Kitabı oku: «Der Blick in den See», sayfa 2
Als Nicht-Gehirnforscher ist es für mich eine Herausforderung, mich mit dem menschlichen Gehirn zu beschäftigen – noch größer aber ist die Herausforderung, die gewonnenen Erkenntnisse lesbar und für die pädagogische Praxis gangbar wiederzugeben. Trotz dem Bemühen um fachliche Richtigkeit werde ich vieles stark vereinfacht darstellen müssen – ich hoffe, die Neurowissenschaftler verzeihen mir dies. Aus diesem Grund werde ich allen Fachwörtern und Sachverhalten, bei denen ich eine tiefgängigere Betrachtung für besonders lohnenswert halte, eine (➔) Pfeilmarkierung voranstellen.
Der neugierige Leser sei darum an dieser Stelle explizit eingeladen, sich mit der Materie via Internetrecherche oder der im Literaturverzeichnis genannten spezifischen Literatur eingehender zu beschäftigen.
Kurzeinführung in das Gehirn
Das menschliche Gehirn ist Teil des Zentralnervensystems. Die verschiedenen Areale und Teile des Gehirns haben einen „modularen“ Charakter – wirken jedoch gerade bei komplexen Denk- oder Handlungsvorgängen in Form eines Netzwerks zusammen. Man kann also Teilfunktionen einem bestimmten Gehirnareal zuordnen – muss aber berücksichtigen, dass häufig nur die Verknüpfung mehrerer Teilfunktionen zu einer echten Konsequenz führt. Bei all dem ist das Gehirn sehr gut darin, sich flexibel umzuorientieren und – z. B. in dem Fall, dass ein Teil nicht mehr so gut funktioniert – bestimmte Funktionen mit Hilfe anderer Areale zu kompensieren. (Das Stichwort hierzu lautet „Funktionale Plastizität“.) Der Neurophysiologe Gerhard Roth beschreibt das Gehirn als in vieler Hinsicht funktional redundant – was uns Erlebnispädagogen natürlich gut gefällt. Das Gehirn ist also mehr als die Summe seiner Bestandteile – deren Vernetzung allerdings ist tragend für die Tatsache, dass wir viele komplizierte Dinge tun, sagen, lernen und machen können.
Zu der hier genannten Vernetzung lässt sich stark vereinfacht sagen, dass alles, was mit unserem Bewusstsein zu tun hat, in unserer Großhirnrinde angekommen ist.27 Die Großhirnrinde ist jene gefurchte äußere Schicht, welche entfernt an eine Walnuss erinnert – das, woran man zuerst denkt, wenn man (als Nicht-Neurowissenschaftler) an ein Gehirn denkt. Was uns bewusst wird, muss sich also irgendwo hier herumtreiben – allerdings gilt das nicht auch umgekehrt! Denn nicht alles, was sich in der Großhirnrinde abspielt, ist uns automatisch auch bewusst! In motorischen und sensorischen Arealen der Großhirnrinde laufen viele Prozesse ab, die unbewusst bleiben. Was übrigens ganz erholsam ist, wenn man mal darüber nachdenkt.
Es gibt aber auch die sogenannten „assoziativen Areale“, welche „keine primären sensorischen oder motorischen Informationen verarbeiten, sondern solche Informationen verbinden („assoziieren“) und in Verbindung mit Gedächtnisinhalten […] komplexere, bedeutungshafte Informationen erzeugen.“28 Für uns Erlebnispädagogen sind einige im vorderen Teil der Großhirnrinde gelegene Areale besonders interessant: So zum Beispiel der dorsolaterale Teil des präfontalen Cortex29 (PFC), dessen Ausrichtung auf „das Erfassen von Ereignissen und Problemen in der Außenwelt, insbesondere hinsichtlich deren zeitlicher Reihenfolge und ihrer Bedeutung bzw. Lösung“30 erfolgt.
Nicht minder spannend ist die Tatsache, dass solche Areale wie der orbifrontale Cortex (OFC), der ventromediale präfontale Cortex (VMC) und der anteriore cinguläre Cortex (ACC) mit „Sozialverhalten, ethischen Überlegungen, divergentem Denken, Fehlererkennung, Risikoabschätzung, Gewinn- und Verlusterwartung, Einschätzung der Konsequenzen eigenen Verhaltens, Gefühlsleben und emotionaler Kontrolle des Verhaltens […]“31 zu tun haben. Dies sind die Areale, die für unsere Arbeit eine vergleichsweise wichtige Rolle spielen – es bleibt also nur die Frage, wie wir diese in Schwung bringen.
