Kitabı oku: «Reine Nervensache», sayfa 5
»Um das herauszufinden, lieber Max, zahlt der Steuerzahler deine üppigen Beamtenbezüge. Den schriftlichen Bericht bekommst du demnächst. Und wann treffen wir uns mal wieder einfach so auf eine Zigarette? Oder sind deine Aufhörversuche letztlich geglückt?«
»Ach, vergiss es«, grunzte Pfeffer ins Telefon. »Irgendwie fehlt mir einfach die Energie. Ist ja angeblich eine reine Kopfsache, aber ich habe den Kopf nie frei genug, um das Rauchen aufzuhören. Tim denkt natürlich, ich hätte es geschafft, weil ich zu Hause nicht mehr rauche. Aber kaum bin ich aus dem Haus … wie ein Junkie!«
»Kenne ich.« Gerda Pettenkofer seufzte. »Das ist dann das Schlimmste, das heimlich Rauchen. Höre meinen Rat, Pfeffer, und drück die Zigarette aus, die du gerade rauchst und schmeiß die Packung weg. Endgültig. Nur so schaffst du es. Auf die harte Tour. Denn es ist wirklich nur im Kopf. Reine Nervensache.«
»Sagte die Kettenraucherin kurz vor dem Lungenkrebs.«
Es gab Kollegen, die hatten ihre Schwierigkeiten mit Max Pfeffers Veranlagung. Er hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, nachdem er sich von der Mutter seiner Kinder getrennt hatte. Sein Vorbild hatte letztlich sogar dazu geführt, dass sich damals zwei weitere Kollegen und fünf Kolleginnen aus unterschiedlichen Dezernaten geoutet hatten. Das nahm den Witzereißern ein wenig den Wind aus den Segeln. Doch ihre Schwierigkeiten hatten einige Kollegen nach wie vor. Für sie war ein Bulle eben ein Bulle und keine Tunte. Ein echter Kerl eben und echte Kerle berühren andere Kerle nur, um sich zu prügeln oder im sportlichen Wettkampf zu messen. So sahen sie es jedenfalls. Zwar konnte sich keiner erinnern, dass sich Pfeffer je auch nur ansatzweise tuntig benommen hätte, und die recht beträchtliche Zahl derer, die sich anfänglich geweigert hatten, nach dem Sport mit Pfeffer zu duschen, war drastisch auf zwei zusammengeschrumpft, doch es gab nach wie vor einen harten Kern von Kollegen, die immer noch ihre abgeschmackten Witze rissen. Meist hinter seinem Rücken. Nur einmal hatte es einen kleinen Eklat gegeben, als ein Kommissar der Drogenfahndung in der Kantine vor versammelter Mannschaft Pfeffer, der damals auch noch den Dienstgrad eines Hauptkommissars im Drogendezernat bekleidete, laut und vernehmlich »Schwanzlutscher« genannt hatte. Pfeffer hatte nach außen hin gelassen reagiert, sein Tablett seelenruhig mit einer Portion Schupfnudeln mit Kraut beladen und »Stimmt. Bin ich. Und was machst du so?« geantwortet. Das hatte ihm von vielen Kollegen, vor allem von den meisten Kolleginnen, kurzen Applaus und dauerhaften Respekt eingebracht.
Auch Paul Freudensprung ließ nichts auf seinen Chef kommen und reagierte kühl, als er dem Leiter einer Sonderkommission der Drogenfahndung die Hand schüttelte. Ausgerechnet Josef Kurt, der Kollege, der einst für den Eklat gesorgt hatte, war nun sein Ansprechpartner.
»Hör zu, Kurt, ich will es kurz machen«, sagte Freudensprung. »Sagt dir der Name Herbert Veicht etwas? Fernsehproduzent, Veicht-Productions.«
»Veicht, Veicht, Veicht.« Der Kollege wiederholte den Namen und tat so, als würde er darüber sinnieren. »Hmmm, wieso seid ihr an dem interessiert? Ach, das war der Tote, richtig? Stand ja in allen Zeitungen. Riesenschlagzeilen! Da hat dein Chef mal wieder alle Chancen sich mit einem spannenden Fall zu profilieren als Leiter der Soko Veicht. Schick!« Es war kein Geheimnis, dass Kollege Josef Kurt neidisch war auf die schnelle Karriere, die Pfeffer gemacht hatte. Kurt wäre liebend gerne Rat geworden, doch seine Leistungen und Fähigkeiten hatten seine Vorgesetzten bislang nicht wirklich überzeugt.
