Kitabı oku: «Die erste Bahn»

Yazı tipi:


Die erste Bahn
Markus Veith


© April 2021 OCM GmbH, Dortmund

Alle Personen und Geschehnisse sind frei erfunden und haben keinen Bezug auf lebende oder verstorbene Personen.

Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM GmbH, Dortmund

Verlag: OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de

ISBN 978-3-942672-89-4

© Umschlaggestaltung OCM GmbH mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung der Dortmunder Stadtwerke AG – DSW21 Motiv: U-Bahnstation Westfalenhallen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Inhalt

1  Abschnitt 1

2  Abschnitt 2

3  Abschnitt 3

4  Abschnitt 4

5  Abschnitt 5

6  Abschnitt 6

7  Abschnitt 7

8  Abschnitt 8

9  Abschnitt 9

10  Abschnitt 10

11  Abschnitt 11

12  Abschnitt 12

13  Abschnitt 13

14  Abschnitt 14

15  Abschnitt 15

16  Über den Autor

Die U-Bahn-Station Bachstraße war menschenleer.

Um 00:15 Uhr kündigte die elektronische Anzeigetafel die Ankunft der Linie 102 an; der letzten Bahn, die in dieser Nacht die Haltestelle durchfahren sollte.

Eine Minute später fuhr die Bahn ein, ganz wie es der Fahrplan vorsah. Im Innern befanden sich nur noch wenige Fahrgäste. Die Falttüren der Bahn wurden geöffnet, weil es in unterirdischen Stationen Vorschrift war. Niemand stieg aus. Und es war niemand da, der hätte einsteigen können.

Der Fahrer freute sich auf seinen Feierabend. Es war eine typische Sonntagsschicht gewesen, ruhig und ohne Rush Hour. Fünf der unterirdischen City-Haltestellen auf dieser Strecke hatte er nun hinter sich, noch zwei, dann führten die Schienen ihn wieder an die Oberfläche, wo sicher weiterhin das Novembergewitter niederging. Er betätigte den Schalter, der die Falttüren zuklappen ließ. Im selben Moment hörte er, wie auf der in die Innenstadt führenden Seite der Station eine der beiden Rolltreppen anlief. Gleichzeitig vernahm er das Poltern von Sprüngen auf den nach unten gleitenden Stufen, mit dem ein unpünktlicher Fahrgast noch eilig den Anschluss bekommen wollte. Aber der Fahrer hatte die Bahn schon in Bewegung gesetzt. – Er war pünktlich gewesen. Und er fuhr die letzte Bahn. Damit hatte sich diese Geschichte für ihn erledigt. Für den Fahrer war sie Vergangenheit.

Dies ist die erste Morgenstunde des 14. Novembers 2004. Und für jenen jungen Mann, der die letzten Stufen mit einem Sprung nimmt und zu einem Sprint ansetzt, wird diese Nacht für den Rest seines Lebens Gegenwart bleiben.


Er rennt, wild winkend und rufend, obwohl er ahnt, wie aussichtslos sein Bemühen ist. Seine zornigen Flüche, welche er den roten Lichtern hinterherbrüllt, vermögen die U 102 nicht mehr zu stoppen. In seiner Rage will er die fast volle Flasche Korn in Richtung des Tunnels schleudern, dessen Dunkel die Bahn verschluckt hat, kann sich aber gerade noch zurückhalten. Stattdessen kickt er eine im Weg liegende Coladose über die Gleise. Sie prallt gegen die Stationswand, schwappt einen bräunlichen Stern auf die Kacheln und klackert zwischen die Schwellen.

Keuchend, vom Regen durchnässt und zitternd bleibt der junge Mann eine Weile stehen, die rechte Hand in die stechende Seite gestemmt, die Flasche in der schlaff hängenden Linken. Wassertropfen plitschen zu Boden. Schließlich sieht er zur Anzeige hinauf. Den ganzen Tag über hat sie stetig kommende Bahnen angekündigt. Nun verharrt sie in stummer Schwärze. Die Uhr daneben zeigt 00:16. Rasch eilt der Mann zu dem Schaukasten, in dem die Fahrpläne aushängen.

Er findet seine Befürchtung bestätigt. „Scheiße“, ächzt er kraftlos.

