Kitabı oku: «Abgerutscht»
Inhalt
Kapitel 1 – Hamburg Hauptbahnhof. …
Kapitel 2 – Fremde Gesichter, fremde …
Kapitel 3 – Nina kippte den …
Kapitel 4 – Jemand stolperte über …
Kapitel 5 – Lichter zuckten, Bässe …
Kapitel 6 – Als Nina erwachte, …
Kapitel 7 – „Wie findest du …
Kapitel 8 – „Hallo.“ …
Kapitel 9 – Nina wählte erneut …
Kapitel 10 – „Dein Jonas scheint …
Kapitel 11 – Ein Wagen hielt …
Kapitel 12 – Nina eilte von …
Kapitel 13 – Nina verbrachte mit …
Kapitel 14 – Nina war so …
Kapitel 15 – In der Nacht …
Kapitel 16 – „Du kannst Brigitte …
1
Hamburg Hauptbahnhof.
Nina angelte ihr Gepäck herunter, schnallte den Rucksack auf den Rücken und wollte das Abteil verlassen.
Fremde Knie waren im Weg.
„Kann ich mal vorbei?“
Der dicke Mann, der die ganze Zeit von Hannover bis Hamburg die Börsenseite studiert hatte, machte höchstens zwei Millimeter Platz. Nina musste sich an ihm vorbeiquetschen. Es gab Hautkontakt, natürlich mit Absicht.
Zum Ausgleich trat sie ihm fest auf den Fuß.
Eine halbe Minute später stand Nina draußen auf dem erleuchteten Bahnsteig. Kühle Luft schlug ihr entgegen. Sie atmete erleichtert durch.
Sie war am Ziel.
Und was jetzt?
Erst mal einen Happen essen, entschied sie. Ihr Magen knurrte. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr zu sich genommen. Sie war viel zu aufgeregt gewesen, um Hunger zu spüren.
Aber niemand hatte sie erkannt.
Nirgends war die Polizei eingestiegen, um die Zugabteile nach ihr zu durchsuchen.
Der Zugführer hatte sie auch nicht per Lautsprecherdurchsage aufgefordert, sich vorne beim Personal zu melden.
Nichts.
Dabei hatten die Eltern ihr Verschwinden inzwischen sicher bemerkt. Seit Stunden hätte sie zu Hause sein müssen, wenn sie wie an einem ganz normalen Tag zur Schule gegangen wäre.
Aber sie war nicht in der Schule gewesen.
Sie hatte bei Sonja die Klamotten gewechselt, war per Anhalter nach Darmstadt gefahren und hatte dort am Bahnhof eine Fahrkarte gekauft.
Einmal Hamburg Hauptbahnhof, einfach.
Jetzt war sie da.
Hier wollte sie untertauchen und ein neues Leben anfangen. Hier wollte sie überhaupt anfangen zu leben.
Die Vergangenheit einfach zurücklassen. Raus aus der Enge. Weg von Kontrolle und Zwang. Freiheit.
Hamburg.
Nina schaute sich um. Links und rechts von den Bahnsteigen führten Rolltreppen zu Ladenpassagen hinauf. Nina zögerte kurz und schloss sich dann dem Hauptstrom der Reisenden an. Sie entschied sich für eines der vielen Imbissrestaurants und bestellte sich an der Theke eine große Pizzastange und eine Cola. Neben dem Eingang war noch ein kleiner runder Tisch frei. Nina balancierte ihr Tablett dorthin. Verdammtes Gepäck! Es war ihr ständig im Weg. Außer dem Rucksack hatte sie noch zwei Taschen. Darin befand sich alles, was sie zum Leben brauchte. Zusammengerollt und eingeschnürt. Bloß nicht dran denken, was sie hatte zurücklassen müssen, ihren Computer, ihre CDs, den Hauptteil ihrer Klamotten.
Nina verdrängte die Erinnerung.
Hier würde sie ganz neu anfangen.
Sie biss in die Pizzastange. Sie war heiß und so scharf, dass ihr der Magen brannte, aber nach der Cola fühlte sie sich wieder munter. Nina reckte den Hals. Sie musste aufs Klo. Wo gab es hier eine Gelegenheit?
Ihr fiel ein blonder Mann auf, ungefähr Mitte zwanzig. Er kam durch die Tür und blieb kurz stehen, um sich umzusehen. Ihre Blicke trafen sich und schon steuerte er auf sie zu.
