Kitabı oku: «Das Buch des Kurfürsten», sayfa 2

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Zwei

Philipp sah nach rechts und links in die Obere Kalte Talgasse, während er darauf wartete, dass Sekretarius Kolb die Stufen hinabging. Kalte Luft wehte in den Vorraum der kurfürstlichen Kanzlei am Schlossberg. Glaslaternen hingen von der Decke und sorgten für Licht. Draußen dämmerte es, vor Kurzem hatte der Turmbläser vom Jakobstor zum Beginn der Nacht geblasen.

Die Dächer der beiden gegenüberliegenden Scheunen waren weiß bepudert, es schneite. Eine Schneeflocke ließ sich auf Philipps Nase nieder, er fuhr mit dem Handrücken drüber, um die Nässe wegzuwischen.

Kolb stapfte Richtung Kanzleigasse davon, und Philipp betrachtete dessen Fußspuren auf den drei Stufen vor sich. Ob es nötig wäre, die Treppe zu fegen, damit niemand stürzte? Er würde den Kollegen Hans darum bitten. Er selbst musste die Zollzeichen fertig machen.

Er war im Begriff, die Tür zu schließen, als ihm eine schwarz vermummte Gestalt auffiel, die ebenfalls Richtung Kanzleigasse ging, nicht mehr als ein Schatten, mit schneebedeckter Kapuze, die das Gesicht verhüllte. Der Schatten wirkte seltsam unförmig, als habe er einen Buckel oder verkrüppelte Schwingen wie ein Dämon. Auf der Höhe der Tür verlangsamte er seinen Schritt, wandte den Kopf kurz herüber, machte eine Bewegung, als wolle er sich entschließen, heranzukommen.

Das kam nun gar nicht infrage! Rasch schloss Philipp die Tür und drehte den Schlüssel im Schloss. Sicher ein Aussätziger. Doch für Almosen war die Kanzlei nicht der rechte Ort. Was wollte der im Oberen Kalten Tal? Dem Viertel, in dem lediglich Hofbedienstete wohnten? Man würde ihn davonjagen. Vielleicht will er auch nur zum „Blauen Hut“, dachte Philipp, während er in die Stube im Erdgeschoss zurückging. Durch den schiefergedeckten Turm am Ende des Kalten Tals in der östlichen Stadtmauer gelangte man ebenfalls hinaus in die Jakober Vorstadt, wo Pilgerquartiere und Spitäler lagen.

Philipp schloss die Tür der Schreibstube. Hier war es warm, ein Feuer brannte im Ofen, Kerzen in Wandhaltern und im Messingständer auf dem Schreibtisch erhellten den Raum, in dem es nach Papier und Kerzenwachs roch. Er setzte sich wieder an den Tisch, von dem er zuvor aufgestanden war, um Sekretarius Kolb hinauszulassen. Vor ihm lagen die Zollzeichen, die er fast fertig gestempelt hatte. Nur wenige waren noch übrig, er machte sich an die Arbeit. Das tintengetränkte Leintüchlein, in das er den kurpfälzischen Stempel drückte, roch eigen nach Kanzlei. Er mochte, wie es in der Schreibstube roch. Er mochte, wie es in der gesamten Kanzlei roch. Nach Holzkästen, Siegelwachs und Sackleinwand. Und wenn die fürstlichen Räte und Juristen an ihm vorbeieilten, wehte hinter ihren schwarzen Wämsern ein Dunst aus Tinte, Schweiß und Bratenfleisch vom Mittagsmahl her.