Er blickt zum Aufgang, zu der inzwischen reglosen Rolltreppe, hört, wie oben in der Außenwelt der Regen in Strömen auf das Glasdach des Zugangs prasselt. Resigniert analysiert er seine Situation: Bis nach Hause sind es etwa acht Kilometer, eher mehr als weniger. Er besitzt zwar ein Handy, doch liegt das daheim am Aufladekabel. Seine nach diesem Abend verbliebene Barschaft beläuft sich auf zwei Euro und 90 Cent; was für den Erwerb einer Fahrkarte Preisstufe B genügt hätte, aber nicht für eine Heimfahrt mit einem Taxi. Die Idee, einen Geldautomaten aufzusuchen, scheitert an der Erkenntnis, dass er keine Ahnung hat, wo im Umkreis der nächste zu finden ist. Und wie um die Ungemütlichkeit zu betonen, die ein Marsch bei diesem Wetter ohne Regenschutz bedeuten würde, grollt in diesem Moment eine Donnersalve von der Oberwelt zu ihm hinab. Auch das Prasseln des Regens verstärkt sich, als wolle das Gewitter in die U-Bahn-Station brüllen: ‚Kai Trollmann, du Arschgesicht! Bleib gefälligst, wo du bist!‘

Der junge Mann schaut erneut zu der Uhr empor und rechnet. Vier Stunden und sechzehn Minuten bis zur Ankunft der ersten Bahn. „Scheiße.“

Frustriert schlurft er zu der Bank in der Mitte des Bahnsteigs und lässt sich auf einen der Sitze sinken. Es sind Hartschalen aus Kunststoff, fleckig orange und abgeschabt vom Gebrauch tausender Hintern und Taschen. Er schraubt den Verschluss der Flasche ab, trinkt und verzieht das Gesicht, als der Kornbrand in seinem Innern hinabrinnt. ‚Wenigstens Onkel Otto leistet mir Gesellschaft‘, denkt er, während er das Etikett betrachtet.

Fünfzehn Euro hat er für die Pulle berappt, kurz bevor der Kiosk dichtmachte. Ein Frustkauf. Sein Erlebnis in der vergangenen Stunde hat die Wirkung des über den Abend konsumierten Alkohols unerträglich abgeschwächt. Er nimmt einen weiteren Schluck. Und unvermittelt wird ihm klar: Hätte er auf Onkel Ottos Gesellschaft verzichtet, könnte er nun in einem Taxi sitzen und in absehbarer Zeit zu Hause sein. „Scheiße“, murmelt er erneut und trinkt.

Was für ein Tag … was für ein Abend!

Er spürt ein unangenehmes Druckgefühl im Schritt und rückt es mit der freien Hand beiseite. Nach einem weiteren Schluck merkt er, wie dumpfer, warmer Nebel hinter seine Stirn wallt. Benommen sieht er sich um.

Die U-Bahn-Station ist ein Paradebeispiel für Reizlosigkeit. Die beiden Schienengräben verlaufen entlang der Wände, der Bahnsteig ist in der Mitte. Grauer Steinfußboden, verziert mit Kaugummiflatschen und dem Dreck des Alltags. Wände und Säulen mit emaillierten Kacheln, ehemals weiß, doch signiert mit zahllosen Ölstift-Signaturen. Funktionalität ohne jegliche Zier, weder architektonischer noch informativer Art. Keine historischen Wandbilder und Schaukästen wie in den Stationen Stiftskirche und Nordtor. Keine Bildschirme, die wie am U-Bahnhof Stadttheater Szenen aus aktuellen Bühnenproduktionen zeigen. Nicht einmal eine Beamer-Installation, die Wartende mit einer Dauerschleife aus Nachrichten, Aktienkursen, Wetterbericht und Werbung animiert. Dies hier ist Station Bachstraße – wenngleich in Citynähe, so doch von Stadtplanern nahezu ignoriert; so trostlos, dass sich nicht einmal Obdachlose oder Junkies hier aufhalten, sondern lieber die Umgebung der nächsten Station am Schillerplatz frequentieren.

„Wahrscheinlich wollte der Architekt den Auftrag möglichst rasch vom Reißbrett kriegen“, phantasiert Kai. Und wie so oft, wenn ihm langweilig wird, folgt er den Handlungen seines Kopfkinos, dem nur kurze Impulse genügen, um Geschichten zu formen: „Vielleicht für einen besser bezahlten Auftrag. Oder er durchlebte eine unkreative Phase, weil einfach alles gerade beschissen lief und nichts funktionierte. Oder ihm ist mehrmals die Drecksbahn vor der Nase weggefahren und er dachte sich: Dich verlausten Schienenreiter lasse ich bis zur Rente durch die langweiligste Station der Welt fahren.‘ Kai nimmt einen Schluck. Er entscheidet sich für die letzte Version und erklärt sie zur Wahrheit. ‚Immerhin bleibt hier über Nacht das Licht an. Mir soll’s …‘

In just diesem Moment klickert es leise über ihm. In den beiden Lampenreihen längs der Stationsdecke erlischt jedes zweite Neonröhrenpaar.

