit leuchtenden Augen anstarrte und den Mund kaum aufzumachen vermochte – hinter ihr die Eltern und ein kleiner Junge, vermutlich der Bruder des Mädchens.
»Entschuldigen Sie, ich möchte nicht stören, aber könnte ich ein Autogramm von Ihnen haben?«
Mit einem aufgeregten Zittern in ihrer Stimme überreichte das Mädchen dem Schriftsteller einen Stift und eine Ansichtskarte, auf der die Burganlage Wawel zu sehen war und welche sie vermutlich während ihres Spazierganges mit der Familie erstanden hatte.
»Natürlich, wie ist dein Name?«
»Anja. Danke. Ich mag Ihre Geschichten über Mateusz sehr!«
Maksymilian unterschrieb auf der Rückseite der Karte, ungeschickt auf einem Bein stehend und das Stück Karton auf dem anderen Oberschenkel abstützend, kritzelte noch eine Widmung hin und überreichte sie dem Mädchen, das rot wurde und sich zu Mama verkrümelte, nachdem er ihr zum Abschied einen Handkuss geschenkt hatte. »Das freut mich.«
Die freundliche Familie verabschiedete sich im Chor: »Auf Wiedersehen.« Lediglich der Vater blickte etwas missgestimmt drein.
Aufgrund der Unterbrechung aus seinem kreativen Takt geraten, wandte Maksymilian seinen Blick vom Restaurant ab, sah hoch zur nächstgelegenen Laterne, dann zur nächsten und weiter, die ganze Reihe entlang, deren Ende im Flockentanz verschwamm. Er wusste, dort hinten, wo ihn die Laternenreihe hinführen würde, da musste er sich seiner Vergangenheit stellen, in der Ulica Gołębia3 Nr. 1, wo Michał wohnte.
Gegenüber von Michałs Wohnhaus, im dunklen Fleckchen genau zwischen den Lichtkegeln zweier benachbarter Wandlaternen, stand Maksymilian gegen die Wand gelehnt, über ihm ein gläsernes Vordach. Mit seinem nachlässig um den Hals geworfenen Schal wischte er sich die triefende Nase ab. Ein Bein leger über das andere gelegt ließ er seine Glücksmünze, ein goldenes 20-Yen-Stück, das er immer dabeihatte, in seiner rechten Hand zwischen den Fingern wandern – wie immer, wenn er nervös war. Ab und an durchschritten Passanten seinen nebligen Atem, doch Maksymilian beachtete sie nicht weiter, den Kopf starr nach oben gerichtet, auf die beiden Fenster im ersten Stock über dem italienischen Pasta-Restaurant.
Die Wohnung hinter diesen Fenstern kannte er nur zu gut. Dutzende Male hatte Maksymilian dort übernachtet, auf einem schwarzen Ledersofa, wo er abends mit Broten verpflegt und morgens mit einem Kaffee begrüßt worden war – früher, als er und Michał noch Freunde gewesen waren.
Aus einem gekippten Fenster drangen leise die Töne von Tschaikowskys Danse hongroise an Maksymilians Ohr. Und hätte er jetzt gerufen, hätte Michał ihn mit Sicherheit gehört, ihn vielleicht sogar reingelassen, vielleicht aber auch das Fenster geschlossen oder die Musik lauter gedreht, also ließ er es bleiben, verweilte weiterhin stumm gegen die Wand gelehnt und beobachtete Michałs gut an der Zimmerdecke zu erkennenden, tanzenden Schatten. Offensichtlich verinnerlichte er letzte Schritte für seinen morgigen Auftritt in der Oper, den letzten Abend, an dem Schwanensee in dieser Besetzung und unter dieser Leitung aufgeführt werden sollte.
Bestimmt stehen all seine Möbel nach wie vor aneinandergereiht an den Wänden, in der Mitte ein leerer Raum zum Tanzen, überlegte Maksymilian. Wieso nur hat er mir diese SMS geschrieben? Nach so langer Zeit! Eine halbe Stunde stand er vor dem Fenster seines ehemaligen Kameraden, dachte über Vergangenes nach und betrachtete den Schatten des fleißigen Tänzers.