»Stimmt«, antwortete Freudensprung sarkastisch. »Genau das will er, sich profilieren. Jetzt mal im Ernst, Kurt. Ist Veicht irgendwie aufgefallen?«
»Ich glaube, wir haben eine Akte über ihn. Da gab es mal eine Razzia, bei der er festgenommen wurde. Koks, nicht wahr? Sag deinem Chef, dass ich die Akte irgendwann suchen lassen werde.«
»Wie wäre es mit jetzt?«
»Nicht doch, Paul, lass mir ein wenig Freude und deinen Chef zappeln.«
»Ach, Kurt.« Freudensprung setzte sich bequem hin und schlug die Beine übereinander. »Ich habe die Anweisung, im Zweifelsfall nicht ohne Akten oder so zurück zu kommen. Wir können es jetzt wie Kollegen lösen oder ich werde mich mal mit dem Oberstaatsanwalt unterhalten.«
»Wow. Du hörst dich schon an wie dein Chef. Hat er dich jetzt auch zu einem Hinterlader gemacht, oder was?« Kollege Kurt schnaubte verächtlich. »Ach nein, was man so hört, bist du ja mit einer liebreizenden ausländischen Mitbürgerin zusammen.« Freudensprung reagierte nicht. Kurt grunzte. »Aische Demir, was? Ist doch die Schwester von diesem türkischen Filmstar Levent Demir, oder? Und wie ist die so?« Er machte eine eindeutige Handbewegung. Freudensprung starrte ihn an, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. »Dann kennst du sicher den großen Star Levent Demir persönlich, oder? Soll jetzt ja bald Schluss sein mit der Serie, in der er den Bullen spielt. Mörderischer Einsatz. Mann, schon der Titel ist scheiße. Dann ist es vorbei mit dem türkischen Star und er kann wieder in Anatolien Ziegen hüten.«
»Richtig, Mörderischer Einsatz wird eingestellt«, sagte Freudensprung und starrte sein Gegenüber weiterhin kalt an. Normalerweise genoss er es, wenn er nach der berühmten Verwandtschaft seiner Lebensgefährtin befragt wurde und normalerweise erzählte er gerne kleine Anekdötchen über seinen Schwager in spe Levent, den er wirklich gerne mochte, doch bei Josef Kurt schien ihm fast jedes weitere Wort Verschwendung. »Aber falls es dich interessiert, Levent Demir wird der erste türkischstämmige Tatort-Kommissar. Wenn du mehr wissen willst, solltest du seinem Fanclub beitreten. Ich bin jedenfalls nicht mit ihm, sondern mit seiner Schwester zusammen.«
Kurt lachte blöde und griff zum Telefonhörer. »Cool, Mann. Lass dir den Blick patentieren«, sagte er übertrieben kumpelhaft, während er eine Nummer wählte. In den Apparat rief er nur: »Die Akte Veicht. Herbert Veicht. Was? Okay, bring die auch gleich mit.«
Während sie warteten, schwiegen sich die beiden Männer an. Als eine Kollegin schließlich die Akten brachte, war Freudensprung überrascht, dass nicht nur für Herbert Veicht, sondern auch für Bambi Veicht eine Aktennummer vergeben wurde.