Hinter (bzw. unter) der Großhirn-Rinde liegen Bereiche, welche passenderweise unter der Sammelbezeichnung Stamm-Hirn zusammengefasst werden. Sie umfassen Zwischenhirn, Mittelhirn, Brücke (Pons) und verlängertes Rückenmark. Das Stammhirn ist überwiegend für vegetative und unbewusste Prozesse zuständig – und sichert damit unser Überleben. Überwiegend wohlgemerkt, da vielfältige Areale die zum ➔ Zwischenhirn zählen oder mit ihm im Zusammenhang stehen, für die Organisation unter-/vorbewusster Prozesse zuständig sind – d.h. Prozesse, die noch nicht (oder nicht mehr) bewusst sind, es aber werden können. Der im Zwischenhirn gelegene ➔ Thalamus zum Beispiel gilt als „Schaltzentrale“, die darüber entscheidet, welche Informationen in den assoziativen Arealen der Großhirnrinde landen. Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist die Rolle des ➔ Hippocampus, welcher Informationen aus unterschiedlichen sensorischen Systemen zusammenführt, als Gedächtnisinhalte in das Langzeitgedächtnis integriert und deren Abruf organisiert.
Neben all dem gibt es noch ein (gar nicht mal so kleines) Kleinhirn irgendwo hinten im Kopf, das u.a. für unbewusste Planung, Motorik und Bewegungskoordination zuständig ist. Wir können dessen Existenz im Hinterkopf behalten, allerdings ist es für uns jetzt, hier und heute nicht so wichtig.
All diese Gehirnareale sind nun auf vielfältige Weise miteinander verbunden – manche besser oder schlechter, manche direkter oder über Umwege. Vielleicht ist die Vorstellung eines weltweiten Telefonnetzes hilfreich – zeitgemäßer wäre vielleicht aber auch ein Vergleich mit dem Internet. Die Vernetzung unserer Hirnareale geschieht jedenfalls ganz ähnlich: Furchtbar viele Nervenzellen, die man Neuronen nennt, sind miteinander über sog. Synapsen verbunden.32
Über diese Synapsen werden Informationen in Form von Erregungsimpulsen auf überwiegend chemischem (manchmal auch elektrischem) Weg zwischen den Nervenzellen ausgetauscht. Ist die synaptische Verbindung stark (sozusagen eine „dicke Leitung“), geht die Übertragung von Erregungsimpulsen schnell – ist sie weniger stark, geht die Übertragung langsamer. An dieser Stelle sei noch bemerkt, dass Synapsen vollkommen flexibel, veränderbar und anpassungsfähig sind:
Sie können sich bedarfsabhängig verändern – also derart, wie es den gegebenen Anforderungen entspricht. Es ist vollkommen beeindruckend, dass wir sozusagen jederzeit fast alles lernen können – wenn auch manchmal leichter oder schwerer.
Wir können schon jetzt festhalten, dass es beim Lernen von Verhaltensweisen, Kompetenzen, Wissensinhalten, Bewegungen u.v.m. immer darum geht, aktiv neue Verknüpfungen herzustellen und die synaptische Verbindung zu einer „dicken Leitung“ auszubauen. Dies wird begünstigt durch:
eine gewisse Mehrdimensionalität neuer Eindrücke z.B. durch Sehen, Hören und Tun (= unterschiedliche Hirnareale und synaptische Verbindungen werden aktiviert.)
eine gewisse Erregungsstärke (d.h. erhöhte Aufmerksamkeit – häufig gegeben, wenn Emotionen mit im Spiel sind oder eine Situation als neu und bedeutsam eingeschätzt wird.)