„Hast du mal zwei Euro für mich? Ich will nach Berlin, aber ich brauch noch zwei Euro, sonst reicht’s nicht für die Fahrkarte …“ Nina sah auf die Geldscheine in seiner Hand, dann auf sein Gesicht. Er war hager, die Wangen leicht eingefallen, die hellen Augen auffallend groß und glänzend.
Nina fummelte ein Zweieurostück aus ihrer Jackentasche. „Hier.“ Sie wusste, er würde nicht nach Berlin fahren. Er brauchte Geld für seinen nächsten Trip.
„Danke.“ Er wollte gehen.
Nina hielt ihn zurück. „Warte. Hast du ’ne Ahnung, wo man pennen kann? Wenigstens diese Nacht?“
Er stellte keine Fragen. Ob man es ihr ansah, dass sie von zu Hause abgehauen war?
„Ich frag mal Hughi“, versprach er. „Vielleicht weiß der was. Ich bin gleich wieder da.“
Nina sah ihm nach, wie er das Restaurant verließ. Na, ob der tatsächlich wiederkam, war fraglich. Wahrscheinlich konnte sie sich die Sache abschminken.
Sie aß ihre Stange auf und zog dann mit ihrem ganzen Gepäck auf die Damentoilette.
Verdammt, sie hatte ihre Periode bekommen, zu früh. Auch das noch. Als wäre nicht schon so alles kompliziert genug. Sie wühlte im Seitenfach ihres Rucksacks. Hatte sie dort nicht noch schnell einen Tampon hineingestopft, für alle Fälle?
Sie fand ihn. Nachdem Nina die Kabine verlassen hatte, verbrachte sie einige Minuten vor dem Spiegel. Sie musterte sich intensiv.
Große braune Augen, dunkelblondes langes Haar, das ihr locker über die Schultern fiel. Ein schmales Gesicht, eine kleine Nase, ein geschwungener Mund mit vollen Lippen, dahinter makellose Zähne.
Mit ihrem Aussehen hatte sie nie Probleme gehabt. Sie brauchte dringend einen guten Friseur. Das würde hier in Hamburg sicher nicht schwer sein. Nina hatte alles Geld von ihrem Konto abgehoben. Zusammen mit dem Geburtstagsgeld von ihrer Oma waren es fast fünfhundert Euro. So viel hatte sie noch nie auf einmal in der Tasche gehabt. Ein Teil davon war allerdings schon für die Fahrkarte draufgegangen. Aber fürs Erste würde sie damit über die Runden kommen.
Nina warf die Haare zurück und lächelte ihrem Spiegelbild zu.
Ich hab’s geschafft, Leute, ich bin abgehauen. Ich werd auch den Rest schaffen. Bald hab ich eine tolle Wohnung und einen Superjob. Ab jetzt fang ich richtig an zu leben.
Sie zog ihre Lippen nach, sammelte ihr Gepäck zusammen und verließ die Toilette. Gerade rechtzeitig, um den blonden Typen noch zu sehen, der eben mit einem zweiten Mann das Lokal verließ.
Also war er tatsächlich zurückgekommen!
Sie rannte ihm nach und fing ihn vor der Rolltreppe ab.
„Hey, wart mal, Mann!“
„Ach, da bist du ja“, meinte der Blonde. Er deutete auf seinen Begleiter. „Hughi kennt eine Adresse.“
Hughi nannte eine Straße und Hausnummer. „Frag nach Klaus oder Eileen.“ Während er ihr noch umständlich erklärte, wie sie am besten hinkäme, zupfte der Blonde ihn am Ärmel. „Achtung, dort drüben sind Bullen.“
Im Nu tauchten die beiden im Gewimmel unter.
Nina nahm ihr Gepäck wieder auf. Sie war auch nicht sonderlich erpicht darauf, den Polizisten in die Arme zu laufen. Ob ihr Suchbild und ihre Personenbeschreibung schon überall durchgegeben worden waren?
Verdammtes Herzklopfen!
So harmlos wie möglich schlenderte sie weiter. Ein junges Mädchen auf Reisen, weiter nichts.
Die Polizisten nahmen keine Notiz von Nina Reinhardt.
2
Fremde Gesichter, fremde Namen.