»Gut, wo es gerade so lauschig ist, Kurt«, sagte Paul Freudensprung. »Gibt es bei euch auch was über einen Dieter Koziol? Oder Jonas Wagenbrenner? Nein? Auch gut, hätte ja sein können.« Er stand auf und verabschiedete sich. »Ich bringe dir die Akten so schnell als möglich wieder zurück.«
»Ach übrigens«, rief ihm der Drogenfahnder hinterher. »Wir haben einen V-Mann im Umfeld von Bambi Veicht. Wärt ihr Trampel so lieb, den ausnahmsweise mal nicht zu enttarnen?!«
»Haben wir das je? Ist Bambi so eine große Nummer?«
»Wir wissen es noch nicht. Könnte aber sein. Jedenfalls ein scharfer Zahn, die will ich selbst verhören, wenn es so weit ist. Und richte deinem Chef aus, dass ich nicht vergessen habe, dass sein Betthäschen auch bei uns aktenkundig ist.«
»Das hat er gesagt?«, schmunzelte Pfeffer, als ihm Freudensprung die Nachricht überbracht hatte. »Dein Freund scheint die Akten nicht gründlich zu lesen, sonst wüsste er, wer damals vor ziemlich genau acht Jahren mein Betthäschen Tim de Fries verhaftet hat wegen fünf Gramm Haschisch.«
Freudensprung zog fragend die Augenbrauen hoch und Annabella sagte: »Jetzt machs nicht so spannend, Chef.«
»Ich.«
»Ist nicht wahr«, rief Freudensprung. »Ich dachte immer, ihr habt euch auf einem Konzert von Laurie Anderson kennengelernt.«
»Stimmt auch. Ich war dort als Zivilfahnder. Ich habe ihn nach dem Konzert verhaftet, als er mir einen Zug an seinem Joint angeboten hat. Na, ein Kollege hat uns beobachtet, da musste ich handeln. Pflicht ist Pflicht und Schnaps ist Schnaps. Keine Stunde später war er natürlich wieder draußen, die Anklage wurde wegen Geringfügigkeit fallen gelassen und wir sind erst mal Essen gegangen. Mehr braucht ihr darüber nicht wissen.«
»Irgendwie total romantisch«, kommentierte Annabella Scholz mit glänzenden Augen.
08 »Kokain?!« Dieter Koziols Kinn wackelte wie Japan bei einem mittleren Erdbeben. »Wie kommen Sie darauf?« Schon kramte die Hand in der Hosentasche nach dem Taschentuch, mit dem er sich wiederholt über die Stirn strich. Der TV-Produzent sprang von seinem Schreibtischsessel auf und tigerte durch das Büro.
»Die Spuren sind eindeutig«, sagte Max Pfeffer. »Ihr Freund und Kompagnon war regelmäßiger Konsument.«
»Sagen Sie!«
»Wollen Sie mir weismachen, dass Sie nichts davon wussten? Herr Koziol, ich bitte Sie. Sie zeichnen ein Bild von dickster Freundschaft und dann haben Sie sich nie über das Thema Drogen unterhalten?«
Koziol ließ sich schwer auf einen Sessel der kleinen Sitzgruppe fallen, die neben dem Fenster stand. »Herbert Veicht«, begann er mit gepresster Stimme, »war ein genialer Mann, Herr Pfeffer. Einer mit dem richtigen Riecher und ein guter Freund. Er war das kreative Hirn unserer Firma, ich bin nur ein phantasieloser Buchhalter. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie es nun weitergehen soll. Jetzt muss ich irgendeinen dahergelaufenen Creative-Director anstellen. Herbert und ich – wir haben gemeinsam viel durchgemacht in unserer Jugend. Manchmal glaube ich – nein, ich glaube es nicht nur, ich bin mir sicher, dass ich ohne seine Freundschaft heute nicht mehr hier wäre.«
»Weil er Sie zu seinem Partner gemacht hat?«
»Nein, ich meine nicht nur hier. Ich meine am Leben. Ohne ihn hätte ich wahrscheinlich nicht mal meinen achtzehnten Geburtstag erlebt. Das meine ich damit. Und Sie kommen mir mit diesen lächerlichen Drogengeschichten!«
»Diese lächerlichen Drogengeschichten könnten vielleicht der Schlüssel zu dem Mord an ihrem Freund und Lebensretter sein, Herr Koziol. Denken Sie daran. Womöglich steckte er in etwas drin. Die Russenmafia zögert nicht lange.«
»Sie haben Recht. Gut, ich sage Ihnen, was ich darüber weiß. Viel ist es nicht. Es hat mich nie interessiert.« Er beugte sich vor und presste die Handflächen aneinander. »Ja, Herbert hat gekokst. Aber nicht so häufig. Woher er seinen Stoff bezogen hat, ist mir nicht bekannt. Aber angeblich ist das ja heutzutage auf jedem Schulhof erhältlich.«
»Und Bambi?«
»Die Bothox-Lady?« Koziol lachte verächtlich. »Die zieht sich sicherlich alles rein, was es gibt. Wissen Sie, als Herbert sie kennenlernte, war sie noch ein ganz hübsches Ding. Eines von diesen willigen Betthäschen, das sich die Nächte in angesagten Clubs um die Ohren schlägt, um sich einen reichen Mann zu krallen. Nun, das hat sie ja geschafft. Das mit den Operationen begann genau ein Jahr nach der Hochzeit. Da bildete sie sich ein, eine kleine Lachfalte zwischen den Augenbrauen würde sie völlig entstellen. Wissen Sie, wie alt Bambi ist?«
Pfeffer nickte, denn es stand in den Akten.