eine gewisse Dauer der Auseinandersetzung und Wiederholung (neue Repräsentationen im Gehirn bilden sich erst ab einer Dauer von etwa 10 Minuten der Beschäftigung mit etwas – Dauerhaftigkeit ist aber erst gegeben, wenn diese Repräsentanz im Abstand einiger Stunden erneut abgefragt wird.33)
Um die Vielfalt, Komplexität und Menge der möglichen Informationsverschaltungen in unserem Gehirn auch nur annähernd erahnen zu können, hier ein Vergleich: Stell Dir vor, Du öffnest eine Google-Maps-Karte der Welt im Internet und sämtliche persönlich relevanten Internet-, Festnetz,- und Mobiltelefonverbindungen ALLER Menschen würden mit Hilfe hellgelber Linien dargestellt. Und nun stelle Dir vor, über jede dieser Linien würde im Moment einer E-Mail oder eines Anrufs ein kleiner orangefarbener Punkt wandern. Unvorstellbar? Ungefähr so unvorstellbar ist die Vielfalt unseres neuronalen Netzwerkes, über welches Informationen zwischen den Gehirnteilen hin und her fließen.34
Ein anderes schönes Gedankenexperiment ist dieses: Was tut Dein Gehirn jetzt gerade alles parallel? Du liest Buchstaben, fügst sie zu Wörtern und Sätzen zusammen und gibst ihnen Sinn – oder fragst Dich, ob der vorliegende Text für Dich relevant ist. Währenddessen atmet Dein Körper automatisch. Du spürst, ob Du Hunger oder Durst hast und wie warm Dir ist. Du verjagst eine Fliege, filterst unterbewusst Nebengeräusche heraus, nimmst Gerüche wahr und musst Dich nicht darum kümmern, dass Deine Rückenmuskeln Dir beim Sitzen oder Aufstehen helfen. Dies alles geschieht nämlich ohne viel bewusstes Zutun.
Dein Gehirn hat also viele „Programme“ gleichzeitig „offen“ und lauter Prozesse parallel am Laufen35 – auch wenn nicht jeder Prozess auf Deinem Bildschirm angezeigt wird. Und jetzt überlege mal, was das für erlebnispädagogische Situationen bedeutet.
Im Folgenden werde ich ein paar interessante Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften knapp zusammenfassen und mit unserem erlebnispädagogischen Handeln verknüpfen. Ich werde den Gedanken stets eine These voranstellen – denn die interdisziplinäre Diskussion um neurophysiologische Ergebnisse und ihre pädagogischen Schlüsse ist noch weit davon entfernt, dass man sie als abgeschlossen bezeichnen kann. Schon jetzt möchte ich ankündigen, dass die meisten der hier aufgeführten Erkenntnisse in ihrer Verkürzung trivial anmuten, da sie weitgehend dem entsprechen, was wir Erlebnispädagogen bereits seit geraumer Zeit in unserer Praxis umzusetzen versuchen. Aber ein wenig Bestätigung ist doch auch mal ganz schön! Gleichzeitig muss betont werden, dass am Schluss keine Patentrezepte oder pädagogischen Konzepte stehen werden. Denn es ist eine mechanistische Annahme, dass wir nur den „richtigen Neuroknopf“ finden müssten, um unsere Intentionen in andere Menschen hinein zu transferieren. Alles, was wir vermögen, ist einen unterstützenden Rahmen zu schaffen, in dem Menschen ihre eigene Welt konstruieren und ggf. modifizieren. Daher wird auch dieses Kapitel nicht mehr sein als der Hinweis auf eine neue Fährte.
Wer sein Fachwissen im Bereich der Hirnforschung praxisorientiert vertiefen möchte, dem möchte ich – neben der im Anhang angegebenen Literatur von Hüther, Spitzer und Roth – insbesondere die Masterarbeit ➔ „Neurobiologisches Wissen für Kommunikationstrainings“ von Hannes Horngacher (Salzburg 2011, als E-Book erhältlich) sehr empfehlen! Einen aus neurodidaktischer Sicht hilfreichen Katalog für die pädagogische Praxis haben Heckmair und Michl in ihrem Buch „Von der Hand zum Hirn und zurück“ (Augsburg 2013) dargestellt.