Jungfernstieg, Gänsemarkt, Messehallen …
Bei der nächsten Station musste Nina umsteigen. Das Gepäck war allmählich lästig, Schultern und Arme schmerzten vom Tragen. Zum Glück kam die U-Bahn, ohne dass sie lange warten musste. Noch ein paar Stationen, dann war sie dort.
Was für eine Unterkunft das wohl sein würde?
Ein leer stehendes Haus, besetzt von jungen Leuten? Vielleicht waren Strom und Wasser abgestellt?
Sei’s drum, dachte Nina. Eine Nacht ohne Dusche würde sie nicht umbringen. Sie hätte sich nach der langen Reise zwar ganz gerne frisch gemacht, aber es würde auch so gehen.
Sie tastete nach dem kleinen Lederbeutel, den sie zwischen ihren Brüsten trug. In dem Beutel war der Großteil ihres Geldes. Wenn jemand versuchte, sie zu beklauen, würde sie es merken.
An der Haltestelle, die Hughi ihr genannt hatte, stieg sie aus und verließ die Station. Jetzt nach rechts oder nach links? Sie konnte sich nicht mehr erinnern.
Aufs Geratewohl ging sie nach links. Nach zwei Querstraßen stieß sie auf die gesuchte Straße. Sie gratulierte sich zu ihrem Orientierungsvermögen. Auch die Hausnummer war schnell gefunden. Sie gehörte zu einem alten Haus, hoch und düster. Die Wände waren mit Graffiti besprüht. Es gab weder ein Türschild noch eine Klingel, nur ein paar schwarze Drähte hingen aus der Wand. Die Haustür war nicht abgeschlossen und gab beim Drücken nach.
Sie betrat einen dunklen Flur. Es roch modrig. Nina erinnerte sich an ihr helles, sonniges Zimmer und verdrängte schnell das Bild. Wenn es zu schlimm war, konnte sie noch immer in ein Hotel gehen.
Das Erdgeschoss war ganz offensichtlich unbewohnt. Die Holzstufen knarrten, als Nina nach oben stieg. Das Treppenhaus war eng und ständig streifte sie mit ihrem Gepäck das Geländer oder die Wand.
Im ersten Stock gab es ein Namensschild: „E. Tender und K. Fink“.
E. und K.? Eileen und Klaus?
Nina drückte auf den Klingelknopf. Sie hörte, wie es drinnen läutete.
Nichts rührte sich.
Ausgeflogen, dachte Nina. Sie klingelte noch einmal. Davon wäre auch ein Toter wach geworden.
Nichts.
Nina hockte sich auf die oberste Treppenstufe.
Fehlanzeige. Was jetzt?
Sie könnte durch ein zerbrochenes Fenster ins Erdgeschoss steigen und dort die Nacht verbringen. Es widerstrebte ihr. Andere konnten da auch reinklettern und ihr die Kehle durchschneiden.
Bekam sie jetzt etwa Muffensausen?
Nina ärgerte sich über sich selbst. Sie holte einen Kaugummi aus dem Rucksack und schob ihn in den Mund.
Ansehen kostete ja nichts. Vielleicht ließ sich ein Zimmer absperren oder sonst wie verbarrikadieren.
Sie schulterte ihren Rucksack, griff nach ihren Taschen und stieg die Treppe wieder hinunter.
Dann ging sie um das Haus herum.
Die Fenster lagen hoch. Mit den Fingern konnte Nina das Sims gerade erreichen. Schade, dass sie sich so oft vor dem Sportunterricht gedrückt hatte. Jetzt ein Klimmzug und sich dann einfach nach oben hangeln …
Nina sah sich um. Im Innenhof standen lauter kaputte Autos, eingedrückt und verbeult. Eine regelrechte Schrottparade.
Weiter hinten entdeckte Nina eine Mülltonne. Wenn sie die herbeischaffte und unter ein Fenster rollte, dann konnte sie einsteigen …
Eine der Rollen war kaputt, und die Tonne machte einen Heidenlärm, als Nina sie durch den Hof und zum Haus schob. Dann zog sie sich darauf hoch, stand auf dem Sims und langte durch die zerbrochene Scheibe zum Griff, um das Fenster ganz zu öffnen. Es ging nicht. Entweder war der Mechanismus kaputt oder das Fenster klemmte. Nina versuchte es einige Minuten lang, dann gab sie auf. Welcher Einbrecher stellte sich so dämlich an?
Kurz entschlossen wickelte sie ihre Jacke um die Hand und stieß die Scheibe ganz ein. Klirrend fielen die Scherben auf den Boden und Nina konnte durch das Fenster kriechen.
