Kitabı oku: «Der Blick in den See»
Der Blick
in den See
Reflexion in Theorie und Praxis
2. überarbeitete Auflage
Mart Rutkowski
Dieser Titel ist auch als Printausgabe erhältlich
ISBN 978-3-944 708-24-9
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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ISBN 978-3-944 708-25-6 (eBook)
Verlag: | ZIEL – Zentrum für interdisziplinäres erfahrungsorientiertes Lernen GmbH Zeuggasse 7– 9, 86150 Augsburg, www.ziel-verlag.de 2. überarbeitete Auflage 2015 |
Grafik und | Stefanie Huber |
Layoutgestaltung: | Zeuggasse 7, 86150 Augsburg |
Gesamtherstellung: | Friends Media Group GmbH www.friends-media-group.de |
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
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Inhaltsverzeichnis
Der Blick in den See – eine
Einstimmung Gebrauchsanweisung für dieses Buch
1. | Ansichten, Grundlagen und Überlegungen für die Erlebnispädagogik | |
1.1 | Eine neue Definition von Erlebnispädagogik | |
1.2 | Aus dem Erlebnis lernen – Ein Ausflug in die Neurophysiologie | |
1.3 | Modell erlebnispädagogischer Prozessplanung | |
2. | Theoretische Aspekte von Reflexion | |
2.1 | Die Berge sprechen lassen, heißt schweigen – Warum „the mountains speak for themselves“ kein passives Modell ist | |
2.2 | Outward Bound Plus – Darstellung eines Modells und seiner Kritik | |
2.3 | Aktion und Reflexion – Thesen zum Reflexionsbegriff | |
2.4 | Eine Reflexion über Reflexion – Nachdenken über einen Begriff | |
2.5 | Problem Methode – Praktische Parameter zur Auswahl von Reflexionsmethoden | |
2.6 | Praeflexion – Über Sensibilisierung im Vorfeld | |
2.7 | Riten und Rituale als Raum der Reflexion | |
2.8 | Die Frage nach dem Schatten – Wie wir der Oberflächlichkeit entrinnen | |
2.9 | Metaphorisches Arbeiten und was es für die Reflexion bedeutet | |
2.10 | Die Kunst der Frage – Systemische Überlegungen | |
2.11 | Das Sähen der Saat – Tipps zu Gruppenphasen, Gestaltung und Atmosphäre im Reflexionsprozess | |
2.12 | Spezialfall „coole Jugendliche“ – Sprachliche Hinweise | |
3. | Praxisteil Reflexionsmethoden | |
3.1 | Reflektieren aus dem Handgelenk oder „Wie kreiere ich blitzartig eine Methode?“ | |
3.2 | Die Assoziationstechnik oder „Wie finde ich eine Frage?“ | |
3.3 | Gestaltung der Methodensammlung | |
3.4 | Kurz und bündig zum Warmwerden | |
Von Eier- und Sanduhren | ||
Von Streichholz und Wunderkerze | ||
Ein Wort – Ein Satz | ||
Die Keksrolle | ||
Telegramm/SMS schreiben | ||
Gedankliche Momentaufnahme | ||
Gesehen, gehört … | ||
Reflektieren mit Gegenständen | ||
Skalierungen | ||
Gefühlskärtchen | ||
Wetter-Stimmungsbarometer | ||
Smilies | ||
Flaschendrehen | ||
3.5 | Struktur gebend und vielfältig | |
Der Reflexionswürfel | ||
Die Reflexionskamera | ||
Der Reflexionsblumentopf | ||
5-Finger-Reflexion | ||
TZI-Reflexion | ||
4-Seiten-einer-Botschaft-Reflexion | ||
Positionieren zu Aussagen | ||
Schatten und Licht | ||
Kuchen-Reflexion | ||
Die Reflexionsschleife | ||
Oware-Reflexion | ||
3.6 | Weit offen und anspruchsvoll | |
Die offene Runde | ||
Das Johari-Fenster | ||
Der Sprechstab/Talking-Stick | ||
Funneling-Methode | ||
Handy-Reflexion | ||
Zeitstrahl | ||
Papierschiff und Meereskarte | ||
Aufstellen nach Rollen | ||
Fishbowl-Gespräch über die Gruppe | ||
Der Rabe gibt Feedback | ||
3.7 | Wenig Worte, viel Effekt | |
Schreibgespräch | ||
Stundensolo | ||
Naturkunstwerk bauen | ||
Symbol in der Natur finden | ||
Landkarte malen | ||
Das Innere malen | ||
Mandala malen | ||
Ein Haiku schreiben | ||
Rücken an Rücken | ||
Memorykarten | ||
Knet-/Tonfiguren | ||
3.8 | Über sich sprechen | |
Der Mann, der …/die Frau, die … | ||
Von Fahrradteilen | ||
Labyrinth | ||
Die Tasse T | ||
Labeling-Technik | ||
Zweiergespräch | ||
Die Hühnerhof-Methode | ||
Kalenderbilder | ||
4. | Und das war erst der Anfang … | |
4.1 | Hilfskärtchen | |
4.2 | Reflexion … Was bleibt noch übrig …? |
Den See hinter sich lassen …
Über den Autor
Verwendete Literatur – Was in dieses Buch so einfloss …
Der Blick in den See – eine Einstimmung
Es ist früh am Morgen. Langsam gehe ich hinunter zum Wasser. Es ist ganz still. Ich setze mich auf den großen Stein am Ufer und schaue um mich.