These Nr. 1: Das (soziale) Gehirn ist entwicklungsfähig und formbar
Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften:
Für uns sehr interessant ist das sog. ➔ „limbische System“, welches als Sitz des Psychischen gilt und für Gefühle, Motive, Ziele und die Bewertung von Handlungen und Ereignissen zuständig ist. Interessant ist, dass das limbische System tatsächlich maßgeblicher unser Handeln beeinflusst als jegliche in der Großhirnrinde produzierten „Vernunftsargumente“. Das limbische System hat quasi das erste und das letzte Wort bei Entscheidungen – der Einfluss der Ratio ist begrenzt. Das limbische System besteht nicht aus einem Hirnareal, sondern aus einem komplexen Netzwerk verschiedener Zentren. Es lässt sich in einen unteren, oberen und mittleren Teil unterscheiden. Die Areale, die zur unteren und mittleren Ebene des limbischen Systems gehören, sind zuständig für ➔ unbewusste Emotionen, Triebe und vegetative Funktionen – und entscheiden darüber, wie das Gehirn mit neuen, noch nicht bewussten Informationen umgehen soll. Bemerkenswert: Gerhard Roth merkt an, dass über den Hippocampus (s.o.) transportierte Geschehnisse durch bestimmte Teile des mittleren limbischen Systems und der ➔ Amygdala (= Areal, das an Angst, Abwehr, Aggression, Erregung und affektiven Zuständen beteiligt ist) emotional „eingefärbt“ werden würden – was einen Einfluss auf die Verankerung im Langzeitgedächtnis habe. Wenn man all diese komplexen Informationen zusammenfassen wollte, könnte man sagen, dass das untere und mittlere limbische System viel Einfluss darauf haben, welche Qualität eine Information bekommt und was anschließend mit der Information geschieht. Wie stark dies unser Leben beeinflusst wird daran ersichtlich, dass Prägungen und Erlebnisse der frühen Kindheit, welche unversprachlicht und unbewusst verarbeitet werden, sich ganz grundsätzlich auf unsere Persönlichkeit auswirken, etwa in unserem Bindungsverhalten. Teile der Großhirnrinde in Stirn- und Scheitellappen hingegen sind (je nach Auffassung)
Teil der „oberen“ limbischen Ebene bzw. interagieren mindestens sehr eng mit ihr. Die obere limbische Ebene ist die Ebene bewusster Gefühle und Motive sowie zugleich der Sozialisation und Erziehung. Interessant ist, dass hier auch ethisches und reflexives Ich enthalten sind. „Diese Ebene bildet sich langsam bis zum Erwachsenenalter hin aus und ist entsprechend leichter zu verändern, hat aber einen geringeren Einfluss auf unsere Persönlichkeit.“36
… und das bedeutet für die EP
Zunächst einmal: Menschen werden stark von unbewussten Anteilen und frühkindlichen Erfahrungen geprägt. Diese Prägung ist mitverantwortlich für bestimmte Selektionen und individuelle Interpretationen von Information: Der Grund, warum wir die Welt unterschiedlich wahrnehmen und deuten, Gesagtes zwangsläufig nur gemäß unserer Sichtweise verstehen u.v.m. Wir können an diese prägenden, in der frühen Kindheit gemachten und unbewusst verarbeiteten Erfahrungen praktisch nicht herankommen. Dazu müssten sie versprachlicht werden können. Unbewusste Prägungen entziehen sich aber i.d.R. der Versprachlichung. Unbewusste Prägungen kann man auch nicht „löschen“ – maximal das daraus resultierende Verhalten kann „überlernt“ werden. Selbst Psychotherapie schafft „nur“ den Zugriff auf Vorbewusstes – was aber schon jede Menge ist! Dies bedeutet den Abschied von der Phantasie eines grundlegenden Wechsels des persönlichen „Betriebssystems“.