Derzeit ging es emsig zu. Kaum einer der Sekretäre und Schreiber konnte in diesen Tagen pünktlich um fünf Uhr Feierabend machen. Sie schwirrten umher, suchten Truhen und Kisten zusammen, packten Schriftstücke und Urkunden hinein, bearbeiteten Dringliches und Liegengebliebenes gleichermaßen eilfertig. Und die schwarzgelben Umhänge der Pfälzer Boten wehten in noch größerer Eile als sonst durch die Türen, wenn diese mit wichtigen Mienen nach jenen fragten, denen sie Botschaften zu überbringen hatten, oder jenen, die nach ihnen geschickt hatten. Denn Kurfürst Friedrich IV. verließ Heidelberg in wenigen Wochen, um in die Oberpfalz zu reisen. Man hatte im entfernten, zur Pfalz gehörenden Territorium nach ihm verlangt. Er sollte dort für eine längere Zeit seinen Aufenthalt nehmen und die Angelegenheiten ordnen. In der Oberpfalz schien der Aufstand der Einwohner gegen das calvinistische Pfälzer Regiment immer bedrohlicher zu werden. Die Anwesenheit des Fürsten war vonnöten. Und bis also Ihro Gnaden mit der Hälfte seines Hofstaates im Januar gen Amberg abreiste, mussten Unterlagen gesichtet, Schriftstücke vorbereitet, Bestände geprüft und der Reisezug gerüstet werden. Das setzte die Kanzlei noch mehr als sonst in Umtrieb.

Zu alledem war heute Martinstag. Das neue Wirtschaftsjahr begann. Zahltag für das abgelaufene Pachtjahr. Die Collectoren waren seit dem Nachmittag durch das Gebäude gehastet, um die eingenommene Pacht in der Rechenkammer abzuliefern. Die Rechenschreiber hatten nicht einmal Zeit für eine Pause gehabt und den Imbiss, den Philipp ihnen zu Mittag gebracht hatte, neben den Rechnungsbüchern eingenommen.

Er lehnte sich im Stuhl zurück und hob den Kopf. Im schwarzen Rechteck des Fensters gegenüber spiegelte sich sein Gesicht, bartlos derzeit, schmal. Draußen war es jetzt gänzlich dunkel. Philipp blähte seinem Spiegelbild die Backen auf, strich das ohrlange blonde Haar nach hinten. Er sah auf das Stundenglas. Fünf Uhr vorbei. Er hatte es geschafft. Er hatte die Zollzeichen fertig, musste sie nur noch in die Lade schließen. Er starrte in die Kerzenflammen auf dem Schreibtisch. Eigentlich sollte er nun durch die Stuben gehen und das Schreibzeug wieder einsammeln, doch zeitig morgen früh würde ohnehin alles wieder gebraucht werden. Es gehörte zu seinen Aufgaben als Kanzleiknecht, die Dinge, die in der Kanzlei verwendet wurden, zu verwahren. Er kümmerte sich um Truhen, Säcke, Taschen, Papier, Wachs und Tinte. Auch das Brennholz gab er aus. Er, Philipp Eichhorn, zwanzig Jahre alt, war der Hüter des Schreibzeugs, wie er zu Hedwig manchmal scherzhaft sagte. Beim Gedanken an Hedwig schmunzelte er. Sein Weib! Kämpfe hatten sie ausgefochten, bis sie endlich heiraten konnten. Weil sie so jung waren, war ihr Vater dagegen gewesen. Aber Hedwig war standhaft geblieben. Sie wollte ihm folgen. Sie hätten sich zu ihrem sechzehnten Geburtstag im vergangenen Februar ohnehin vermählt – dass Juli zu diesem Zeitpunkt bereits unterwegs war, erleichterte das Argumentieren gegenüber Hedwigs Vater. Vor Vorfreude auf sein Weib und seine Tochter wurde ihm warm ums Herz. Den Abend würden sie mit Freunden im Gasthaus „Schwert“ verbringen. Kilian kam natürlich mit, und dessen Kollege Georg Bock, der wie Kilian Hausknecht im Marstall war. Peter Manhum und Martin Bellersheim, zwei befreundete Einspännige, würden da sein, Torwächter und Trompeter, mit denen sie auch sonst gelegentlich im „Schwert“ oder dem nebenan gelegenen „Bären“ zechten. Und weil heute Martini war, das beliebteste Fest im Jahreslauf, das den Überfluss des Herbstes vielerorts mit Schlachtfesten feierte, zudem der Tag der ersten Weinprobe, würden zu dem Schmausen und Trinken am Abend auch die Weiber und Liebchen mitkommen, sodass die Schenken überquellen würden. Er freute sich darauf. Leider erinnerte es ihn aber auch daran, dass die Kanzleiknechte in ihren Stuben drüben im Ostflügel im Zwerchhaus unterm Dach ebenfalls ein Trinkgelage veranstalten würden. Er hoffte, Nickel würde ihm nicht den Abend verderben und ihm den Rundgang durch die Kanzlei aufbürden, weil er selbst saufen wollte. Es gehörte ebenfalls zu seinen Aufgaben, die Kanzleiverwandten abends hinauszulassen und sorgfältig hinter ihnen abzusperren. Doch da er verheiratet war und nicht wie die meisten Kanzleiknechte im Gebäude wohnte, musste er hernach nicht herumgehen, um nachzusehen, ob sich niemand in der Kanzlei verbarg. Nun, gewöhnlich tat Nickel dies ohnehin zu gerne selbst. Nicht nur, weil er oberer und Philipp unterer Kanzleiknecht war, sondern weil er sich gerne wichtig vorkam, wenn er, das Kurzschwert gegürtet und den stämmigen Michel Ley an seiner Seite, durch die leeren, dunklen Räume schritt, in denen tagsüber die Schreiber arbeiteten, die Notare protokollierten und der Oberrat tagte.