Ein Wasservogel gleitet über der Oberfläche des Sees durch die Luft, nur um bald fast lautlos zu landen. Kalte Luft. Weiche Morgendämmerung. Ich denke an nichts bestimmtes und doch ist es, als würde vieles in mir sich ordnen und klären, jetzt in diesem kleinen Raum der Zeitlosigkeit, hier am spiegelglatten Wasser. Wie wird der heutige Tag wohl werden? Was wird geschehen?
Nachsinnen über das, was ich heute tun werde. Und: Ist es das, was ich wirklich tun will? Bin ich meiner Vision gefolgt oder schon längst von meinem Weg abgekommen? Ich schaue in die Weite zu den Bäumen, welche noch dunkel am Horizont stehen und schweigen. Ich bin hier. Das ist immer Teil meiner Vision gewesen. Ob ich das, was ich hier tue, auch gut mache?
Gut genug? Ich senke den Blick und er fällt auf die spiegelglatte Oberfläche des Wassers. Ich schaue genauer hin und sehe im Spiegel des Wassers mein Gesicht. Ob ich wohl erfahre, was jenseits davon ist, wenn ich tiefer blicke?
Gebrauchsanweisung für dieses Buch
Dieses Buch versucht Antworten auf all die vielen Fragen zu geben, die man uns in den letzten Jahren zum Thema Reflexion gestellt hat. Oftmals waren die Fragestellenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer1 unserer erlebnispädagogischen Weiterbildung. Sie wollten alles mögliche wissen:
„Wie bist Du in der Reflexion auf die Frage gekommen?“, „Woher weißt Du, welche Reflexionsmethode Du wann einsetzt?“, „Warum hast Du Dich an der Stelle gegen eine Reflexion entschieden?“, „Wann findest Du, sollte man eine Methode wie den Sprechstab besser nicht einsetzen?“ „Woher weiß ich, was ich in der Reflexion eigentlich will?“
Immer wieder kämpfen und ringen Erlebnispädagogen mit der Reflexion – Anfänger wie Profis. Und für Menschen am Anfang der erlebnispädagogischen Arbeit wie für alte Hasen ist dieses Buch geschrieben.
Im ersten Teil des Buches werde ich einige grundlegende Überlegungen zur Erlebnispädagogik anstellen: Ich werde Definitionen von Erlebnispädagogik betrachten, eine weitere Definition dazu stellen, Erkenntnisse über erfahrungsorientiertes Lernen zusammenfassen und über prozessorientiertes Arbeiten sprechen.
Diese Grundlagen sind maßgebliche erste Schritte, um dem eigentlichen Gegenstand dieses Buches näher zu kommen: der Reflexion.
Was ist Reflexion überhaupt? Woher weiß ich, – oder glaube zu wissen – welche Methode sich eignet? Welche Parameter ermöglichen mir unmittelbar vor der Reflexion zu entscheiden, welche Methode ich verwende?
Welche Fragen sind wichtig? Welche Fragen führen zu nichts? Und wie funktioniert die Verzahnung der Reflexion mit dem Frontloading und der Rahmengestaltung? Der zweite Teil dieses Buches versucht Grundlagen der Reflexion zu erforschen – denn die beste Methode nützt nichts, wenn sie nicht zur Situation passt. Dabei werde ich viele anschauliche Beispiele aus unserer erlebnispädagogischen Praxis einfließen lassen.
Im dritten Teil des Buches, einem ausführlichen Praxisteil, stelle ich meine persönlichen Lieblingsmethoden vor und erläutere detailliert, wie, wann und warum ich sie einsetze – und welche Tücken und Fallen jede Methode hat.