»Zweiunddreißig!«, rief Koziol. »Zwanzig Jahre jünger als Herbert. Und schon kann ihr Gesicht nie wieder operiert werden, weil die Haut zu dünn geworden ist. Das Michael-Jackson-Syndrom. Wir haben übrigens eine sehr erfolgreiche Dokusoap aus ihren Operationen gemacht. Bambi wollte bei jeder Schnippelei die Kamera dabei haben. So hat Herbert wenigstens die Unkosten für die OPs wieder reinbekommen. Mein Gott, Herbert war anfangs so in sie verliebt. Nun, das ist lange her.«
»Könnte Ihrer Meinung nach Bambi Veicht im großen Stil dealen?«
»Die? Nie im Leben. Soll ich Ihnen verraten, was sie mir gestern allen Ernstes vorgeschlagen hat? Sie kennen sicherlich die Dokusoaps, in denen Polizeibeamte bei ihren Einsätzen gefilmt werden. Garantierte Quotenbringer.« Pfeffer nickte, ihm schwante Übles. »Bambi hält es jedenfalls für eine tolle Idee, wenn unsere Produktionsfirma eine Dokumentation über die Aufklärung im Mordfall Herbert Veicht dreht. Sie will Ihnen und Ihren Leuten ein Kamerateam auf den Hals hetzen. Sie möchte in der Pathologie filmen und bei Verhören dabei sein.«
»Jetzt scherzen Sie aber, Herr Koziol.« Pfeffer schmunzelte, weil ihm die Idee so abwegig vorkam.
»Sehe ich so aus? Sie wollte sich gleich eine Genehmigung vom Polizeipräsidium holen, doch zum einen wäre ich strikt gegen so eine Aktion, das können Sie mir glauben, und zum Glück haben sich auch unsere Leute geweigert, bei so etwas überhaupt mitzumachen. Es gibt doch noch so etwas wie Pietät in unserem Gewerbe.«
»Herr Koziol, sagt Ihnen die Zahl 45 etwas? Oder wissen Sie, ob die Zahl für Herbert Veicht vielleicht irgendwie von Bedeutung war?«
»Fünfundvierzig? Nein, nicht dass ich wüsste. Er war weder Jahrgang 45 noch war es seine Glückszahl.« Koziol rief seine Assistentin herein und wies sie an, zwei Espressi zu bringen. »Sie dürfen gerne rauchen«, sagte er dann, als sie den Kaffee tranken. Koziol schloss verträumt die Augen, während er den Espresso herunterstürzte, dann zündete er sich eine lange Cohiba an. »Haben Sie jemals gekokst, Herr Pfeffer?«, fragte er unvermittelt und fixierte sein Gegenüber mit festem Blick.