Philipp gähnte und betrachtete sich im Fenster, wie er das Maul aufriss. Just in dem Augenblick ging die Tür, und Sekretarius Dürr rauschte herein.

„Müde, Eichhorn?“, näselte er, während er herankam und mit gerunzelter Stirn auf Philipp niederschaute.

Philipp stand auf.

„Uns ist die rote Tinte ausgegangen, Eichhorn. Morgen früh ist mein zweites Horn wieder gefüllt, denk daran!“

Wie der das „uns“ betonte. Wichtigtuer.

„Du kannst mich nun hinauslassen. Kammersekretär Pelen ist schon gegangen.“

Kammersekretär Pelen ist schon gegangen, äffte Philipp in Gedanken das hochmütige Näseln des Sekretärs nach. Der bildete sich gewaltig was drauf ein, von Kammersekretär Pelen eingearbeitet zu werden. Dürr, Sekretär im Oberrat, genoss die Gunst des Kurfürsten und würde mit nach Amberg reisen, wo er die Aufgaben des alten Kammersekretärs übernehmen würde. Deshalb hing er mit Pelen derzeit meist droben im Schloss am Rockzipfel des Kurfürsten.

Philipp folgte dem schmalschultrigen Mann in den Flur. Dürr wartete, dass Philipp ihm die Tür aufhielt und stolzierte die drei Stufen hinunter, ohne einen Gruß auch nur zu murmeln.

Hässlicher Emporkömmling, dachte Philipp.

Er sah noch einmal die Gasse hinauf und hinunter. Keine dunkle Gestalt, kein Schatten. Philipp schloss die Tür und drehte den Schlüssel im Schloss.

„Wer war das?“

Philipp zuckte zusammen. Er hatte Nickel nicht herankommen hören.

Er drehte sich zu seinem Kollegen um. „Dürr“, antwortete er.

„Dann sind jetzt nur noch Hartung und Advokatus Schöner da. Und hinten in der Registratur Heberer.“ Nickel feixte.

Philipp ahnte, was nun kam.