Ich will dabei ins Detail gehen und auch Altbekanntes neu betrachten.
Auch wenn es viele grundlegende Fragen diskutiert, versteht sich dieses Buch als Praxisbuch. Als solches ist es sicher mehr Erfahrungsbericht als wissenschaftliche Untersuchung, mehr Impulsgeber als Nachschlagwerk.
Es wird keine universellen Wahrheiten vermitteln – aber mit etwas Glück zu spannenden fachlichen Diskussionen anregen.
Hier ein paar Worte dazu, wie dieses Buch zu lesen ist.
Der Aufbau des Buches versucht eine Gedankenentwicklung von vorne nach hinten – von den Theoriegrundlagen hin zur Praxis. Ein tieferes Verständnis des Praxisteils wird daher sicher über die vorherige Auseinandersetzung mit der Theorie gewährleistet.
Die Themen verzahnen sich jedoch wechselseitig miteinander. Und warum nicht einfach mit den Kapiteln anfangen, die einen am meisten interessieren? Hier also die Aufforderung: Wenn man das Buch ganz durchliest, ist die Reihenfolge, in der man die Kapitel liest, egal. Ist das nicht erfrischend?
Nun noch ein paar Worte zu einer kleinen sprachlichen Schwierigkeit in diesem Buch: Es war schwer herauszufinden, wessen Buch es eigentlich ist und aus wessen Perspektive das Buch geschrieben wird.
Am Rechner sitze zur Zeit ich, Mart Rutkowski, und wenn ich in diesem Buch „Ich“ schreibe, betone ich damit meine ganz persönlichen, subjektiven Eindrücke, Meinungen und Erfahrungen. Manchmal ist aber auch von „wir“ und „uns“ die Rede – dann wird zumeist von Erfahrungen gesprochen, die das Leitungsteam unseres Vereins SnakeTeam e.V. in seiner konkreten Arbeit gemacht hat. Diese Erfahrungen sind durch lange Zeiträume intensiver Reflexion, Literaturrecherche, Prozessanalyse und Selbstevaluation gestützt. Um alles noch komplizierter zu machen, wird manchmal auch ein verallgemeinerndes „Ich“ oder „Wir“ zu lesen sein: Hier ist die Rede von dem „Ich, das Erlebnispädagoge zu sich sagt“ oder dem den Leser einbeziehenden „Wir Erlebnispädagogen“.
Dann kommt jetzt noch ein Hinweis zu Fußnoten in eben einer solchen Fußnote2 (siehe unten).
An dieser Stelle möchte ich noch einigen Menschen danken: Rebekka für das langjährige gemeinsame Reflektieren unserer Arbeit und für diverse Theorie welche dieses Buch bereichert, Anke Makowka für gute fachliche Gedanken und die Keksrollenreflexion, Luise Germer für Impulse zum Kapitel über systemische Aspekte, Haiko Nitschke für seine Begleitung und die Weitergabe von Wissen über Riten und Rituale, Michael Rehm und Reinhard Zwerger für deren vielseitige Unterstützung durch kompetenten Rat und interessante Skripte sowie allen Freunden, die sich durch den Urtext zwecks Korrektur und Kritik durchgearbeitet haben.
1 Ich schreibe ab jetzt im Maskulinum weiter und möchte darin alle Menschen eingeschlossen wissen. Sofern ich eine geschlechtsspezifische Besonderheit aufzeigen will, weise ich gesondert darauf hin.
2 Ich liebe Fußnoten. Neben Quellenangaben streue ich in Fußnoten manchmal auch Ergänzungen, „Neben-Gedanken“, Querverweise. Abschweifungen und kleine Witze ein. Anders gesagt: Ich schiebe alles in Fußnoten, was m. E. nicht in den Fließtext gehört und was ich aber trotzdem schreiben will. An diese kleine Marotte müssen sich die Leserinnen und Leser dieses Buches nun wohl oder übel gewöhnen.
1. | Ansichten, Grundlagen und Überlegungen für die Erlebnispädagogik |
1. | Ansichten, Grundlagen und Überlegungen für die Erlebnispädagogik |
1.1 | Eine neue Definition von Erlebnispädagogik |
Die erlebnispädagogische Arbeit wurde bereits mit vielen verschiedenen Begriffen und unterschiedlichen Akzentuierungen beschrieben und definiert.
Ich möchte hier erneut eine Annäherung an den Begriff der Erlebnispädagogik versuchen – nicht um Altbekanntes zu rekapitulieren, sondern um erneut zum Nachdenken über das Verständnis von Erlebnispädagogik anzuregen.