Sie sprang ins Zimmer und ging durch die Wohnung, die anscheinend schon seit längerer Zeit leer stand. Es waren große Räume mit hoher Decke. Ein ehemals weiß gekacheltes Bad, in dem die Wanne fehlte, und ein unappetitliches Klo. Nina zog probeweise an der Spülung. Irgendwo über ihr gurgelte es in den Rohren, aber es kam kein Wasser. Abgestellt also. Strom gab es in diesem Loch wahrscheinlich auch nicht.
In einem Raum entdeckte Nina eine vergilbte Zeitung, die vom April stammte. Die Seiten waren angefressen.
Mäuse? Oder sogar Ratten?
Waren da nicht überall an den Fußleisten Spuren? Es überlief Nina kalt. Sie ließ alle Übernachtungspläne fallen.
Nein, danke.
Lieber würde sie im Freien auf einer Parkbank schlafen.
Sie kletterte wieder durchs Fenster. Im Hof stand noch ihr Gepäck.
Nina lud sich den Rucksack auf, packte die Taschen und wollte gehen.
In diesem Augenblick bog ein Wagen in den Hof. Er unterschied sich von den anderen Schrottkarren nur dadurch, dass er ein Nummernschild hatte und offenbar fahrtüchtig war.
Der Fahrer trat auf die Bremse, als er Nina sah.
„He“, rief er durchs offene Fenster, „suchst du jemanden?“
Nina schätzte den Mann auf Mitte zwanzig und zwei Zentner.
„Ja, ich will zu Klaus oder Eileen.“
„Ich bin Klaus. Brauchst du vielleicht ein Auto?“
Nina fing an zu lachen. „So ’ne Schrottkarre will ich bestimmt nicht!“
„Die sind alle völlig in Ordnung“, erklärte Klaus. „Ich weiß, optisch sind sie nicht gerade erste Klasse, aber daran arbeite ich noch.“
„Ich suche kein Auto, ich brauch einen Platz zum Pennen für heute Nacht. Am Bahnhof hab ich Hughi getroffen, der hat mir die Adresse gesagt.“
„Ist der auch mal wieder in der Gegend?“
Nina hob die Schultern. „Ich kenn ihn nicht weiter.“
Klaus gab Gas und fuhr mit quietschenden Reifen in eine Parklücke. Dann stieg er aus, ging um den Wagen herum und stieß mit dem Fuß gegen die Radkappen.
Nina wurde ungeduldig.
„Was ist jetzt? Kann ich heute bei euch schlafen oder nicht?“
Klaus grinste. „Eileen hat bestimmt was dagegen, wenn ich dich mit ins Bett nehme, Süße.“
„Idiot“, fauchte Nina. „In dein Bett will ich bestimmt nicht, danke für die Einladung. Lieber schlaf ich auf dem Fußboden oder sonst wo.“
„War doch bloß ein Scherz. Brauchst nicht gleich so biestig zu werden.“ Klaus kam näher.
Nina musterte ihn abschätzend von oben bis unten. „Ich glaub, ich verzichte besser ganz.“ Damit griff sie wieder nach ihren Taschen.
„Warte doch“, lenkte Klaus ein. „Klar kannst du bei uns schlafen. Die Wohnung ist groß genug. Bernd ist in Australien und Uwes Zimmer ist sowieso noch nicht wieder vermietet.“
Nina wurde hellhörig. „Ihr habt ein freies Zimmer?“
„Na ja, eigentlich hab ich’s schon halb einer Freundin versprochen … Aber die zieht frühestens im Oktober ein.“
Nina überlegte. Das Problem, wo sie die erste Zeit wohnen sollte, wäre wunderbar gelöst. Oder vielleicht auch weniger wunderbar? Sie war misstrauisch. Bildete sich dieser Kerl etwa ein, dass sie leicht zu haben war? Es war bestimmt anstrengend, wenn sie sich den Fettsack dauernd vom Hals halten musste.
Besser, von Anfang an die Grenzen zeigen.
„Bei mir läuft nichts“, erklärte Nina. „Ich brauch ’ne Unterkunft und weiter nichts.“
„Okay, kapiert, kapiert. Willst du dir das Zimmer nicht wenigstens mal anschauen?“
„Doch, na klar.“
Nina folgte ihm in den ersten Stock, wieder mit dem ganzen Gepäck. Sie fragte sich, wann ihr wohl die Arme abfallen würden.