„Ernsthaft?“ Der junge Mann schaut empor. Dann beginnt er zu kichern. Das Kichern wächst zu einem schallenden Lachen an, wird zu einem Gewieher, in dem eine Hysterie mitschwingt, die manchem eine Gänsehaut bescheren würde. „Pech biblischen Ausmaßes“, japst er, nachdem er sich einigermaßen beruhigt hat und sich die tränenden Augen reibt. „Gleich wird es noch Frösche und Heuschrecken regnen.“ Als er erneut auf die Uhr blickt, wird ihm gewahr, dass diese erst 00:20 Uhr anzeigt, was sein Lachen erneut aufpeitscht. Atemlos kramt er schließlich in der Innentasche seiner Lederjacke, friemelt einen kleinen Schreibblock und einen Kugelschreiber heraus und notiert:


Ihm gefällt der Satz. Irgendwie entspricht er seiner Stimmung.

Hiob … eine biblische Gestalt, das weiß er. Aber was es mit der nach ihm benannten, Unglück vermittelnden Botschaft auf sich hat, müsste er nochmal nachschlagen. In seinem Kopfkino rattert der Projektor. Wer könnte diesen Satz denken, sagen, verzweifelt herausbrüllen? ‚Ein Typ, der an einem Punkt ist, an dem es gar nicht schlimmer werden kann. Der klitschnass, betrunken, frustriert und allein in einer U-Bahn-Station steht. Oder inmitten von leblosen Körpern. Mit einer rauchenden Uzi oder einem triefenden Katana in Händen. Womöglich aus mehr Körperöffnungen blutend, als er haben sollte. Der hysterisch zu lachen beginnt, da er sich fragt, welche perverse Gottheit er so verärgert haben mochte, dass sie ihm dermaßen auf den Kopf scheißt.‘

Solcherlei Gedanken, Szenerien und Beschreibungen notiert Kai möglichst sofort. Manchmal kommt es vor, dass er Zettel und Stift nicht parat hat oder sich die Situation nicht eignet, etwas aufzukritzeln. Zum Beispiel, wenn er als Sargträger über den Friedhof wandelt. Befindet sich das Grab weit genug von der Trauerhalle entfernt, steht ihm oft eine Menge Schleichstrecke zur Verfügung, um Tagträumen hinterherzujagen und im Trüffelfeld seines Kopfes nach prosalyrischen Delikatessen zu wühlen. Nach einer Beerdigung haften dann oft Dutzende geistige Notizen an seinem Hirn wie an einer chaotischen Pinnwand.

Kai rupft den Zettel ab. Block und Kuli verstaut er wieder in der Jacke, die Notiz stopft er in die Gesäßtasche. Er muss nicht noch mehr dazuschreiben. Der Satz dürfte auch so alle Gedanken wieder zurückbringen. Morgen will er schauen, was sich aus der Zeile machen lässt.

‚Heute‘, verbessert er sich. ‚Irgendwann.‘

Er wohnt in einem Vorort. Wenn er um 4:45 Uhr in die erste Bahn steigt, liegt vor ihm noch eine halbstündige Fahrt zu seiner Zielhaltestelle. ‚Sofern ich sie nicht verschlafe.‘ Dann nochmal zwanzig Minuten Fußweg zu seiner Wohnadresse. Dann endlich würde er in sein Bett sinken und schlafen, schlafen, schlafen, bis …

Nein, Moment. Nur etwa zwei Stunden. ‚Verflucht!‘ Läge er sich hin, müsste er sich zehn und mehr Alarme stellen, um wieder wach zu werden. Nein, da wird es sicherer sein, wenn er sich einen Kaffee kocht, der Tote zu reanimieren vermag. Am besten gleich eine Kanne. Mindestens. Dann muss er sich wieder zur Haltestelle schleppen, zweimal umsteigen, und um neun Uhr vor der Trauerhalle des Hauptfriedhofs parat stehen. Nach der Koffeindröhnung hoffentlich aufrecht, schlimmstenfalls schlurfend, bestenfalls brummkreiselnd. Dann eine lahme Trauerfeier. Pastor Lübke, dieser verschnarchte Messdiener, predigt immer länger als erträglich. Mit einer Stimme, als müsse er jedes Wort mühsam aufklauben. Und Kai wird in der Kammer nebenan sitzen, die sicher wieder völlig überheizt ist. Gemeinsam mit den anderen Sargträgern. Diesen Greisen, die wie Fabrikschlote rauchen und sich mit ihren Wehwehchen übertrumpfen. Dann der Marsch ans Grab. Nur nicht zu schnell, damit die Gehbehinderten auch mithalten können. Und all das für lumpige 30 Euro.