»Ja«, gab Pfeffer unumwunden zu und hielt dem Blick stand. »Genau ein einziges mal, mindestens fünfzehn Jahre her.«
Koziol nickte beifällig. »Sehen Sie? So wie ich. Ich habe es einmal probiert. Am 23. September 1978. Einmal und nie wieder. Denn es war das tollste Gefühl, das ich jemals in meinem Leben hatte. Ich fühlte mich einfach gigantisch«, sagte Koziol mit weit ausholender Geste und geblähten Nasenlöchern.
Pfeffer nickte, genauso war es ihm gegangen.
»Danach wusste ich, dass ich entweder nie wieder diese Droge auch nur in meine Nähe lassen durfte, oder alternativ dazu völlig süchtig nach ihr geworden wäre.«
Pfeffer nickte erneut, genau das hatte ihn damals bewogen, es bei dem einen Versuch zu belassen.
»Dass Herbert sich anders entschieden hat, ist tragisch, aber nicht zu ändern. Ich behalten ihn jedenfalls als den Menschen in Erinnerung, der ein großes Herz hatte. Wussten Sie, dass er sich sehr als Mäzen für verschiedene kulturelle und wissenschaftliche Einrichtungen engagiert hat? Die Pinakothek der Moderne wäre sicher ohne ihn nicht gebaut worden. Und als er vor drei Jahren seine Kunstsammlung einem Museum stiften wollte, hat es ein richtiges Hauen und Stechen der besten Häuser gegeben, bis er seine Sammlung dem Lenbachhaus überlassen hat. Herbert hat sogar einen Lehrstuhl im Max-Planck-Institut finanziert oder zumindest für dessen Erhalt gesorgt. Und all das hat er im Stillen getan. Hinter den Kulissen. Es war nicht sein Stil, sein Engagement an die große Glocke zu hängen. Mochten ihn die anderen für einen kaltherzigen, koksenden Fernsehmogul halten, der billige Nutten ehelichte. Das war nur die kleine Glitzerfassade seines Wesens. Für die spießige Welt seines Bruders, dieses Brillenmagnaten, hatte er nur ein Lächeln übrig. Aber sein Bruder musste ja auch nicht mitmachen, was Herbert – was wir mitmachen mussten. Soll ich Ihnen mal ein paar kleine Histörchen aus unserer Jugend berichten, Herr Kriminalrat?« Koziol zog lächelnd die Augenbrauen hoch, doch es lag keinerlei Humor in seiner Mine.
»Ich bitte darum.«
»Sagt Ihnen Schladern etwas? Ich meine nicht den Ort im Rheinland sondern Kloster Schladern.«
Kloster Schladern sagte Pfeffer natürlich etwas – die prächtige Klosteranlage befand sich Richtung Wasserburg östlich von München, bekannt für seine Prunkbauten, seine Brauerei und das klösterliche Internat. »In dieses Internat«, so begann Dieter Koziol seine Ausführungen, »steckten einst die entnervten Eltern Veicht den kleinen Herbert.« Denn der Junge war das, was man heute hyperaktiv nennen und mit speziellen Therapien und pädagogischen Maßnahmen in seiner Entwicklung fördern würde. Damals gab es auch spezielle Maßnahmen für solche Kinder, die man Zappelphilipp nannte: Prügel, strenge Zucht und Ordnung, um die Flausen aus dem Kopf zu kriegen. Im Internat, das von Benediktinermönchen geleitet wurde, lernten sich die damals zwölfjährigen Burschen Herbert Veicht und Dieter Koziol kennen. Dieter, das dickliche Kind reicher Bauern, war kein Zappelphilipp. Seine bigotten Eltern hatten ihn auf die Klosterschule geschickt, weil einer aus der umfangreichen Familie gefälligst eine kirchliche Karriere anstreben und mindestens Pfarrer, am besten aber Bischof werden sollte. In dem großen Schlafsaal standen die Betten der beiden Jungen nebeneinander. So freundeten sie sich an und waren füreinander da, wenn es nötig war.