Klaus sperrte die Wohnungstür auf. Nina betrat einen schmalen Flur, der noch enger wurde durch eine wuchtige Holzkommode.
„Zweite Tür links“, kommandierte Klaus.
Nina öffnete die Tür. Das Zimmer war nur halb so groß wie ihres zu Hause. Eine Liege mit einer schreiend bunten Matratze. Ein hoher, potthässlicher Schrank. Ein alter Küchentisch und ein passender Stuhl. Das war die gesamte Einrichtung.
„Urgemütlich“, sagte Nina.
„Uwe war anspruchslos.“
Nina fiel die Entscheidung schwer. Für eine Nacht würde es gehen, sicher. Aber länger?
„Ich überleg’s mir.“
„Bitte.“ Klaus öffnete die nächste Tür. „Hier ist das Bad, falls es dich interessiert.“
Nina warf einen Blick hinein. Grüne Kacheln, grüne Wanne, grünes Klo. In der Badewanne war ein Wäscheständer aufgestellt. Auf ihm trockneten fünf bunt gemusterte Boxershorts. Nina grinste.
„Sind das deine Unterhosen?“
„Was dagegen?“ Er wurde rot.
„Jeder trägt, was er mag.“
Klaus schlug ihr die Tür vor der Nase zu.
„Ende der Besichtigung?“, fragte Nina.
„Die Küche ist dort.“ Er wies mit dem Daumen zu einer anderen Tür. „Oberstes Fach im Kühlschrank ist deines. Kochen und Abwasch macht jeder für sich.“
„Und wie viel kostet der Spaß?“
„Hundertachtzig.“
„Für dieses Loch?“, empörte sich Nina.
„Warm. Das ist billig für Hamburg.“
Nina zögerte. Sie schaute zu den anderen Türen. Die Wohnung hier war größer als die im Erdgeschoss. Vielleicht hatte man aus zwei Wohnungen eine gemacht.
„Ist das hier eine WG oder was?“
Klaus grinste. „Im Moment besteht die WG aus Eileen und mir. Bernd kommt erst nach Weihnachten aus Australien zurück.“
„Gibt es hier Mäuse?“
„Wie kommst du denn darauf?“
Nina zuckte die Schultern. „Ich schau mir das Zimmer noch mal an.“
Beim zweiten Mal war der Eindruck nicht ganz so schlimm. Verschiedene Sachen ließen sich leicht ändern. Nina nagte an ihrer Unterlippe. Wenn sie den Schrank neben die Tür rückte, fiel er viel weniger ins Auge. Die grellbunte Matratze würde unter der Bettwäsche verschwinden. Und ein neuer Anstrich würde dem ganzen Zimmer guttun.
Nina trat wieder auf den Flur. „Okay.“
„Und was heißt das?“, fragte Klaus nach.
„Das heißt, dass ich bleibe.“
Klaus grinste. „Ich hab doch gewusst, dass du einen guten Geschmack hast.“
3
Nina kippte den Inhalt des Lederbeutels auf die Matratze. Dann schüttete sie die Münzen ihrer Geldbörse dazu und zählte.
Sie hatte nur noch knapp hundert Euro!
Dabei hatte sie gar nicht viel gekauft. Spannlaken, Bettbezug, eine Decke zum Schlafen, Farbe fürs Zimmer, ein paar Lebensmittel und einige Artikel zur Körperpflege. Gestern Abend hatte sie Klaus noch die Miete für einen Monat im Voraus bezahlt.
Hätte sie sich bloß den Friseurbesuch verkniffen! Aber sie hatte nicht widerstehen können. Und mit dem Ergebnis war sie sehr zufrieden.
Ihre Haare kräuselten und lockten sich, es war eine Pracht. Genau, wie sie es sich gewünscht hatte. Sie erkannte sich im Spiegel kaum wieder. Das hätte der Friseur zu Hause nie geschafft.
Nein, die Ausgabe hatte sich gelohnt, selbst wenn in ihrer Kasse nun schon fast Ebbe war.
Sie musste sich eben so bald wie möglich einen Job suchen.
Aber zuerst wollte sie das Zimmer renovieren, selbst wenn sie nur kurze Zeit hier wohnen sollte. Sie mochte keine provisorischen Lösungen. So ein lausiges Loch drückte aufs Gemüt und das konnte sie nicht gebrauchen. Wenn schon, dann wollte sie sich wohlfühlen.