„Du wartest, bis sie gegangen sind. Dann machst du den Rundgang. Worauf du hinaufkommst und dich bei mir abmeldest. Danach kannst du gehen. – Was? Passt dir nicht?“

„Nickel, du weißt …“

„Dass du zu deiner Holden willst?“ Er kam nah an ihn heran, so nah, dass Philipp riechen konnte, dass er bereits Bier getrunken hatte. Obwohl Nickel von kräftigerem Körperbau war als er selbst, der er zwar groß, aber dünn war, wich er nicht zurück. Nickel schob sein Gesicht dicht an seines. „Der untere Kanzleiknecht ist dem oberen zur Unterstützung beigeordnet“, spie er ihm ins Gesicht. „Und deshalb unterstützt du mich – und machst den Rundgang.“

Verachtung und Wut.

Warum nur? Weil Philipp ein Weib hatte und ihm deshalb erlaubt war, statt in der Kanzlei in einer Wohnung zu wohnen? Da war er nicht der Einzige, auch der ältere Knecht Conradt Hofman war verheiratet und verließ die Kanzlei am Abend. Er war Philipps Nachbar, hatte ihm die Wohnung bei Witwe Ringeler vermittelt. Neidete Nickel ihm dies? Oder lag es einfach an Nickels Wesen? Er war ein grobschlächtiger Prahlhans mit einer dicken, schiefen Nase, die ihm wohl einst einer gebrochen hatte.

„Du hast gedacht, weil Martini ist, lass ich dich früher laufen?“, zischte Nickel, dann lachte er einmal auf, falsch und widerwärtig, ein Stachel, den er Philipp ins Fleisch trieb.

Philipp starrte Nickel ins Gesicht und zischte: „Offenbar kennst du die Kanzleiordnung? Jeder Kanzleiverwandte muss sich eines gottesfürchtigen, ehrbaren und redlichen Wandels und Wesens befleißigen und sich der Laster …“

„Brauchst nicht so von oben herab zu tun, Eichhorn“, fiel Nickel ihm ins Wort. „Eines Tages polier ich dir die Fresse.“

Philipp schlug das Herz bis zum Hals. Dennoch bemühte er sich um einen schneidenden Ton. Kalt wie die Steinmauern, die sie umgaben, sagte er: „So? Und warum?“

„Um dir aufgeschossenem Unkraut eine zu verpassen, braucht’s keinen besonderen Grund.“ Noch einmal kam sein Gesicht nah heran. „Einfach – nur – weil – du – atmest.“

Philipp hielt der Nähe stand. Starrte Nickel in die Augen. „Dann wag’s doch!“, zischte er.

„Nimm’s Maul nicht zu voll!“

Philipp ballte die Hände zu Fäusten. „Du streitsüchtiges Schandmaul! Dir steigt doch zu Kopf, dass dein Pumphahn nur bei Schafen zum Zug kommt!“

Nickels Augen funkelten vor Zorn. Er streckte den Zeigefinger aus, hielt ihn Philipp drohend vors Gesicht.

Wenn er mich auch nur mit dem Nagel seines dummen Fingers berührt …

„Deine Nase soll im Arsch eines Hundes stecken!“, fauchte Nickel. „Ich hau dich zu Brei.“ Damit wandte er sich um und stapfte davon.