Die am Schluss dieses Kapitels gezogene Definition von Erlebnispädagogik ist nicht der Weisheit letzter Schluss, aber sie verdeutlicht einen Aspekt, der mir sehr wichtig ist: Wie stark kontext-, situations- und prozessabhängig Erlebnispädagogik eigentlich ist und wie wenig sie sich auf klar definierbare Räume, Medien und Vorgehensweisen beschränken lässt.1
Bevor ich mich dem Begriff der Erlebnispädagogik annähern und die von uns erarbeitete Definition vorstellen will, möchte ich eine Abgrenzung zu dem Begriff „Abenteuerpädagogik“ ziehen. Erlebnispädagogik und Abenteuerpädagogik werden gern synonym verwendet, ich halte hier eine inhaltliche Abgrenzung der beiden Begriffe jedoch für notwendig. So beschreibt Senninger vor dem Hintergrund des PA-Ansatzes die Abenteuerpädagogik als Ansatz innerhalb der Erlebnispädagogik2. Ich möchte mich von dem Begriff Abenteuerpädagogik distanzieren, da er innerhalb der erlebnispädagogischen Fachdiskussion Kontroversen auslöst. So schreibt Meier-Gantenbein:
„Das Abenteuer ist in seiner Dynamik unbeherrschbar und lässt somit steuernde Eingriffe von außen nicht zu. (…) Von daher ist Abenteuerpädagogik ein nicht zu überwindender Antagonismus, und der Ausweg auf das abgeschwächte Konzept der Erlebnispädagogik scheint zunächst gangbar: Ist doch das Erlebnis dem Abenteuer ganz ähnlich, vermindert nur um dessen riskante Seite.“3
An dieser Argumentation ist etwas dran. Ferner impliziert der Begriff „Abenteuerpädagogik“, dass die gemachten Erlebnisse zwangsläufig abenteuerlichen Charakters sein müssten, was der Komplexität und dem Facettenreichtum des erlebnispädagogischen Ansatzes nicht gerecht würde. Dies hängt vorwiegend mit der Konnotation von „Abenteuer“ zusammen – der Abenteuerbegriff als solches ist letztlich natürlich definitionsoffen und somit definitionsbedürftig. Dennoch sind diese Begriffe nicht austauschbar – Das Erlebnis lässt in seiner Bedeutungsvielfalt mehr zu. Wir wollen uns also auf die Erlebnispädagogik konzentrieren.
Erlebnispädagogik möchte Veränderungen und Horizonterweiterungen im Fühlen, Denken und Handeln ermöglichen und ist somit ein pädagogischer Ansatz, der sich ganzheitliches, unmittelbares und erfahrungsbezogenes Lernen zum Ziel gesetzt hat. Der Sozialpädagoge und Erlebnispädagogik-Ausbilder Bedacht definiert Erlebnispädagogik folgendermaßen:
„Im Rahmen von Natursportarten werden die drei Bereiche Erlebnis, Natur bzw. Raumaneignung und Gemeinschaft mit einer zielgerichtet pädagogischen Vorgehensweise verbunden.“4 Dabei seien vier Komponenten für das Lernen charakteristisch:
Entfernung vom Alltag mit seinen gewohnten Räumen und Verhaltensmustern
Unmittelbarkeit des eigenen Handelns und Nicht-Handelns
psychische und physische Herausforderungen
und die Verbindung kognitiver, emotionaler und haptiver Qualitäten.5
Eine weitere Definition von Erlebnispädagogik gibt Senninger in seinem Buch „Abenteuer leiten“, indem er schreibt, „,Erlebnispädagogik‘ als Methode umfasst alle Aktivitäten, die über Natur oder Umwelt ein verhaltensänderndes, erzieherisches oder persönlichkeitsentwickelndes Ziel haben und sich dabei Erlebnissen in ganzheitlichem Sinn (also aller Sinneswahrnehmungen) bedient.“6 Den von Senninger verwendeten Begriff der Methode halte ich für diskussionswürdig. Muss man die Erlebnispädagogik nicht eher als Ansatz betrachten, da pädagogische Grundhaltung und fundierte Theorie die Grundlagen bilden, auf denen später das rein methodische Vorgehen mit Hilfe von Medien aufbaut? Aber diese Diskussion muss vielleicht andernorts geführt werden denn am Geist der Sache ändert sie letztlich nicht viel.