Kai Trollmann stöhnt verbittert. Erst in hundert Jahren oder so, käme er wieder nach Hause, um endlich in einen komatösen Schlaf zu fallen.

Er blickt skeptisch neben sich. Mit seinem Siegelring klackert er auf eine der Sitzschalen, die einzeln nebeneinander montiert sind. Sie haben keine Rückenlehnen, damit man von beiden Seiten auf ihnen Platz nehmen kann. Hier zu liegen dürfte nicht sonderlich bequem sein. Den Gedanken, sich auf dem versifften Boden niederzulassen, verwirft er sofort. ‚So weit bin ich nun doch noch nicht.‘

Kai stellt die Flasche auf den Boden und probiert, sich über die Sitzschalen lang auszustrecken. Erst auf der Seite. Dann auf dem Rücken. Er versucht sich irgendwie zurechtzuschieben, verschränkt die Arme über der Brust, belässt einen Fuß auf dem Boden, den anderen legt er hoch. Eine Sitzkante drückt gegen seine Lende, eine andere gegen seine Wirbelsäule, sein Kopf sackt nach hinten in eine der Sitzmulden. ‚Als läge man auf der Behandlungsliege eines sadistischen Chiropraktikers.‘ Und obwohl ihm klar ist, dass er nicht länger als eine Minute so aushalten, geschweige denn schlafen können würde, bleibt er für eine Weile so liegen. ‚Nur kurz; nur für einen Moment …‘

Er schließt die Augen und lässt die Abfolge des Tages durch seine Gedanken laufen. Wie die Zusammenfassung vor einer Serienepisode, wenn eine dramatische Stimme ankündigt: ‚Was bisher geschah, … 14. November 2004: Der mieseste Tag im Leben des Kai Trollmann, des größten Losers der Stadt.‘ Seine Miene bewölkt sich bis in die Nachmittagsstunden der Collage, als ziehe eine Unwetterfront über sie hinweg. Aber während ihm die Schnittfolge die Szenen der Folgestunden zeigt, klart sein Antlitz auf. Irgendwann greift er mit geschlossenen Augen in die Außentasche seiner Lederjacke und zieht ein Stoffknäuel heraus: ein Halstuch, rot, mit weißen Punkten. Er legt es sich aufs Gesicht, atmet den Duft tief ein und grinst breit. ‚Nun, es war nicht alles schlecht.‘

Fordere man von ihm eine Selbsteinschätzung zum äußeren Erscheinungsbild, würde Kai Trollmann sich als gesundes Mittelmaß, publik vorzeigbar einstufen. Offiziell. Insgeheim hinzufügen würde er: Irgendwo zwischen mindestens Matt Damon und nicht ganz Leo di Caprio. Und er wüsste um die Richtigkeit seiner Bewertung. Hinzu kommt noch sein Talent, um welches ihn viele Geschlechtsgenossen beneiden. Unter Alkoholeinfluss verfeinert sich Kais Sprachbegabung. Statt in plumpes Lallen zu verfallen, vermag er weiterhin geschliffen zu artikulieren und geistreiche Rhetorik zu liefern. „Du privilegierter Bastard!“, hat Holger ihn mehr als einmal verflucht. „Du knallst dir die Promille rein und redest immer noch wie ein Philosophie-Professor im Casanova-Modus. Und ich sitz daneben wie ein Honk und merke, wie du die Mädels unten abzapfen könntest.“