Herbert Veicht dachte nicht daran, sich dem strengen Regiment der Klosterbrüder bedingungslos unterzuordnen. Wenn er im Unterricht störte oder herumzappelte, wurde er am Stuhl festgebunden, die Schnüre schnitten in sein Fleisch, hinterließen Striemen und Blutergüsse. Stundenlanges auf Erbsen knien in der Klassenzimmerecke gehörte ebenfalls zum Alltag. Das waren die harmlosen Strafen. Wenn er besonders auffällig war, kam er für einen halben Tag in den Karzer. Nach dem dritten Mal Karzer wurde die Strafe verschärft und er wurde für einen ganzen Tag nackt in den Dunkelkarzer gesperrt – ein ein Quadratmeter großes eiskaltes Kellerverlies, in dem man nur stehen und sich nicht einmal anlehnen konnte, weil die Wände so kalt waren. Natürlich gaben irgendwann die Beine nach und wenn die Strafzeit abgelaufen war, musste jeweils ein Klassenkamerad die blaugefrorenen Elendshaufen, die sich mit ihren Exkrementen besudelt hatten, heiß abduschen und mit einer Wurzelbürste schrubben. Selbstverständlich war diese Form der Bestrafung auch damals bereits verboten, doch welche Eltern glaubte schon einem nervenden Querulanten und frechen Zappelphilipp, wenn doch das Wort der heiligen Brüder dagegen stand oder ewiges Seelenheil als Lohn für die Qualen winkte. Herbert änderte immerhin sein Verhalten so, dass er nicht mehr in den Dunkelkarzer musste. Doch oft genug musste er die Hände mit den Innenflächen nach außen ausstrecken und die Schläge mit dem Rohrstock erdulden. Oder sich den Mund dreimal hintereinander mit Seifenlauge auswaschen lassen, weil er im Unterricht unumstößliche kirchliche Doktrinen wie zum Beispiel die Jungfräulichkeit Mariens angezweifelt hatte. Die Zeit, die der Knabe alleine oder mit anderen »straffällig« gewordenen Schülern auf Knien in der Kirche Rosenkranz beten musste, ließ sich beim besten Willen nicht zählen.
»Wissen Sie, was Spießrutenlaufen ist?«, fragte Koziol den Kriminalrat. »Der Begriff kommt ursprünglich aus der Armeesprache. Bei uns gab es auch so etwas.« Im Schlafsaal standen zwanzig Betten, zehn an der dem Fenster zugewandten Seite, zehn an der fensterlosen Wand gegenüber. Der Durchgang zwischen den Bettreihen war gerade so breit, dass zwei Personen nebeneinander gehen konnten. Zum Spießrutenlaufen mussten sich die Knaben in Reih und Glied vor ihren Betten aufstellen, jeder bekam eine Weidenrute in die Hand. Zehn Jungs auf der einen Seite, neun gegenüber. Der Delinquent musste sich ausziehen und nackt zwischen den Klassenkameraden, die mit ihren Ruten zuschlugen, hindurchlaufen. In die Versuchung, den Delinquenten zu schonen, indem man schwach zuschlug, wurde den Knaben schnell ausgetrieben, denn wenn der aufsichthabende Mönch fand, einer schlug zu lax oder nicht oft genug, musste derjenige selbst anschließend spießrutenlaufen.