„Vorher hau ich dich zu Brei!“, schnaubte Philipp hinter ihm her. Er musste sich zusammennehmen, um die Tür zur Schreibstube nicht zuzuschlagen. Drinnen stapfte er wütend vor dem Schreibtisch auf und ab. Nickel war ein Widerling. Eine Eiterbeule. Eine Ausgeburt an Boshaftigkeit. Eines Tages würde eine Prügelei unvermeidlich sein. Nickel legte es darauf an. Herrgott noch mal! Er blieb stehen und starrte auf die fertigen Zollzeichen auf dem Tisch. Jeder Versuch seinerseits, mit Nickel auszukommen, scheiterte an dessen verbohrter Feindseligkeit. Sämtliche Kanzleiverwandte bis hinunter zu den Knechten waren durch die Kanzleiordnung dazu angehalten, keine Streitigkeiten zu beginnen, innerhalb der Kanzlei keine Gruppe um sich zu bilden, keine üble Nachrede zu führen und so zu vermeiden, Zwiespalt hervorzurufen. Traten doch Uneinigkeiten auf, sollte man versuchen, diese gütlich beizulegen. Half dies nicht, hatte man sich an den Großhofmeister oder Kanzler zu wenden. Hätte er dies also nicht längst tun sollen? Sich wehren und an Culmann wenden? Philipp wusste, sein Stolz ließ nicht zu, dass er wie ein kleiner Junge heulend zum Vater rannte. Und er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Keine solche Aufmerksamkeit. Er wollte nicht unangenehm auffallen, auch wenn er Culmann, der das Amt des Vizekanzlers innehatte und, da es keinen Kanzler gab, dessen Geschäfte führte, seiner sachlichen Art wegen angenehm fand. Er wollte, dass man merkte, wie gewissenhaft und vorbildlich er seine Pflichten erfüllte. Er wollte oberer Kanzleiknecht werden. Und dann, verwegen zu denken: Skribent, das Wort, das einen ganz eigenen Zauber besaß und ausmachte, dass sein Herz mit großem Klopfen in seiner Brust schlug. Warum nicht? Mit Fleiß und Gehorsam konnte er das schaffen. Auch wenn er als Knecht unter allen Schreibern stand. Man konnte aufsteigen. Ahnte Nickel dies? Fühlte er, dass ihn, Philipp, ein Ehrgeiz trieb, der ihm gänzlich fremd war? Wie auch immer – Nickel quälte ihn. Er musste einen Weg finden, dies zu unterbinden.

Aber nicht heute Abend! Heute war Martini. Hedwig, Juli, Kilian und die Freunde später im Wirtshaus. Er machte sich daran, die Zollzeichen in dem Kasten zu verwahren. Zollzeichenschreiber Wernig würde sie morgen beschriften, erst durch seine Schrift erhielten sie ihre Gültigkeit.

Philipp dachte, dass die Männer, die noch immer in der Kanzlei arbeiteten, dies gewiss nicht mehr allzu lange tun würden – auch sie wollten sicherlich den Martinsabend mit einem Umtrunk beschließen.

Drei

Im Dunkeln mussten die Menschen den Weg mit den Ohren finden. Oder mit der Nase.

Das gelang Hedwig inzwischen auch in Heidelberg. Wenn sie sich auch noch immer nicht so mühelos wie in ihrem Heimatdorf bewegte, wo sie sich vom Duft eines Geißblattbusches oder dem Gestank von Hübner Müllers Misthaufen hatte leiten lassen, so fand sie sich doch auch in Heidelberg am Kläffen der Hunde zurecht. Hatte zu Hause das Blöken der Schafe des Wersauer Schafshofs sie gelenkt, wenn sie nachts von einem heimlichen Treffen mit Philipp in ihr Elternhaus zurückkehrte, so wusste sie in der Stadt inzwischen um die Beschaffenheit des Straßenpflasters und wo sie Unebenheiten und Löchern ausweichen musste.