Holger ist Webdesigner und als solcher wirklich gut und begehrt. Er arbeitet daheim und wenn er will, kann er ziemlich fleißig sein. Allerdings richtet er nicht sein Privatleben nach seinem Arbeitspensum aus, sondern umgekehrt. Er nimmt einen neuen Auftrag nur an, wenn er besonders lukrativ ist oder von einem wichtigen Kunden kommt oder es bei ihm finanziell eng geworden ist. Während einer solchen Arbeitsphase kommt es vor, dass er sich in seiner Wohnung im fünften Stock eines Mietshauses verkriecht, um den Job möglichst schnell zu erledigen. Dann mutiert er zu einem Wesen, das etwa zu gleichen Teilen Ähnlichkeit mit The ‚Dude‘ Lebowski und dem Big Foot hat. Doch auch, wenn er mit Kai loszieht, ist sein Erscheinungsbild nicht unbedingt von der Art, die Frauenherzen höherschlagen lässt. Eigentlich ist Holger sogar ein recht ansehnlicher Bursche, nur leider gefangen im Körper eines tapsig wirkenden Hünen, dessen Haarwuchs sich nicht auf die üblichen Bereiche beschränkt. Er trägt Klamotten auf, bis sie kapitulieren. Gerne T-Shirts mit Aufdrucken aus Kultfilmen auf der Front, meist so verwaschen, dass sie nur noch bröckelig zu erkennen sind. Frauen, mit denen er ins Gespräch kommt, lassen daher oft nur mäßiges Interesse erkennen. Zumal die sehr spezifischen Themen, über die Holger begeistert zu referieren vermag, Damen bestenfalls ein geduldiges Lächeln entlocken.

Von all dem abgesehen ist er ein intelligenter und vielseitig interessierter Mensch, herzensgut, gesellig und stets hilfsbereit, wann immer seine üppige Freizeit es zulässt. Ist er jedoch mit Kai unterwegs, kommt Holger sich oft vor wie ein Wookie neben einem souveränen Han Solo. (Was besonders absurd erscheint, wenn er tatsächlich eines seiner Lieblings-Shirts trägt, das den Star-Wars-Riesenaffen zeigt.) „Unglaublich!“, äußerte er schon manches Mal ratlos. „Ich rede mich um Kopf und Kragen und du sagst drei Sätze und könntest sie einfach abschleppen.“

Könnte und kann er, richtig. Und beizeiten tut es Kai auch. Denn grundsätzlich stellt dies kein Problem dar. Eigentlich nicht …

Kais Miene verfinstert sich, als ihm seine derzeitige Situation zu Bewusstsein kommt. – Nein, er will nicht daran denken! Er rupft sich das Tuch vom Gesicht. Ohne die Augen zu öffnen, tastet er nach der Flasche am Boden und führt sie an die Lippen.

Als sich eine der Rolltreppen plötzlich in Gang setzt, fährt er so erschrocken zusammen, dass er sich fast verschluckt hätte. Unbeholfen richtet er sich auf, wobei er das Tuch in seine Hosentasche stopft, und wendet sich um. Die Decke verbirgt den oberen Teil der Rolltreppe. Es ist dieselbe, die er vorhin heruntergehetzt ist.

‚Das fehlt mir noch‘, denkt Kai grimmig, ‚dass mir jetzt auch noch irgendein Penner auf die Eier geht.‘

Dann erkennt er Füße in hellen, absatzlosen Damenschuhen, die auf einer der stählernen Stufen langsam aus dem Oben ins Unten gleiten, und ist etwas beruhigter. Es sind sicherlich sieben Meter schräge Distanz bis zum unteren Absatz der Treppe. Gespannt beobachtet er, wie sich die Gestalt vervollständigt. Unwillkürlich zählt er die Sekunden.

Eins. – Schwarze Hose.

Zwei. – Knallroter, lackglänzender Mantel, mit Tropfen übersät.

Drei. – Dunkle Umhängetasche über der Schulter.

Vier. – Über der anderen Schulter zeigen sich die Enden eines Kopftuchs, im Nacken zusammengebunden.

Fünf. – Sie ist groß, vollschlank wie Kai vermutet, denn der Gürtel umspannt straff die Manteltaille.

Sechs. – Ihr Gesicht ist nur zum Teil zu erkennen. Eine große Sonnenbrille verdeckt die Augenpartie. Dennoch meint Kai zu sehen, wie sich ihre Miene hinter den dunklen Gläsern verhärtet, als sie den jungen Mann auf der unteren Ebene der Bahnstation erblickt. Mit den Händen umklammert sie die Träger ihrer Tasche.

Sieben. – Kai spürt ein leichtes, aber unangenehmes Zirpen in seinem Hinterkopf. Wahrscheinlich vom Alkohol. Oder weil er sich zu ruckartig aufgerichtet hat. Oder wegen beidem.