Vergleicht man jedenfalls die genannten Definitionen miteinander, finden sich vier wesentliche Aspekte wieder:
Das Erlebnis, die Natur/Umwelt/Raumaneignung, die Ganzheitlichkeit sowie die Ausrichtung auf ein Ziel. Dazu kommen je nach Definition Gesichtspunkte wie Natursportarten, Gemeinschaft, Unmittelbarkeit des Handelns, Herausforderungen, Verhaltensänderungen und Persönlichkeitsentwicklung hinzu.
Als übereinstimmende Zusammenführung dieser Definitionen könnte man somit sagen, dass Erlebnispädagogik eine zielgerichtete ganzheitliche Intervention ist, die über ein Erlebnis sowie die besondere Einbeziehung des Raumes bzw. der Natur pädagogisch handeln möchte.7 Den Begriff der Intervention finde ich angebracht, weil er das Potential der Veränderung durch Irritation vorhandener Prozesse impliziert.
An zentraler Stelle der Erlebnispädagogik steht selbstredend das Erlebnis.
Ein Erlebnis ist ein Ereignis, das sich von anderen Begebenheiten im Leben massiv abhebt und durch seine Außergewöhnlichkeit und Nicht-Alltäglichkeit gekennzeichnet ist.
„Es ist das neue, ungewohnte, spannende, abenteuerliche oder auch einfach nur plötzlich und unverhofft eintretende Ereignis, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es markiert einen Unterschied zu bisherigen Erfahrungen (…).“8 Das Gehirn kann bei solch einem Erlebnis nicht auf die Routine, die es durch die bisherigen Erfahrungen entwickelt hat, zurückgreifen, was zur Folge hat, dass das gesamte Nervensystem aktiviert und die Aufmerksamkeit auf nur einen Punkt gerichtet wird. „In dieser Verarbeitung einer neuen Situation (…) vollzieht sich Lernen, denn es werden Erfahrungen in der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt gesammelt, die in der Folge Veränderungen oder Neuerwerb von Verhalten oder Einstellungen nach sich ziehen.“9 Ein wesentliches Kennzeichen des Erlebnisses ist zudem, dass es ein aktiver, subjektiver Prozess ist, „der durch die Struktur des Einzelnen determiniert wird und kaum von außen induziert werden kann.“10
Dies bedeutet, dass ein bestimmtes Ereignis nicht einfach ein Erlebnis ist, sondern dass es für den Einzelnen zum Erlebnis wird, wenn es sich von seinen bisherigen Erfahrungen unterscheidet. So entscheidet die Disposition und der persönliche Hintergrund des Einzelnen wesentlich darüber, was ein Erlebnis ist, und weniger die Situation selbst. „Erlebnisse stellen also unterschiedliche subjektiv bedeutsame Wirklichkeitskonstruktionen dar, die so vielseitig und vielschichtig sind, wie die Menschen selbst.“11
Dies bedeutet, dass es grundsätzlich fraglich ist, inwiefern Erlebnisse von Pädagogen überhaupt geschaffen werden können und ob man auf dieser Grundlage überhaupt von einer Erlebnispädagogik sprechen kann.
Denn bereits der Begriff Erlebnispädagogik impliziert, dass Erlebnisse planbar seien und man mit einer bestimmten Wirkung des Erlebnisses rechnen könne.12
Der Erziehungswissenschaftler Oelkers diskutiert eben diese Fragestellung und kommt zu dem Ergebnis, dass Erlebnisse zwar eine starke erzieherische Kraft hätten, insbesondere insofern sie sich auf die Lebenswirklichkeit des Einzelnen beziehen und sich biographische Zusammenhänge feststellen ließen – er sagt aber auch, dass Erlebnisse, sofern sie einen bestimmtes pädagogisches Ziel verfolgten, an Wirkungsgrad verlören, da sie, sofern sie lediglich als Mittel zum erzieherischen Zweck verstanden würden „schwach im Sinne der Absicht“13 seien. Auch sei die didaktische Verwendung von Erlebnissen problematisch, weil sich Erlebnisse „nicht so funktionalisieren (lassen), daß am Ende Ziel und Effekt übereinstimmen.“14 Daher sei die Beziehung zwischen dem freien, ungeplanten und richtungsoffenen Erleben und der eine Absicht verfolgenden Erziehung schwierig. Oelkers plädiert schließlich für „ungebundene Erlebnisse“15, bei denen die Erziehungsabsicht nicht das Erleben determiniert. Oelkers Argumentation erscheint mir nachvollziehbar – jedoch auch etwas einseitig.
So ist ein Erlebnis ohne pädagogische Zielsetzung vielleicht intensiver und stärker in der Lernerfahrung, dafür geht dem Pädagogen die Möglichkeit verloren, das Erlebnis überhaupt pädagogisch nutzen zu können.