Dennoch: Soziales Lernen ist und bleibt sinnvoll. Denn wir können einen Zugang zu Ebenen schaffen, die für unter-/vorbewusst und bewusst erlebte Emotionen zuständig sind – auch und gerade mit Hilfe der Erlebnispädagogik. Wenn wir es schaffen, dass Emotionen bewusst erlebt und wahrgenommen werden – und wir via Reflexion sogar den Schritt der Versprachlichung schaffen (wodurch nochmal andere Gehirnareale aktiviert werden müssen) – dann können wir sehr begründet darauf hoffen, dass der erste Schritt neuer Verhaltens- und Sichtweisen von sozialem Miteinander gelungen ist. Dabei zu berücksichtigen: Bzgl. sozialer und kommunikativer Inhalte geht es nicht nur um Entwicklung neuer Verknüpfungen. Es geht auch um Wiederholung (= Verstärkung der neuen synaptischen Verschaltungen) und um die Anwendung in unterschiedlichen Situationen und Kontexten.37 Das kennen wir als „Soziales Training.“ Dies braucht gehirnphysiologisch Zeit – was uns nochmals darauf hinweist, über die sinnvolle Mindestdauer erlebnispädagogischer Programme nachzudenken.38
These Nr. 2: Bedeutsame Erlebnisse sind wichtig für unsere Persönlichkeit
Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften:
„Beim Einspeichern sind Gestalthaftigkeit (also klare Erkennbarkeit und Abgrenzbarkeit), Sinnhaftigkeit, die Anschlussfähigkeit an früher erlernte Inhalte, die emotionale Einfärbung und der emotionale Kontext wichtig, und je schwächer diese Faktoren ausgeprägt sind, desto schneller vergessen wir die Inhalte.“39 Es muss beachtet werden, dass das hier beschriebene „Einspeichern“ sich bei Roth zunächst einmal auf Wissensinhalte bezieht – nicht primär darauf, neue Verhaltensweisen in unser Selbstkonzept zu integrieren. Das Zitat kann m.E. dennoch übertragen werden, denn all diese Faktoren gelten beim Sozialen Lernen ebenso. Eine wichtige Rolle hierbei spielen das „episodische“ bzw. das mit ihm in Zusammenhang stehende „autobiographische Gedächtnis“. Das sogenannte „episodische Gedächtnis“ wird von Hippocampus, Stirn- und Temporallappen (= Teile des oberen limbischen Systems) sowie der Amygdala und Teilen des mittleren limbischen Systems gebildet bzw. beeinflusst. (Man nimmt an, dass der Hippocampus für die Erinnerungen von Details, die Amygdala und das mittlere limbische System für die emotionale Färbung zuständig sind.40) Mit Hilfe des episodischen Gedächtnisses werden vergangene Ereignisse und Erfahrungen im Zusammenhang mit bestimmten Kontexten gespeichert, erinnert und abgerufen – sowie mögliche zukünftige Erfahrungen erdacht. Es gibt unterschiedliche Meinungen über Stärke und Dauer der episodischen Gedächtnisleistung. Damit eine Erfahrung autobiographisch relevant wird (das sog. ➔ „autobiographische Gedächtnis“ wird dem episodischen Gedächtnis zugeordnet) und dies auch langfristig bleibt, bedarf sie der Bedeutungsgebung durch das Individuum. Hierbei kann jegliche Form der Reflexion eine unterstützende Rolle spielen. Das o.g. Problem der Enkodierungsspezifität von Erlebnissen darf nicht zu schwarz-weiß betrachtet werden. Denn die gute Nachricht lautet: Hinweisreize (sog. ➔ „Cues“) triggern die Erinnerung – und die besten „Cues“ kommen von innen! „Können Informationen auf Aspekte des eigenen Selbst bezogen werden, ist die Erinnerung besser, als wenn Informationen mit Aspekten anderer Personen oder Objekte in Beziehung gesetzt werden. Die Cues erweisen sich als Elemente eines dynamischen, autoreferenten und wahrnehmungsabhängigen Triggersystems. Autoreferent: Episoden triggern Episoden und lösen Assoziationskaskaden aus. Aktuell erlebte Episoden und Erlebnisse der Vergangenheit gehorchen nicht der linearen Chronologie. Ordnende Funktion hat die emotionale Hierarchie der Erlebnisse, wobei die Skala von beiläufig emotional geprägten Episoden bis hin zu biographischen Schlüsselerlebnissen reicht.“41
… und das bedeutet für die EP