Acht. – ‚Immerhin kein Penner oder Junkie, oder sonst irgendein Freak.‘ Andererseits hat Kai absolut keinen Nerv, sich die nächsten Stunden mit der Zwangsgesellschaft einer ihm fremden Trulla abzuquälen, die ihn womöglich zulabert. „Zu spät!“, ruft er laut. „Die letzte Bahn ist schon weg!“

Neun. – Seine Stimme, die selbst auf ihn fremdartig und unabsichtlich bedrohlich klingt, verhallt in der Station. Kai ist nicht entgangen, wie die Frau zusammenzuckte. Sie antwortet nicht. ‚Jetzt hat sie bestimmt Schiss. Wie kann diese dumme Kuh nur so unvorsichtig sein, nachts und zudem völlig allein einen Ort wie diesen aufzusuchen?‘

Zehn. – ‚Hat vielleicht ebenfalls keine Kohle für ein Taxi. Und nun trägt die Treppe sie hinab zu einem potenziellen Vergewaltiger und Mörder, der aus einer Schnapspulle nuckelt und sie anschnauzt. Sicher überlegt sie gerade, gegen die Fahrtrichtung zurück nach oben zu hasten.‘

Elf. – Die Frau bleibt reglos auf der abwärts gleitenden Stufe stehen. Und soweit er das beurteilen kann, lässt sie ihn hinter ihrer großen Brille nicht aus den Augen. Schließlich erreicht sie das Ende der Rolltreppe.

Zwölf.

„Haben Sie gehört? Die 102 ist längst weg!“

‚Nicht, dass sie Schiss bekommt und mir die Bullen auf den Hals hetzt.‘ Um sein Desinteresse an ihr zu zeigen, dreht Kai sich in die andere Richtung und verschränkt die Arme. Sicher würde sie nun auf der benachbarten Treppe gleich wieder nach oben fahren. ‚Hatte ich echt die Befürchtung, mir könne irgendein Penner auf die Eier gehen? Der Penner … das bin hier ich. Hiob würde darüber lachen.‘ Kai grunzt belustigt bei dem Gedanken, wie auch Holger sich kaputtlachen würde, wenn er ihm später von dem hier erzähle. Er lauscht auf hektische Schritte und das Starten der Aufwärts-Treppe. Doch nichts. Im Gegenteil: Hinter ihm verstummt das Dröhnen. Verwundert dreht er sich wieder um.

Die Frau steht noch da. Zehn Meter von ihm entfernt. Am Fuße der nun reglosen Rolltreppe. Regungslos schaut sie zu ihm hinüber.

‚Wieso hat sie überhaupt eine Sonnenbrille auf? Nachts. Bei Gewitter!‘ Kai bemerkt, wie nun ihn eine vage Unruhe überkommt. Dann sieht er, wie sie verkrampft die Träger ihrer Tasche wringt. – Irgendwie erinnert sie ihn an eine Zeile aus einem alten Song: Just another fallen angel trying to get through the night. – Genauso sieht die Fremde aus: Wie ein gefallener Engel, der sich bemüht, die Nacht zu überstehen. Kai überlegt, von wem der Song war und wie der Refrain ging. ‚Lieber Himmel, das war in den Achtzigern, oder?‘ Aus seiner Erinnerung dringen kraftvolle Akkorde: ‚Step by step, one by one, higher and higher … Climbing Jacob’s ladder. Ja, genau. Huey Lewis & the News.‘ Er weiß noch, wie er damals mit einer anderen Zeile dieses Liedes sein Schuletui beschriftet hat und muss schmunzeln. ‚Hat sich was mit Jakobs Himmelsleiter. Hier gibt es nur Rolltreppen. Und just another fallen angel …‘ Da ist die Erkenntnis, dass jener weitere, auf den sich another bezieht, er selbst ist. Irgendwie beunruhigt ihn der Gedanke: Zwei gefallene Engel. Sie und er. Hier und jetzt.

„Glauben Sie mir: Es kommt heute keine Bahn mehr!“, ruft er. „Das heißt, formell gesehen schon. Denn heute ist ja quasi heute.“ Er wedelt fahrig mit der Hand. „Könnte lang werden, hier zu warten. Die erste Bahn kommt erst um Viertel vor fünf.“

„Ich weiß.“ Sie sagt es so leise, dass er ihre Worte kaum verstehen kann.

Kai runzelt die Stirn. ‚Wenn sie es weiß, warum ist sie trotzdem heruntergekommen?‘

Sie hat sich keinen Zentimeter von der Rolltreppe entfernt und starrt ihn weiterhin an, während ihre Hände die Träger ihrer Umhängetasche würgen. Womöglich eine Geste aus Verlegenheit, die Kai aber kirre macht. Er räuspert sich, mustert das Abbild des Fürsten auf dem Flaschenetikett, trinkt, schnalzt mit der Zunge, lehnt sich mit beiden Ellbogen auf die Knie, beginnt mit den Fersen zu wippen … und realisiert, dass er sich nun selbst in Verlegenheitsgebärden flüchtet. Dieses Glotzen zermürbt ihm die Geduld.