Dennoch blieb sie nun zögernd am Anfang der Unteren Gasse stehen, die vor ihr lag wie ein schwarzes Loch. Das unbehagliche Gefühl wich nicht. Sie sah zurück zum Marktplatz, den sie eben überquert hatte. Laternen und Fackeln tupften Lichtpunkte in die Dunkelheit, ein Schragentisch wurde umflackert von Rübengeistern, ausgehöhlten und von innen her erleuchteten Rübenköpfen, die schaurig grinsten. Es raschelte, als die Händler ihre groben, wachsgetränkten Leinwände über ihre Verkaufstische breiteten. Dahinter leuchtete das Gemäuer von Heiliggeist rotbraun im Fackelschein. Die Bäcker und Kammmacher, Töpfer und Goldschmiede harrten noch in ihren Verkaufsbuden zwischen den Außenstreben der Kirche aus, um späte Geschäfte zu machen. Bis hierher roch es nach Brezeln und Wellfleisch, und aus der Richtung des Fischmarkts drang ihr der Geruch heißer Maronen in die Nase. Sie war zuvor an der Kirche stehen geblieben, hatte sich vom Duft der kleinen Mandelkuchen verführen lassen und beim Zuckerbäcker zwei davon gekauft. Dabei hatte sie sich beobachtet gefühlt und sich umgeschaut. Doch da war nichts gewesen. Etwas war nicht da und doch da, wie ein gestaltloses Gespenst. Sie fühlte sich unbehaglich, weil ihr der Mann vor der Kirche wieder einfiel, den sie vom Fenster aus gesehen hatte. Warum hatte sie nicht Appel gefragt, ob der ihr ebenfalls aufgefallen war? Wenn nein, täuschte sie sich wohl. Doch wenn ja, wäre es leicht gewesen, Herrn Belier darauf hinzuweisen. Vielleicht hätte er ihr Velten zur Begleitung mitgegeben. Sie ärgerte sich über sich selbst. Sollte sie zurück?

Sie betrachtete die Lichtflecken auf dem Marktplatz, spähte nach Gestalten. Ein Mann hielt eine Laterne hoch, sah einem anderen ins Gesicht und lachte. Ein Bauer schrie einem Jungen eine Anweisung zu. Flocken taumelten sacht aus der Schwärze des Nachthimmels.

Sei nicht dumm, Hedwig, schalt sie sich. Hier gehen Leute in unterschiedlichsten Geschäften umher, Amtleute, Vasallen, Studenten. In einer Stadt wie Heidelberg ist doch stets etwas los. Kein Grund, sich Sorgen zu machen!

Sie legte den rechten Arm um die schlafende Juli und sah auf die Giebelhäuser vor sich in der dunklen Gasse. Hier begann das Vierte Quartier, in dem sie und Philipp wohnten. Es war das Viertel östlich des Rathauses, zu dem auch die Jakober Vorstadt jenseits der östlichen Stadtmauer sowie Schlierbach gehörten, das jenseits des Neckargemünder Tores lag. Sie musste die Gasse nur weitergehen, fast bis zum Ende an der Stadtmauer. Auf deren Wehrgang würden zwei bewaffnete Wachmänner mit Fackeln Aufsicht halten. Am Jakober Tor selbst würde eine Laterne hängen, ein Licht, auf das sie zuhielt – tagein, tagaus auf dem Heimweg. Doch irgendwie weigerten sich ihre Füße weiterzugehen, was sie an die Angst ihrer Anfangszeit in Heidelberg erinnerte. Sie hatte mit Philipp hier leben wollen und war doch nicht darauf gefasst gewesen, wie sehr die unzähligen Wege, Pforten, Steinhäuser, Ladengeschäfte und vor allem die vielen Menschen sie verunsicherten. Inzwischen hatte sie sich gewöhnt an Studenten, die in fremden Sprachen miteinander plauderten. An fremdländisch aussehende Gelehrte, an Amtleute und Wachen, und auch die Ordnung der Gassen begriff sie. Von der schnurgerade von Ost nach West verlaufenden Hauptstraße gingen einerseits zum Neckar, andererseits zum Berg hin nach Art der Fischgräten die Gassen ab. Sie kannte die Gerüche nach Sand, Wasser, Pferd und Holz am Ufergelände der Froschau, wo sie im Sommer unterhalb der Neckarschule mit ihrer Tochter gesessen und zugesehen hatte, wie an der Pferdeschwemme die Pferde getränkt und die Floße draußen auf dem Wasser flussaufwärts getreidelt wurden. Sie war vertraut mit allem, es gab keinen Grund, sich zu fürchten. Sie atmete durch und ging weiter. Philipp würde heute Abend etwas später kommen, da wegen der bevorstehenden Reise des Kurfürsten in die Oberpfalz viel zu tun war und die Kanzleiverwandten selbst auch länger blieben. Sie hatte also Zeit, Juli frisch zu wickeln und zu stillen und sich ein wenig hübsch zu machen. Ob sie die neuen Stiefel anziehen sollte? Vorfreude ließ sie schmunzeln, als sie sich vorstellte, wie sie die Stiefel überzog. Sie hatten ausgemacht, dass Philipp sie abholte. Sie würden Juli in der Obhut Wittib Ringelers, ihrer Vermieterin, lassen und zusammen mit Kilian, der zu ihrer Wohnung kommen sollte, ins „Schwert“ zum Umtrunk gehen. Kilian wohnte nicht weit von ihnen, draußen in der Jakober Vorstadt, einen Steinwurf weit weg, wenngleich durch die östliche Stadtmauer getrennt. Dabei fiel ihr ein, dass Kilian Philipp gebeten hatte, Hedwig zu sagen, sie solle doch Appel am heutigen Abend mitbringen. Die Augenbrauen hatte sie hochgezogen, Philipp hatte geschmunzelt, sie in die Arme genommen, und lachend wie ein Verschwörerpaar hatten sie den armen Kilian bedauert. Er würde es schwer haben unter all den Verehrern Appels.