Nach langem Abwägen, ob er nun hinaufgehen sollte oder nicht, entschloss sich Maksymilian, doch nicht an der Türklingel mit dem Aufkleber eines kleinen Bärchens neben dem Namen zu läuten. Nicht heute. Es war schon spät und Maksymilian hätte an diesem Abend sicher nicht mehr die richtigen Worte gefunden. Morgen. So ist es besser. Ich besuche ihn vor seinem Auftritt, wie früher. Er steckte seine Münze zurück in die schmale Uhrtasche seiner Jeans, warf ein Schalende über seine Schulter und ging weiter, den Mantel erneut mit beiden Händen zuhaltend.
Maksymilians Kopf war vollgestopft mit Gedanken, was ihn nicht sonderlich gestört hätte, wären es nicht solche von der Sorte, die sich nicht entwirren oder sortieren ließen. Das ist kein Zustand, stellte er fest und steuerte die nächstgelegene seiner liebsten Kneipen an. Was sollte er an diesem Abend schon anderes tun, als zu trinken und die vorhandene Verwirrtheit erst durch eine abnorme Klarheit und diese wiederum wenig später durch stumpfe Blödheit zu ersetzen?
Vor dem Omega, einer Spelunke mit schäbigem Interieur in einem für diese Zwecke viel zu schönen Kellergewölbe, streifte sich Maksymilian den nach wie vor dicht fallenden Schnee von seinen Schultern, rubbelte sein kurzgeschorenes blondes Haar mit einer Hand trocken und blickte umher, bevor er eintrat. Früher waren sie alle gemeinsam dorthin gegangen, vor allem, weil die Kneipe sich gleich unter Mateusz Wohnung befand. Hoffentlich begegne ich ihm nicht.
Erst ging es einen schmalen Gang entlang ins Innere des jahrhundertealten Gemäuers, dann die steinernen Wendeltreppen nach unten. Ein weiteres Mal an diesem Abend geriet Maksymilian ins Stocken, blieb auf halbem Weg hinunter stehen und sah, was sein Geist ihm auf den Treppenansatz projizierte, nämlich Michał, Mateusz und ihn, wie sie Arm in Arm dagesessen und sich schwer atmend, mit Tränen in den Augen und gleichzeitig lachend, von einer Prügelei mit irgendwelchen Idioten ausgeruht hatten. Der arme Mateusz, immer bekam er Ärger. Er und seine große Klappe.
Umgeben vom wohlbekannten modrigen Kellergeruch, langhaarigen Männern und Frauen und dem, was alle hier unten verband, dem laut aus den Boxen dröhnenden Heavy Metal, ließ sich Maksymilian am Tresen nieder, an dem ein Gast bereits mehr hing als saß und Unverständliches in sein lockiges blondes Haar brabbelte – wie es zum Erscheinungsbild einer solchen Bar nun mal dazugehörte – und weitere Musikliebhaber über ihr wichtigstes Thema fachsimpelten.
Um seine aufkeimende Nervosität zu besänftigen und anzukommen, bestellte Maksymilian einen doppelten Haselnusswodka, den er ohne langes Überlegen hinunterstürzte und der seinen Oberkörper auf Anhieb angenehm wärmte. Erst jetzt sah er sich genauer um. Alles war beim Alten geblieben. Wie jeden Mittwoch stand die gute Maja hinter dem Schanktisch, liebevoll und geduldig im Gemüt, ganz im Gegensatz zu ihrem Äußeren, das, so zumindest die Intention, abschrecken sollte. Sie trug ein kurzes schwarzes Spitzenkleid, um die Taille einen Nietengürtel, hatte mehrere Piercings im Gesicht sowie Tattoos an ihren Armen, ihrem Rücken und auch an anderen Stellen, wie Maksymilian sich zu erinnern vermochte.
»Schön, dass du dich wieder mal blicken lässt, Maksio. Wie geht's dir?«
»Fantastisch«, antwortete er, was so viel bedeutete wie Ich will nicht darüber reden. Diesen Code kannte jeder aus seinem Bekanntenkreis. Gut nur, dass so viele Gäste nach einem kühlen Bier oder einem der unterschiedlichen, mit Aromen aller Art versetzten Wodkas lechzten, denn so musste sich Maksymilian an diesem Abend nicht mehr allzu lange mit Maja unterhalten. So würde sie sich nicht von ihm abgewiesen fühlen, was ihm wichtig war, denn er mochte es, dieses zerbrechliche und brave Wesen.