Die Entwicklung unseres Selbst-Entwurfs hat viel mit emotional einprägsamen, bewussten Erfahrungen zu tun, die wir als bedeutsam für uns selbst einstufen. Unser Selbst wird stark geprägt von unserem episodischen bzw. autobiographischen Gedächtnis. Dabei muss immer wieder hervorgehoben werden, dass darin sehr unterschiedliche Arten von Informationen integriert werden und sowohl der prozedurale als auch der semantische Speicher hieran ihren Anteil haben. Anders gesagt: Ganze Ketten von bedeutsamen Ereignissen und Erlebnissen werden bildhaft und mehrdimensional abgespeichert und nehmen Einfluss darauf, wie wir uns selbst sehen, verhalten und entwerfen. Auch wenn es jetzt eigentlich nicht mehr erwähnt werden müsste: Erlebnispädagogische Settings sind natürlich prädestiniert für Situationen, die auf eine solche Weise verarbeitet werden. Der Reflexion kommt hierbei eine wichtige Rolle zu, da sie die Bedeutungsgebung/Interpretation und den damit einhergehenden Selbst- und Sinnbezug unterstützt. Hierdurch steigt die Chance der Überführung von Inhalten in die für uns besonders interessanten Areale der Großhirnrinde. Ähnliches gilt für die Sensibilisierung im Vorfeld, da hierdurch die Erwartung von Relevanz entsteht – was Stoffe im Gehirn freisetzt, welche eine aufmerksame Fokussierung und damit das Lernen unterstützen. Denn: „Die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Ausschnitt dessen, was gerade unsere Sinne erregt, bewirkt die Aktivierung genau derjenigen neuronalen Strukturen, die für die Verarbeitung eben dieses Ausschnitts notwendig sind.“42 Damit in Bezug auf die o.g. Hinweisreize der Selbstbezug unterstützt wird, bedarf es des (vielleicht nur emotionalen) Erfassens von Bedeutung und irgendeiner Form der Verankerung. Hier ist die Arbeit mit Metaphern zur Dekontextualisierung kein schlechtes Prinzip – und auch das Setzen von Körperankern oder das bewusste Fokussieren auf ein bedeutsames Bild können hilfreich
sein.43
These Nr. 3: Lernen bedeutet Umgang mit Irritation – Das Komfortzonenmodell bildet neurodidaktisch relevante Erkenntnisse ab.
Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften:
Ein der Entwicklung aller lebenden Systeme zugrundeliegendes Prinzip besteht darin, dass „neue Interaktionen (…) nur im Rahmen und auf der Grundlage bereits etablierter Interaktionsmuster ausgebildet und stabilisiert werden.“44 Dies mag an das Bild des hermeneutischen Zirkels erinnern. Entwicklung selbst kann jedoch nur dann stattfinden, wenn der Mensch auf neuartige Bedingungen trifft, welche die Stabilität der bereits etablierten Interaktionen in Frage stellen. Sinneseindrücke, die besonders neu sind oder in einer unbekannten Kombination mit anderen Sinneseindrücken auftauchen, sorgen für eine gewisse Unruhe im Gehirn. „Jedes Mal, wenn das passiert, wird ein bereits vorhandenes, früher entstandenes Erregungsmuster vorübergehend durcheinander gebracht.“45 Noradrenergene Zellen (Recherchiere dazu ➔ Noradrenalin) werden durch die Neuigkeit einer Situation aktiviert und fördern durch eine Reihe von Aktionspotentialen eine fokussierte Aufmerksamkeit. „Jetzt ist das Gehirn wach und kann das neue Aktivierungsmuster zu einem neuen inneren Bild zusammenfügen.“46
Eine gewisse Erregung und Unruhe ist also förderlich, da hierdurch der Abgleichprozess unterstützt wird. Dies umso mehr, wenn im Gehirn parallel auch noch Dopamin ausgeschüttet wird – ein Stoff, der äußeren Reizen eine anspornende Bedeutung zuschreibt und eine Belohnungserwartung im Sinne eines erhofften Mehrwerts hervorruft. Dies alles geschieht aber nur, wenn der optimale Grad nicht überschritten wird – denn wenn durch Angst oder Stress die Aktivierung über den Grad der optimalen Stimulation hinaus gesteigert wird, hat dies zur Folge, dass weniger komplexe, ältere und bewährte Verhaltensmuster stabilisiert werden, um die Situation zu bewältigen, und der präfrontale Cortex gehemmt wird.47 Starker Stress oder Angst blockieren also genau den erwünschten Effekt. Eine Neubildung von Synapsen findet in einem solchen Moment nicht mehr statt.
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Lernen bedeutet also automatisch Umgang mit Irritation, welche in der Erlebnispädagogik gezielt und beabsichtigt als Schlüsselelement eingesetzt wird. Das Gehirn greift in einem ersten Abgleichprozess auf altbewährte Muster zurück, um diese dann in einem zweiten Schritt zu modifizieren, zu ergänzen oder zu erweitern – dazu muss aber die Irritation stark/bedeutsam genug sein. Dessen ungeachtet braucht es zum Erlernen neuer Inhalte und Verhaltensweisen aber auch eine gewisse Überlappung mit vorhandenem Wissen. Das Schlüsselwort hier lautet „Anschlussfähigkeit“ – man erahnt schon, wie wichtig darum eine
Im Grunde ist uns Erlebnispädagogen das alles schon lange bekannt – denn dies ist unter dem Strich das Gleiche, was uns das Lern- oder Komfortzonenmodell sagt. Wir dürfen uns aber daran erfreuen, dass die Neurowissenschaften diesem Modell sozusagen ein naturwissenschaftliches Fundament geben.