„Tja, kaum zu glauben, was?“, sagt er laut und blickt zur Uhr empor. „So gut sehe ich nur um diese Zeit aus.“ Er rechnet kaum mit einer Entgegnung, eher mit betretenem Schweigen, hofft, dass sich die Frau endlich abwenden und gehen würde. Umso mehr verblüfft es ihn, als sie mit fester Stimme sagt:

„Ja, kaum zu glauben: An so etwas Ähnliches dachte auch ich gerade.“

Kai hebt die Brauen und wendet sich ihr zu. „Ernsthaft?“ Schwer vorstellbar, dass irgendeine Frau ihn in seinem Zustand attraktiv finden könnte: Mit benebeltem Blick, der Pulle in der Hand, eher auf der Sitzschale hängend als sitzend. Nach diesem beschissenen Tag. „Na, dann genießen Sie den Anblick mal noch die letzte halbe Stunde. Um ein Uhr verwandle ich mich zurück. In was, verrat ich nicht. Aber es wird Ihnen weniger gefallen.“

Die Frau lächelt. Es ist ein seltsames Lächeln. Irgendwie süß und zugleich verbittert.

„Witzig, was?“ Er erwidert das Lächeln. „Ja, ich bin ein richtiger Komiker. Vor allem an miesen Tagen.“ Er will gerade einen weiteren Schluck Korn nehmen, da spricht die Frau in rhythmischen Worten:

„Von al-len Sei-ten zu-ge-schis-sen, wird man leicht zum O-ber-clown.“

Er setzt die Flasche rasch ab, da er auflachen muss. „Wow! Der hat was. Ein Jambus, oder? Ist der von Ihnen?“

Sie wirkt irritiert. „Von mir?“

„Ja. Kann ich den verwenden?“

„Das … wäre nicht gut.“ Eine nervöse Regung huscht über ihr Gesicht.

„Ich werd ihn abändern, versprochen.“

Ihr Lächeln ist verschwunden. Für einen Moment macht sie den Eindruck, als sei ihr ein völlig verrückter Gedanke gekommen. „Wäre es so leicht?“

„Na klar.“ Plötzlich erscheint Kai ein Gespräch mit dieser Fremden nicht mehr gänzlich unsympathisch. ‚Wer abgedrehte Zitate kennt, kann kein allzu mieser Gesprächspartner sein.‘

„Sie hatten auch ’nen miesen Tag, was?“, fragt er laut.

Sie zuckt mit den Schultern, geht ein paar Schritte an die Bahnsteigkante heran. Ihre Absätze klackern auf den Bodenfliesen. „Die Anreise war … anstrengend“, sagt sie schließlich, während sie auf das Gleis hinunterblickt.

„Was treibt Sie denn heute Nacht nach draußen? Noch dazu bei dem Scheißwetter?“

Sie wendet sich ihm zu, holt Luft, öffnet unentschlossen den Mund. „Familienangelegenheiten“, bringt sie endlich heraus.

„Ihr Mann?“

„Nein“, antwortet sie, diesmal sehr schnell. „Nein. Mein Vater.“

„Ach …“ Die Frau kann es nicht wissen, aber diese Antwort sorgt für eine Assoziation, die sofort Groll in ihm aufsteigen lässt. „Na, da haben wir ja was gemeinsam.“ Er hält die Flasche in ihre Richtung. „Auch’n Schluck?“

Die Frau zögert. „Besser nicht.“

„Okay.“ Er trinkt. Neuer Versuch. „Ich bin Kai.“

Sie nickt. „Helen.“

Er nickt ebenfalls.

Eine Pause entsteht.

„Und wie lief’s?“

„Was?“

„Das Treffen mit Ihrem Vater.“

„Schwierig …“ Helen räuspert sich und geht einige Schritte auf ihn zu. „Schwieriger als ich dachte.“ Sie spricht, als müsse sie jedes Wort zweimal überdenken. „Man wird sehen … was passiert … zukünftig.“

„Tja, Väter sind eine anstrengende Spezies. Das war immer so und wird immer so bleiben.“ Kai lehnt sich auf den Nachbarsitz. „Ich hab da auch so einen. Erst Mitte fünfzig, aber störrisch wie ein alter Esel. – Wie alt ist ihrer?“

Sie bleibt stehen, wenige Meter von seiner Bank entfernt. „Er … er hat nicht mehr lange zu leben.“ Ihre Stimme vibriert.