Maksymilian war oft genug im Omega gewesen, um sich so manch eine Freiheit erlauben zu dürfen, mit der die meisten anderen Besucher, vorwiegend pubertierende Jungs, nur lügenhafterweise vor ihren Freunden angeben konnten. Er pfiff Maja zu, nickte fragend in Richtung Nusswodka, bekam das erhoffte freundliche Nicken zurück, griff hinter den Tresen und nach der Flasche, goss sich weitere 4 Zentiliter ein, kippte sie und spürte das Wässerchen erneut seinen Magen und Brustbereich wärmen.
Vom Aufenthalt in der Kälte brannten ihm die Augen ein bisschen, also legte er seine Stirn auf den Tresen, schloss seine Lider und ließ das unentwirrbare Gemisch aus Musik, Gesprächen und Geschirrklimpern auf sich einwirken. Das Chaos um ihn herum war groß genug, um die herumwirbelnden Gedanken in ihm zu zähmen. Kurz nickte er ein, vielleicht für wenige Sekunden, höchstens eine oder zwei Minuten, doch als er aufwachte, war das wohlige Gefühl in seinem Bauch verschwunden. Seine Schuhe fühlten sich nasskalt an, sein Pullover kratzig und sein Magen drückte ihm schwer gegen das Zwerchfell. Mulmig war ihm zumute und die ungebetenen Gedanken meldeten sich wieder.
Von Valeska hatte er geträumt, wenn es denn überhaupt ein Traum gewesen war. Vielleicht hatte er sich wieder nur an etwas erinnert, auf dem Tresen liegend, inmitten feierfreudiger Hardrocker. Das wusste Maksymilian, der sich etwas fiebrig zu fühlen begann, nicht genau zu unterscheiden. Schön war sie in seiner Erinnerung, doch ängstlich und verwirrt im Inneren – das war sie aber nur für jemanden, der sie kannte. Begegnete man ihr auf der Straße, fiel die schüchterne und hochgeschlossen bekleidete Frau nicht besonders auf. Doch sah man ihr einmal in die Augen, in diese grenzenlosen Universen, die einen zu verschlingen drohten, wurde sich ein jeder gleich bewusst, dass dieser Frau die Stirn zu bieten, kein Leichtes war. Er hatte sie geliebt, ja, vielleicht liebte er sie noch immer, doch eines wusste Maksymilian genau: Sie war schuld an dem ganzen Schlamassel, in dem er sich befand. Mehr noch als das wusste er, dass dies eine Lüge war, doch eine, mit der er sich angefreundet hatte. Leidiges Hirn, lass mich in Ruhe!
»Hey, gib mir mal den Wodka!«, sagte Maja mit einer Hand ausgestreckt, in der anderen ein Bierglas unter den Zapfhahn haltend.
Maksymilian sah auf die Flasche vor ihm, die kaum mehr als zu einem Viertel voll war, hörte in sich hinein, verzog leidend sein Gesicht, zog den Wodka zu sich, fummelte einen Geldschein aus der rechten Hosentasche und knallte ihn auf den Tresen.
Maja schmunzelte, verstand und rief irgendwo in die Menge: »Nusswodka ist aus!«
Für den Rest des Abends war Maksymilian also beschäftigt. Er dämpfte seine Gefühle, blockierte Gedanken und versuchte Erinnerungen zu löschen. Jedes Mal, wenn kein Gast an der Bar stand und nach einem Getränk, einem bestimmten Lied oder Nüssen fragte, kam Maja auf Maksymilians Seite des Tresens, sah ihm tief in seine glasigen, müden Augen oder setzte sich auf einen Barhocker neben ihn, legte ihm ihre Hand auf das Knie, tätschelte seinen Rücken oder gab ihm einen Kuss auf die Wange. Das tat sie absichtlich ungeschickt, sodass ihre Lippen auch seinen Mundwinkel berührten.
»Es ist gut, dass du morgen wegziehst«, sagte sie, seine Hände in ihren haltend und an seine Schulter gelehnt, während sein Blick starr nach vorne gerichtet blieb.