These Nr. 4: Soziales Lernen gelingt am besten durch das Tun im sozialen Kontext
Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften:
Zunächst ist interessant zu wissen, dass unser Gehirn zum Erlernen eines Inhalts oder einer Kompetenz häufig nicht darauf angewiesen ist, die dahinterstehenden abstrakten Regeln zu verstehen. Oftmals stehen diese „logischen“ Aspekte einem Lernerfolg eher hinderlich im Weg – oder sind nur begrenzt anwendungs-unterstützend. Diesen Effekt erlebt jeder, der eine neue Sprache lernt: Beim Sprechen denkt man nicht darüber nach, wie der Satz grammatikalisch richtig strukturiert sein müsste – tut man es, ist zeitgleich das Sprachzentrum nur noch eingeschränkt nutzbar.48 Viele Dinge, die wir ganz natürlich beherrschen, können wir nicht gut mit Worten erklären: z.B. wie wir unsere Muttersprache sprechen, laufen, Fahrrad fahren u.v.m.49 Dieser Effekt trifft aber auch und gerade auf alle Aspekte des zwischenmenschlichen Bereichs zu. Vieles, was wir wahrnehmen, nehmen wir unter-/vor- aber auch unbewusst wahr (etwa ➔ Mikroexpressionen oder Körpersprache bei anderen Menschen). Hinzu kommt das Prinzip der sog. ➔ Spiegelneuronen: Bei der Beobachtung von Handlungen und Verhaltensweisen anderer Menschen werden in uns die gleichen relevanten Gehirnareale aktiviert wie bei dem tatsächlich Handelnden – so als würden wir selbst auf diese Weise handeln oder uns verhalten. Das erklärt, warum Emotionen und Stimmungen häufig „ansteckend“ wirken oder wir intuitiv ein Gefühl davon haben, wie es einem anderen Menschen geht. Das Wissen um die Existenz von Spiegelneuronen ist – wenn auch sicher nicht der Weisheit letzter Schluss – so doch ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis von Intuition, Empathie und sozialem Lernen.
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Spiegelneuronen werden im Zusammensein mit anderen Menschen aktiviert. Dies bedeutet für soziales Lernen, dass jeder Mensch ein Modell für den anderen darstellt und wir uns ziemlich viel gegenseitig beeinflussen, wenn auch nicht bewusst. Für systemisch denkende Trainer ist das natürlich nichts Neues. Diese Modell-Rolle betrifft Teilnehmer wie Trainer in gleichem Maße. Wir erahnen somit, welchen Einfluss das Geschehen in der Gruppe und dessen Bewertung auf den Einzelnen nimmt. Für soziales Lernen in der Gruppe heißt das natürlich, dass jegliche Form von sozialer Veränderung in kleinen Schritten und langsam erfolgt – es muss vorsichtig erprobt, positiv bewertet und (unterbewusst) als reproduktionswürdig d.h. lohnenswert empfunden werden. Erst dann etabliert sich ein neues Verhalten oder eine neue Kultur. Als Trainer können wir zu bestimmten Verhaltensweisen anregen, mittels vernünftiger Erklärungen und Theorien (etwa über Kommunikation) in anderen Hirnarealen weitere Ankerpunkte setzen und via Reflexion die persönliche Bezugsetzung unterstützen. Erlernt werden persönlichkeitswirksame Aspekte jedoch primär durch Verhalten und Nachahmung von Verhaltensweisen selbst. Das, was wir über Spiegelneuronen wahrnehmen, hat einen starken Effekt auf uns. Denn wir nehmen hierüber auch Prozesse wahr, die es nicht bis in unser Bewusstsein schaffen – und reagieren spontan und intuitiv darauf. Spätestens hier wird klar, wie komplex soziale (erlebnispädagogische) Lernprozesse „gebaut“ sind. Und dieser Gedanke unterstreicht, dass unsere Hauptaufgabe in der Gestaltung der zwischenmenschlichen Ebene liegen muss. Hier können wir im Sinne des „processing at the edge“ an vielen kleinen Stellen pädagogisch intervenieren – und zwar, indem wir unsere eigenen Emotionen und sozialen Anteile gezielt ins Spiel bringen und Einfluss auf die zwischenmenschliche Atmosphäre nehmen.