Ihm fehlt demzufolge die Möglichkeit, in den Prozess eingreifen zu können, wenn die Teilnehmer Lernerfahrungen machen, die einer gewünschten konstruktiven und pädagogisch sinnvollen Entwicklung entgegenstehen16.
Indem der Pädagoge jedoch den Prozess beeinflusst (wenn er ihn auch nicht zu steuern vermag), kann er evtl. „negative“ Lernerfahrungen17 auffangen und durch seine Intervention in neutrale oder positive Erfahrungen umwandeln.18
Der Erlebnispädagoge als Person nimmt Einfluss auf den Prozess – allein durch seine Präsenz beeinflusst er bereits Atmosphäre, Situation und andere Personen.19 Indem er vor einer Aktion einen bestimmten Fokus setzt und die Teilnehmenden in Überlegungen über Prozessverlauf und mögliche Ziele mit einbezieht, lenkt er die subjektive Wahrnehmung der Einzelnen und gleicht sie in gewisser Hinsicht aneinander an. Hierzu dient auch die Reflexion.
Somit wird nicht nur ein bestimmtes Ziel über die Aktion verfolgt, sondern die Wahrnehmung auf dieses Ziel gelenkt. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit (!), eine bestimmte Thematik auch tatsächlich bearbeiten zu können.
Ob sich diese Thematik mit der Bearbeitung aber schon erledigt, kann prinzipiell nicht vorhergesagt werden – dies ist aber ein grundsätzlich pädagogisches, nicht ein spezifisch erlebnispädagogisches Problem.
Es stimmt natürlich, dass sich Erlebnisse per se nicht kreieren und steuern lassen. Jedoch können günstige Rahmenbedingungen für bestimmte Erlebnisse geschaffen werden, die auf Annahmen über den Erfahrungshintergrund der jeweiligen Teilnehmer beruhen.
Das hat zur Folge, dass sich die Anforderung an die Erlebnispädagogik stellt, zum Einen jede Aktivität spezifisch auf die Hintergründe der Teilnehmer zu planen und zum Anderen prozessorientiert zu arbeiten.20 Indem eine Aktivität mit dem Wissen durchgeführt wird, dass jeder Teilnehmer sie anders erlebt und man nicht genau wissen kann, was die gemachten Erfahrungen für den Einzelnen bedeuten, wird ein „geheimer Lehrplan“ von Seiten der Leitung vermieden – zugunsten einer Lernerfahrung, die der individuellen Situation des Einzelnen entspricht. Auf diese Weise kann Erlebnispädagogik zielorientiert und gleichzeitig ergebnisoffen arbeiten.
Nach Wahl21 gehört zum Erlebnisprozess zudem der Aspekt des Ausdrucks erlebter Eindrücke mit dazu. Dieser muss nicht unbedingt auf sprachlicher Ebene stattfinden, jedoch sind Erleben und Reflexion eng miteinander verflochten. Er unterscheidet zwischen den beiden Begriffen „erleben“ und „ein Erlebnis haben“, indem er sagt, dass jedes Lebewesen erlebt – ein Hund freut sich, wenn er sein Herrchen sieht. Ein Erlebnis hat man jedoch erst dann, wenn die reflektierende Distanz hinzukommt, wenn man das Erleben erlebt – und der Hund erlebt sein Erleben wohl kaum als solches, er hat sein Erleben nicht.22 Da die Reflexion somit unerlässlich zum Erleben gehört, ist es müßig, von „unmittelbaren Erlebnissen“ zu sprechen und zu fordern, dass ein Erlebnis ohne pädagogischen Zusammenhang stattfinden muss.23
Statt dessen kann es gerade von Vorteil sein, wenn ein Pädagoge den sowieso stattfindenden Prozess der Reflexion unterstützt und dem Erlebenden somit hilft, aus dem Erleben ein Erlebnis werden zu lassen. Wahl beschreibt hier das, was im erlebnispädagogischen Diskurs gemeinhin als Erfahrung bezeichnet wird: Ein Erlebnis, dessen Sinn durch die reflexive Komponente herausgearbeitet wird.24 Aufgrund obiger Überlegungen lässt sich schließen, dass zu den wesentlichen Elementen der Erlebnispädagogik neben dem Erlebnis, der Zielgerichtetheit, der Ganzheitlichkeit und der besonderen Einbeziehung des Raums der Aspekt der Prozessorientierung und in bedingtem Maße jener der Reflexion gehört. Daraus leiten wir folgende Definition von Erlebnispädagogik ab:
Erlebnispädagogik ist eine auf Ziele hin ausgerichtete, aber prozessorientierte, ganzheitliche pädagogische Intervention mit Medien, welche Ereignisse ermöglichen, die sich stark vom Alltag der Adressaten unterscheiden.