Sie ging in die Küche, um sich Tee zu kochen. Weil sie noch kein eigenes Geschirr hatte, benutzte sie einen Kochtopf und eine Tasse, die auf der Anrichte herumstanden. Die Küche war groß und hätte ganz gemütlich sein können, wären da nicht die dunkelgrünen Schränke und Kästen gewesen. Die waren so wuchtig, dass man sich fast von ihnen erschlagen fühlte.
Nina hockte sich an den Küchentisch, trank ihren Tee und aß ein paar Kekse, die sie am Vormittag gekauft hatte.
Im Nebenzimmer rührte sich etwas. Nina stutzte. Sie hatte geglaubt, dass sie allein in der Wohnung sei. Wenig später kam Eileen in die Küche. Sie trug einen Schlafanzug, darüber einen Kimono.
„Hallo! Wie nett, dass ich heute nicht allein frühstücken muss.“ Sie gähnte und fing an, am Herd zu hantieren.
Eileen war ungefähr Ende zwanzig. Nina hatte sie am Abend zuvor kurz kennengelernt und sie gefiel ihr sofort. Eileen war klein und zierlich, hatte schwarzes Haar, dunkle Augen und einen getönten Teint. Nina fand, dass sie irgendwie exotisch aussah.
„Ich hab einfach irgendeine Tasse genommen“, sagte Nina. „Hoffentlich stört’s dich nicht. Im Topf ist noch Malventee.“
„Ich brauch jetzt erst einen richtigen Kaffee“, antwortete Eileen, musste wieder gähnen und lachte. „Sonst werde ich heute überhaupt nicht mehr wach.“ Sie deutete auf die Wanduhr. „Es ist ja schon gleich eins. Aber heute Nacht ist es wieder mal verdammt spät geworden. Die letzten Gäste wollten einfach nicht gehen.“
Nina erfuhr, dass Eileen als Bedienung in der Alsterjungfer arbeitete.
„Und du?“, fragte Eileen. „Hast du gut geschlafen?“
„Es geht“, wich Nina aus.
Sie hatte fast die ganze Nacht kein Auge zugetan, so schlimm waren ihre Periodenschmerzen gewesen. Außerdem war ihr alles Mögliche durch den Kopf gegangen, lauter düstere Gedanken. Hatten ihre Eltern inzwischen die Polizei benachrichtigt? Würde man die Suche bis nach Norddeutschland ausdehnen? Und was, wenn man sie finden würde? Wie sollte bloß alles weitergehen?
Nina war froh gewesen, als es endlich hell geworden war und sie aufstehen konnte.
„Ich hab mir Farbe gekauft“, erzählte sie nun. „Ich will mein Zimmer streichen.“
„Und beim Friseur bist du auch gewesen“, stellte Eileen fest. „Die Locken hast du gestern noch nicht gehabt. Du siehst toll damit aus, wirklich!“
„Danke.“ Die Bestätigung tat ihr gut.
Unwillkürlich wanderten Ninas Gedanken zu Steffen zurück.
Dieses Schwein!
Während sie mit ihren Eltern im Urlaub gewesen war – natürlich Mallorca, wie jedes Jahr! –, hatte er mit Daniela geschlafen. Nicht nur einmal, sondern öfter. Und hinterher hatte er sich eingebildet, mit Nina und ihm sei alles okay.
Nie wieder würde sie auf so einen Typen reinfallen, das hatte sie sich geschworen.
„Was nicht in Ordnung?“, fragte Eileen, der Ninas finstere Miene nicht entgangen war.
Nina zwang sich zu einem Lächeln. „Doch, alles okay. Habt ihr alte Zeitungen? Ich brauch was zum Abdecken, wenn ich streiche. Ich hab zwar feste Farbe gekauft, aber das tropft manchmal trotzdem.“
Sie bekam von Eileen nicht nur einen Stoß Zeitungen, sondern auch noch Lappen, Putzmittel und einen Eimer.
„Hast du das schon mal gemacht?“, fragte Eileen.
„Ich hab mal einer Freundin geholfen“, antwortete Nina und versuchte mühsam, den Deckel vom Farbbehälter abzuziehen.
„Du bist zu Hause abgehauen, wie?“
Es traf Nina wie ein Schlag, als Eileen ihr das auf den Kopf zusagte. Sie wurde blass.