These Nr. 5: Versprachlichung hilft bei der Integration von Gedanken
Erkenntnisse? – nur Spuren:
Bedauerlicherweise habe ich für diese These nicht ausreichend gesicherte Antworten gefunden. Aber immerhin ein paar Argumente und Hinweise, die eine spannende Spur verheißen.
Zunächst zur Wortwahl: Mit „Versprachlichung“ meine ich nicht nur ausgesprochene Gedanken, sondern auch geistig formulierte, aber nicht laut ausgesprochene Gedanken. Es geht mir rein um den Schritt der potentiellen Verbalisierung – ob schriftlich, mündlich oder konkret erdacht, ist zweitrangig. Und natürlich geht es mir um die Sinnhaftigkeit von Reflexion in erlebnispädagogischen Prozessen. Bzgl. des Effekts von Versprachlichung äußert sich die neurophysiologische Literatur nur sehr begrenzt. Man kann überall nachlesen, was der Versprachlichung selbst voran geht, wie sie funktioniert – aber nicht, welchen neurophysiologischen Effekt sie anschließend auf den Sprechenden selbst hat. Sicher ist aber:
Eine Versprachlichung von Gedanken steht relativ am Ende eines bewussten Verarbeitungsprozesses. Man könnte salopp sagen: Ich kann erst dann etwas in Worte fassen, wenn es in meinem Bewusstsein angekommen ist. Aber wozu sollte ich dann noch über das Erlebte reden? Wieso dazu Tagebuch schreiben? Warum durch eine Frage fokussiert darüber nachdenken? Schließlich ist der Gedanke ja schon da, wo er sein soll: In einem assoziativen Teil meiner Großhirnrinde.
Ein Argument basiert auf der Doppelcodierungstheorie nach Allan Paivio: Diese Theorie besagt, dass Inhalte leichter abgerufen werden können, wenn die entsprechenden Inhalte in zwei verschiedenen Speichersystemen abgelegt werden; so etwa, wenn Erlebnisse aus dem episodischen Gedächtnis in den für formulierbare Fakten zuständigen semantischen Speicher aufgenommen werden. Vielleicht lässt sich das Prinzip mit einem Text vergleichen, den man ausdruckt und abheftet und zusätzlich noch auf einer externen Festplatte speichert: Man nutzt tatsächlich ganz unterschiedliche Formen der Aufbewahrung und beide haben spezifische Vorteile. Oder man stellt sich ein zweites Kletterseil vor: Durch Versprachlichung eines Bildes wird dieses Bild quasi redundant in meinem Kopf gesichert.50 Dies ist eine mögliche Erklärung.
Dann möchte ich einen Zweifel an der Unabhängigkeit von für Sprache zuständigen Hirnarealen und Inhalten des Bewusstseins anmelden. (Dies betrifft nicht die frühkindliche Gehirnentwicklung, bei der Spracherwerb und Denken weitgehend getrennte Prozesse darstellen. Es geht bei der Anmeldung dieses Zweifels um den Entwicklungsstand von jenen Menschen, mit denen wir reflektierend im Kreis sitzen.) Wenn ich über etwas bewusst nachdenke, denke ich es quasi ausschließlich versprachlicht oder in Bildern. Diffuse unter-/vorbewusste Gefühle kann ich häufig (noch) nicht in Worte fassen – aber in dem Maße, wie mir etwas bewusst wird, bekommt es häufig auch eine Sprache. (Übrigens genau in dieser Reihenfolge!51) Ich behaupte hier keine untrennbare Verbindung zwischen Sprache und Denken, denn diese Hypothese gilt nicht nur als streitbar; sie zwingt auch dazu, solch allgemeine Begriffe wie „Sprache“ und „Denken“ eindeutig zu definieren – was die Diskussion schon an der Basis erschwert. Aber auf der Grundlage alltäglicher Beobachtungen kann man immerhin eine starke Kopplung oder zumindest hohe Zeitnähe von Bewusstwerdungsprozessen und der (inneren) Versprachlichung von Gedanken behaupten.