In unserer Weiterbildung erläutern wir unsere Definition gerne so:
… auf Ziele hin ausgerichtet … : Ohne Ziel bedarf es keiner Pädagogik.
Wenn Pädagogik mit „einen Menschen führen“ – besser gefällt mir „begleiten“ – übersetzt werden kann, dann braucht es eine Richtung. Im Optimalfall gibt mein Klient Ziel und Richtung vor. Oftmals haben wir eine Mischung aus unterschiedlichen Zielen: Es gibt das Ziel eines externen Auftraggebers, das Ziel einer Gruppe, das davon differierende Ziel eines einzelnen Teilnehmers, das Ziel des Trainers auf der Basis seiner situativen, pädagogischen Einschätzung. All diese Ziele gilt es gegeneinander abzuwägen und möglichst in Einklang miteinander zu bringen. Nicht zu vergessen ist dabei, dass sich Ziele im Laufe des Prozesses auch verändern können.
… prozessorientiert …: D.h. sich stets im pädagogischen Handeln an den Gruppenprozess anpassend. Hierbei hilft die Reflexion dabei, die Bedürfnisse der Gruppe/der Einzelnen herauszufinden und das Programm darauf abzustimmen. Ob der Trainer gerade mit seinen Vorstellungen der Prozessgestaltung noch richtig liegt, kann er nur im Dialog mit seinen Teilnehmern herausfinden. Das Thema Prozessorientierung soll an späterer Stelle nochmals besonderen Raum bekommen.
… ganzheitlich … : Mit allen Sinnen, emotional, kognitiv, auf Bewusstsein wie Unterbewusstsein wirksam. Warum nur ganzheitliche Lernerfahrungen den größten Effekt haben, wird im folgenden Kapitel über neurophysiologische Erkenntnisse des Lernens deutlich – und damit auch, warum Reflexion so wichtig sein kann.
… Intervention … : Der Begriff bedeutet für uns das „Dazwischentreten“ in einen laufenden Prozess um mittels Irritation eine Veränderung oder eine Bewusstmachung zu erreichen. Wenn ich nichts verändern will, brauche ich keine Pädagogik – es sei denn in Form einer präventiven Maßnahme. Aber letztlich ist auch Prävention eine Form der Intervention.
… mit Medien, welche Ereignisse ermöglichen, die sich stark vom Alltag der Adressaten unterscheiden … : Die bislang treffendste Definition des Erlebnisbegriffs hat meiner Meinung nach Meier-Gantenbein geliefert (siehe oben). Vor diesem Hintergrund wird auch klar, warum es in der Erlebnispädagogik keine Festlegung auf bestimmte Medien geben kann. Das Medium Kajak unter bestimmten Voraussetzungen, gekoppelt mit einer pädagogischen Absicht und als unbekanntes Lernfeld kann Erlebnispädagogik sein. Kajakfahren in einem Kajakkurs hingegen muss nicht Erlebnispädagogik sein. Und Kajakfahren mit einer Gruppe von Inuit hat für diese vermutlich zu wenig vom Charakter eines Ereignisses, das einen Unterschied zur Alltagsstruktur macht – und wird aller Voraussicht nach nicht im selben Maße erlebnispädagogisch wirksam wie andernorts. Damit ein Medium erlebnispädagogisch wirksam wird, muss es also kontextabhängig ausgewählt werden. Es kann somit nur kontextabhängige Ein- oder Ausgrenzungen von Medien in die Erlebnispädagogik geben.
Ähnlich ist in diesem Zusammenhang auch die Gestaltung des räumlichen Umfeldes zu bewerten: Es gilt abzuwägen, ob die Prozessqualität durch ein anderes Umfeld gesteigert oder ob durch das Erlebnis ein vertrautes Umfeld zu etwas anderem wird.
Aufgrund dieser Überlegung ist auch Natur (im Sinne von „nicht durch den Menschen bewusst geformte und kontrollierte Umgebung“) und der Einsatz von „Natursportarten“ für die Erlebnispädagogik nicht mehr als grundlegende Basis zu betrachten – wiewohl natürlich ertragreich und bewährt! Ich wollte auf nichts davon verzichten! Doch Citybound, Budopädagogik, Zirkuspädagogik und süddeutsche Formen des PA-Ansatzes verzichten oftmals auf Natur oder „Natursportarten“ und müssen dennoch dem erlebnispädagogischen Feld zugerechnet werden.