„Wie kommst du denn auf die Idee?“
„Weil ich mit sechzehn selbst abgehauen bin, darum.“
Nina strich sich die Haare aus der Stirn. Jetzt störte sie das ungewohnte Gekräusel. War ja auch hirnrissig! Sie hätte erst nach dem Streichen zum Friseur gehen sollen. Aber alles genau zu planen, war eben nicht ihre Art.
„Na gut“, sagte sie ruppig. „Schön, ich bin abgehauen. Macht’s dir was aus? Die Miete hab ich schon für einen Monat bezahlt, also bleibe ich auch.“
Eileen legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. „Ich hab’s nicht so gemeint, wirklich. Ich bin damals von zu Hause fort, weil ich schwanger war.“
Nina beruhigte sich. „Schwanger bin ich nicht.“ Das hätte gerade noch gefehlt! Ein Kind von Steffen!
„Ich hatte eine Fehlgeburt im siebten Monat“, erzählte Eileen weiter. „Kurz darauf hab ich mich auch mit meinem Freund zerstritten und es ging auseinander. Damals kam ich mir vor wie der einsamste Mensch auf der Welt. Das Schrecklichste war, dass ich niemanden hatte, mit dem ich über all die Sachen sprechen konnte. Manchmal frage ich mich, ob es anders gekommen wäre, wenn das Baby gelebt hätte.“ Eileen zuckte mit den Schultern.
„Das war bestimmt schlimm für dich“, sagte Nina mitfühlend.
„Na ja, ich hab mich irgendwie über Wasser gehalten. Ich hab dann auch bald wieder einen Freund gehabt, das heißt, eigentlich waren es mehrere. Es ging immer nur ein paar Monate lang. Dann hab ich mich wieder total verliebt …“ Über Eileens Gesicht huschte ein Schatten. „Das war die nächste Katastrophe.“
„Warum?“
„Ach, das erzähl ich dir lieber ein andermal. Jetzt hab ich schon genug geredet und du willst ja anfangen.“ Eileen deutete auf die Wand, von der Nina schon den Tisch weggerückt hatte.
„Aber es interessiert mich wirklich“, betonte Nina.
„Na gut. Also, der Mann, in den ich mich verliebt hatte, war ein Künstler. Ich bewunderte ihn. Wir haben geheiratet. Er war drogenabhängig, aber ich war überzeugt, dass er es schaffen würde, von dem Zeug wegzukommen. Mit meiner Hilfe. Es hat nicht geklappt. Irgendwann hab ich ihn dann verlassen. Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten. Das ständige Auf und Ab war die Hölle.“
„Und dann?“
„Nach der Scheidung hab ich eine Weile allein gelebt. Klar hatte ich Männerbekanntschaften, aber nichts Festes. Dann traf ich Klaus. Wir haben uns auf einer Silvesterparty kennengelernt. Vor fast drei Jahren. Ich war mal wieder ziemlich unten, es ging mir gesundheitlich auch nicht besonders gut. Na ja, und dann kam Klaus. Es war nicht gerade Liebe auf den ersten Blick, jedenfalls was mich betrifft. Aber Klaus war ganz anders als die Männer, die ich vor ihm gekannt habe.“ Eileen verstummte. Sie blieb in der Tür stehen, während Nina den Boden mit Zeitungen abdeckte. Nina hatte das Gefühl, dass sie nun auch von sich erzählen sollte.
Es fiel Nina schwer, über alles zu reden. Die Wut und der Groll auf ihre Eltern stiegen wieder in ihr hoch.