„Oh.“ Prompt weiß Kai nicht, wie er sich verhalten soll. Trostspenden und Mitleidsbekundungen sind nicht sein Ding. Bei seinem Job auf dem Friedhof erlebt Kai oft, wie Trauergäste den Angehörigen ‚Mein aufrichtiges Beileid‘ zumurmeln. Für ihn hört es sich meist wie Floskel an. Und hier wären diese Worte eh verfrüht und unangebracht. Er reagiert auf die ihm passabelste Weise: Er schüttelt die Flasche und lässt den Korn gluckern. „Wirklich keinen?“

„Nein. Danke“, sagt Helen zunächst und nagt an ihrer Unterlippe. „Das heißt … Moment.“ Mit entschlossenen Schritten geht sie auf ihn zu. „Gib her.“ Sie nimmt die Flasche aus seiner Hand und setzt sie in einer Weise an, die verrät, dass ihr diese Bewegung nicht fremd ist.

Kai zeigt ein anerkennendes Grinsen, während ein üppiger Schluck aus der Flasche verschwindet. „Wouh!“

Doch plötzlich verzieht Helen das Gesicht und setzt hustend ab. „Wie kannst du sowas trinken?“ Sie betrachtet das Etikett. „Das ist doch gar nicht deine …“ Sie verhustet den Rest und hält Kai die Flasche hin, als wolle sie einen vollen Müllbeutel loswerden.

Er nimmt sie entgegen. „Oh, sind wir schon beim Du? Werden Sie mal nicht übermütig. Für Onkel Otto hat die Kohle immerhin noch gereicht.“

„Oh, das … ich wollte nicht …“, versucht sie eine Entschuldigung.

Aber Kai winkt ab. „Ganz ehrlich? Um diese Zeit ist mir Höflichkeit völlig egal.“

„Um diese Zeit?“ Sie stößt ein leises Schnaufen aus. „Manches wird sich wohl nie ändern.“

„So?“ Er mustert sie irritiert. „Sie sagen komische Sachen, wissen Sie das?“

Kai merkt, wie die Wirkung des Alkohols ihm zu schaffen macht. Und er weiß, wie fatal sich das bei ihm auswirken kann. Er neigt dazu, aggressiv zu werden, wenn seine Trunkenheit über das Maß hinausgeht. Er wird keineswegs handgreiflich, nein, das nie. Aber streitsüchtig. Seine Rhetorik bleibt zwar wohlartikuliert, wird aber auch bösartig, zynisch und sarkastisch.

Holger, der bereits mehrfach diese Wandlung hat beobachten können, beschrieb es mal als Transformation zu einem verbalen Mister Hyde. Er hütet sich stets, Kai zu reizen, wenn dieser als Noch-Doktor-Jekyll ein gewisses Pensum intus hat und sich dem kritischen Level nähert. Wenn ihn dann jemand nervt oder gar reizt, kommt es vor, dass Kai diese Person mit einem sprachlichen Trommelfeuer zerschießt. Aus reinem Spaß. Und weil er weiß, dass er es kann. „Alter, ich bin froh, dich nicht zum Feind zu haben“, hat Holger mal gesagt. „Bei dir bekommen Sprengsätze eine neue Bedeutung.“

Noch nervt ihn diese Frau namens Helen nicht. Sie belustigt ihn sogar irgendwie. Aber wenn sie ihm jetzt krumm kommen sollte …

„Verrückt, nicht?“, murmelt sie nachdenklich und entfernt sich dabei einige Schritte zur Bahnsteigkante hin. „Da hat man jede Menge Zeit. Doch dann ist alles wie ausradiert. Alles, was man sich vorgenommen hat zu sagen. Oder zu tun.“

Der junge Mann mustert sie verkniffen.

„Ich habe immer geahnt, dass es nicht leicht sein würde, mich dir zu nähern. Aber so dermaßen schwer …“

‚Ach du Scheiße.‘ Eine Ahnung schießt Kai durch den Kopf. ‚Is ja irre! Will die etwa …?‘

Holger hat mehrmals behauptet, dass es diese Frauen geben soll. „Die sind halt einsam. Aber die gehen eben nicht wie wir in den Puff. Die machen sich nachts auf den Weg, um sich einen Typen aufzureißen, der ihnen annähernd nett erscheint. Mit dem bandeln sie dann an, um sich von ihm durchvögeln zu lassen. – Also, selbst erlebt hab ich’s noch nicht, aber …“

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