Ich denke, dass hierdurch besonders deutlich hervorgeht, dass sich Erlebnispädagogik über Absicht und Wirkweise definieren muss und sich nicht an Medien und äußeren Räumen festmachen lässt.
Die oben vorgestellte Definition ist nur eine weitere Definition.
Doch sie ist grundlegend für unsere Vorstellung von Prozessgestaltung.
Sie will (und kann!) auch andere Definitionen nicht ersetzen. Aber sie kann anregen, darüber nachzudenken, was eigentlich unabdingbar ist um „erlebnispädagogisch“ im Sinne einer pädagogischen Absicht zu arbeiten.
1.2 | Aus dem Erlebnis lernen – Ein Ausflug in die Neurophysiologie |
Erlebnispädagogische Arbeit lebt von dynamischen, dialogischen und systemisch zu betrachtenden Prozessen. Solche Prozesse können bis zu einem gewissen Grad beeinflusst, aber niemals präzise gesteuert werden – erlebnispädagogische Arbeit „funktioniert“ nicht linear. Die Einflussfaktoren sind vielfältig und komplex – was nicht heißt, dass man nicht trotzdem eine hohe „Trefferquote“ erzielen kann. Ein Forschungsdesign jedoch, das alle Einflussfaktoren erlebnispädagogischen Handelns angemessen erfasst, wird weiterhin eine Herausforderung bleiben. Jenseits quantitativer Wirksamkeitsstudien gibt es allerdings Erkenntnisse, die Mut für die Arbeit machen; Erkenntnisse, die ein neues Grundlagenverständnis der Erlebnispädagogik (und verwandter Felder!) ermöglichen und damit fundierte Erklärungen für das liefern, was wir schon seit Jahren praktisch tun. Diese Erkenntnisse kommen aus den Neuro-Wissenschaften25. Ich werde in diesem Kapitel jene Gedanken wiedergeben, die für unsere erlebnispädagogische Arbeit besonders interessant sein dürften.
Im Vorfeld möchte ich noch auf eine sehr spezielle Problematik hinweisen:
Die des Lern-Begriffs.
Ich laste es der Tradition unseres Schulsystems an, dass „Lernen“ häufig mit einem Vorgang bewusster Informationsverarbeitung und Speicherung von Faktenwissen assoziiert wird. Auch wenn Bildungspläne und Lehrerausbildungen mittlerweile versuchen, den Lernbegriff anders zu füllen – in vielen Köpfen scheint dies noch nicht angekommen zu sein. In einem hohen Anteil von Publikationen zum Thema „Lernen“ wird mindestens implizit die Vorstellung eines funktionalen, kognitiv orientierten Wissenstransfers weiterhin genährt – oder Lernen recht eindimensional im schulischen Raum verortet. Dabei ist das Gehirn, wenn es lernt, weit davon entfernt, einen isolierten (und noch dazu vordefinierten) Inhalt abzuspeichern: Es entscheidet vielmehr selbst, wie die vielfältigen Anteile einer Situation zu bewerten sind, welche davon ins Bewusstsein gelangen – sowie ob und wie sie dort verankert werden.26 Das Gehirn konstruiert also die darin gespeicherten Inhalte – Lernen ist nicht Transfer sondern ein aktiver und individueller Konstruktionsprozess. Hier reichen sich Neurowissenschaftler und Konstruktivisten die Hand. Und für uns Erlebnispädagogen heißt das wieder einmal: Der Output ist nicht vordefinierbar. Allein schon deshalb brauchen wir die Reflexion! Dort, wo ich in diesem Buch den Begriff „Lernen“ verwende, ist die Aneignung von Kompetenzen jeglicher Art gemeint – gerade auch emotionaler und sozialer Kompetenzen. Dieser Aneignungsprozess geschieht (wie ich noch anreißen werde) häufig „implizit im Nebenher“ d.h. nicht bewusst; weder intendier-, steuer- oder messbar. Der hier verwendete Lernbegriff umfasst daher jene schwer zu beschreibende Fähigkeit ein gutes Lagerfeuer zu machen ebenso wie Prozesse sozialen Lernens oder die Verarbeitung persönlichkeitswirksamer Impulse. Es ist mir ein Anliegen, den Lernbegriff bzgl. seiner Konnotationen kritisch zu überprüfen. Denn das, was wir unter Lernen (und auch unter „Pädagogik“!) verstehen, hat maßgeblichen Einfluss auf unser Menschenbild, unsere Haltung und unser Handeln in pädagogischen Prozessen.