„Zu Hause halt ich’s nicht mehr aus“, gestand sie. „Diese Lügen. Das dauernde Geheuchel. Wir leben in einem kleinen Kaff, da kennt jeder jeden. Und es ist unheimlich wichtig, was die anderen Leute denken. Das nervt vielleicht!“
Zornig tauchte sie die Rolle ein und klatschte die Farbe an die Wand. „Ich hab die Nase voll gehabt. Es waren tausend Kleinigkeiten. Ich will nicht so werden wie meine Eltern. Ich will nicht so leben wie sie. Beide sind Lehrer, Papa am Gymnasium und Mama an der Hauptschule. Sie bilden sich immer ein, Vorbild sein zu müssen. Zum Kotzen! Das ganze Getue ekelt mich an, ehrlich.“
„Was denn besonders?“
„Ach … na ja, eigentlich alles. Zum Beispiel glauben meine Eltern nicht an Gott. Den brauchen sie auch gar nicht, sie haben ja alles selber fest im Griff. In die Kirche gehen sie normalerweise auch nicht. Aber in diesem Jahr war Frommsein angesagt. Mein Bruder ist nämlich zur Erstkommunion gegangen. Weil es sich eben so gehört. Florian ist neun. Es war schrecklich. Ein Riesenfest, die ganze Verwandtschaft war da, alle fein gemacht, meine Mutter im neuen Kleid … Ich wär schon damals am liebsten auf und davon.“
„Hm. Verstehe. Kann ich nachfühlen.“
„Es gab zuletzt nur noch Zoff mit meinen Eltern. Sie haben mich total genervt. Meine Freunde haben ihnen nicht gepasst. Nichts war ihnen recht. Tu dies nicht! Lass das! Hör auf damit, was sollen denn die Leute denken? So ’ne Scheiße musste ich mir jeden Tag anhören.“
„Und bevor du von dem ganzen Mist taub wirst, bist du lieber abgehauen?“
Nina schluckte heftig. „Na ja, da war noch was. Mein Freund hat mich nämlich auch noch angelogen. Er war mit einem anderen Mädchen im Bett. Als ich’s rausgekriegt habe, war Schluss. Ich musste einfach fort.“
Es kostete Kraft, die Farbe gleichmäßig mit der Rolle aufzutragen, aber Nina empfand die körperliche Anstrengung fast als Erleichterung.
Eileen trat einen Schritt ins Zimmer. „Die Wand wird gut aussehen“, stellte sie fest. „Die Farbe ist toll.“
„War auch ziemlich teuer.“ Nina geriet langsam ins Schwitzen.
„Für die Decke brauchst du aber eine Leiter.“
„Ich steige auf den Tisch. Der ist stabil genug, so schwer bin ich nicht.“
„Gut. Sonst hätt ich dir eine Stehleiter aus dem Keller geholt. Dort unten muss eine rumliegen.“
„Danke, nicht nötig. Das geht auch so.“
Eileen sah Nina noch eine Weile beim Streichen zu. „Da kriege ich richtig Lust, auch mitzumachen.“
Nina grinste sie an. „Ich hab aber nur eine Rolle gekauft.“
„War bloß Spaß“, entgegnete Eileen. „Ich zieh mich jetzt besser an. Dann will ich einkaufen gehen. Brauchst du was?“
„Nein, ich hab vorhin schon alles erledigt. Ist aber lieb von dir.“
Nina hatte das Gefühl, dass sie in Eileen eine gute Freundin gefunden hatte. Eine Freundin konnte sie auch brauchen. Es hatte gutgetan, über alles zu reden. Der innere Druck war doch größer, als sie gedacht hatte.
Nina strich bis in die Nacht hinein. Obwohl das Zimmer so klein war, machte es eine Menge Arbeit. Es kostete viel Zeit, die Möbel zu verrücken. An manchen Stellen deckte die Farbe nicht richtig und sie musste nachstreichen.
Eine halbe Stunde vor Mitternacht war sie endlich fertig. Das Zimmer sah viel besser aus als vorher, aber Nina fühlte sich wie erschlagen. Sie hatte Kopfschmerzen vom Farbgeruch. Überall an Händen und Kleidung waren winzig kleine Farbspritzer. Auch das Haar war verklebt. Obwohl es schon so spät war, nahm Nina noch ein heißes Bad. Vorher musste sie den Wäscheständer, diesmal mit lauter Männersocken, entfernen. Ihre eigenen Klamotten weichte sie in kaltem Wasser ein. Hoffentlich gingen die Farbspritzer raus. Die Jeans waren noch so gut wie neu, sie konnte sich momentan unmöglich andere kaufen.
Nina träumte vor sich hin. Sie stellte sich vor, wie es wäre, reich zu sein und eine große, toll eingerichtete Wohnung zu haben. Natürlich mit einem breiten französischen Bett. Edle Bettbezüge aus echter Seide. Jemand würde ihr ein Tablett mit appetitlichen Häppchen ans Bett servieren. Dazu vielleicht Champagner … Und als Krönung des Ganzen gab es noch einen gut aussehenden Lover, der ihr zu Füßen lag und ihr jeden Wunsch von den Augen ablas.