Juli an ihrem Busen bewegte sich und gab einen kleinen schmatzenden Laut von sich. Hedwig hielt inne und schaute auf sie nieder. „Sind gleich daheim“, flüsterte sie.

Jemand mit einer Laterne erschien in einigen Schritt Entfernung vor ihr aus der Schneeflockennacht. Ihr Herz schlug schneller, wachsam sah sie der Gestalt entgegen, erkannte sie zuerst an der gebückten Haltung, dann an der Stimme, als sie einen Guten Abend wünschte. Es war Margret, die alte Tapeziererin, die mit ihren vier Kindern vorm Obertor wohnte. Hedwig war erleichtert. Sie blieb stehen. Nur Nachbarn aus dem Viertel, dachte sie. Kein Grund zur Besorgnis. „Wohin noch, Wittib Margret?“

Die Witwe bog den Kopf nach hinten und sah sie unter der Kapuze hervor an. Ein Brot wolle sie noch holen, vorne, beim Bäcker an der Kirche. Alsdann beklagte sie den früh einsetzenden Schneefall und was man da an Brennholz brauchen würde. Hedwig stimmte ihr zu und fragte anschließend: „Werdet Ihr übermorgen den Einzug dieses erstaunlichen Tieres anschauen, das man dem Kurfürsten zum Geschenk machte? Man sagt, es kommt mit einem Tataren, der einen Turban statt eines Baretts auf dem Kopf trägt!“

„Ich lass mir doch die Wecken nicht entgehen, die der Kurfürst deshalb verteilen lässt!“, schmunzelte Margret.

Hedwig lachte auch, rief einen Abschiedsgruß und ging weiter. Langsam, um auf dem schiefen Pflaster der Gasse nicht im feuchten Schnee auszurutschen.

Dann ging alles sehr schnell. Unversehens stürmte eine dunkle Gestalt aus der Ecke beim Handschuhsheimer Hof. Bevor Hedwig begriff, was geschah, wurde sie festgehalten, etwas Feuchtwarmes presste sich auf ihr Gesicht, sie bekam keine Luft mehr. Sie wollte schlucken, konnte es nicht, sie merkte, wie ihr das Bündel und die Stiefel aus der Hand fielen. Sie wollte Juli an sich drücken. Jemand umschlang sie, sie konnte den Arm nicht bewegen, verlor den Sinn, das Gleichgewicht und fiel in finsterste Schwärze.

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