»Herbert hat es zweimal erwischt. Er lag anschließend jedes Mal ein paar Tage auf der Krankenstation. Natürlich hat er es irgendwann aufgegeben, sich bei seinen Eltern zu beschweren. Das brachte nichts. Denn all diese Erziehungsmaßnahmen hatten ja nur den einen Sinn: aus ihm einen gottgefälligen Menschen machen.« Koziol nuckelte an seiner Zigarre. »Doch diesem Gott, der ihn so strafte, wollte Herbert nicht gefallen. Wozu auch. Einen Gott, der Hass und brutale Gewalt braucht, der deinen Geist brechen will, damit du ihm gefällst, wollte Herbert nicht. Ich tat mich da sehr viel schwerer. Ich versuchte gottgefällig zu sein. In deren Sinn gottgefällig. Eingeschüchtert und dumm gehalten. Bedroht von einem absurden Vater-Gott, der sich der Lehre nach völlig unlogisch und gemeingefährlich verhielt. Der dich heute lieben und morgen foltern konnte. Der einerseits einzig und gleichzeitig dreieinig war. Der zwar allmächtig war, aber gleichzeitig so schwach, dass er einen Teufel zulassen musste. Der alles wusste, und dem man dann dennoch beichten sollte. Der alles sah, aber nur, wenn wir etwas taten. Das was die Lehrer machten, sah er offenbar nicht. Mehr als einmal bin ich schier an meinen Zweifeln zerbrochen, ich stand schon mit dem Strick in der Hand da und Herbert hat mich gerettet. Dafür bin ich ihm bis zum heutigen Tag dankbar. Herbert war nicht dumm. Er hat sich letztlich angepasst, so weit es ihm möglich war. Wie bei vielen Hyperaktiven legte sich bei ihm das Zappelphilipp-Syndrom, als er in die Pubertät kam. Er wurde ruhig. Seine schulischen Leitungen waren passabel. Besser als meine. Ich folgte seinem Beispiel und verhielt mich wie gewünscht. Nicht, dass ich je so auffällig gewesen wäre wie er oder auch nur annähernd so oft bestraft worden wäre. Ich habe sogar nach dem Abitur einige Semester Theologie studiert, weil der Druck meiner Familie so groß war. Herbert hingegen ist gleich in die Medienbranche gewechselt. Hat als Aufnahmeleiter beim Bayerischen Fernsehen gearbeitet, dann als Produktionsleiter und Redakteur beim ZDF-Studio in Unterföhring. Und vor zwanzig Jahren, als das Privatfernsehen Deutschland eroberte, hat seine Stunde geschlagen. Er hat sich mit einer Produktionsfirma selbstständig gemacht und mich als Partner in sein Boot geholt.«
»Und er hat sich vermutlich einen Spaß daraus gemacht, die Kirche mit gar nicht gottgefälligen Formaten zu triezen, wo es nur ging«, sagte Max Pfeffer.
»Darauf, werter Herr Kriminalrat, und verzeihen Sie nun meine rüde Ausdrucksform, darauf können Sie ruhig einen lassen!«
»Sie sind sicher damit einverstanden, dass ich mich beherrsche.« Pfeffer lachte und der Dicke schwabbelte beim Kichern.
»Wenn Sie mir nicht glauben sollten, oder mehr über Schladern und unsere Schulzeit erfahren wollen, dann wenden Sie sich an den derzeitigen Abt von Schladern, Ludwig Kästner. Ludwig war nämlich ein Klassenkamerad von uns.«
»Danke für den Tipp, aber ich denke, dass mir Ihre Schilderung reicht. Wir haben uns übrigens mit den Drohbriefen beschäftigt«, fuhr Pfeffer fort und zog die schriftliche Zusammenfassung hervor, die ihm Annabella Scholz gemacht hatte. Dabei fiel ein gelber Notizzettel aus seiner Tasche. Pfeffer bückte sich verwundert und hob den Zettel auf. »StW wg. Beförd.« stand darauf. Das hatte er fast völlig vergessen! Er musste in den nächsten Tagen mit seiner Chefin, der Leitenden Direktorin Jutta Staubwasser, über die möglichen Beförderungen seiner Leute sprechen. Die Direktorin hatte schon zweimal nachgehakt, weil sie Planstellen zu besetzen hatte, und Pfeffer hatte sie jedes Mal vertröstet. Spätestens kommende Woche sollte er sich mit ihr zusammensetzen und alles besprechen. Eigentlich standen momentan nur einige kleine Routinebeförderungen von Kollegen an, die einfach alters- oder dienstzeitbegründet waren. Einzig mit Freudensprung verhielt es sich anders. Pfeffer würde ihn gerne zum Ersten Leitenden Hauptkommissar machen mit Aussicht auf mehr, weil er sich einen guten Stellvertreter heranziehen wollte. Er müsste seiner Chefin nur noch eine entsprechende Planstelle abschwatzen und vor allem endlich mal mit Freudensprung darüber reden.
Pfeffer steckte den gelben Zettel in seine Jackettasche und widmete sich wieder der Zusammenfassung über die Drohbriefe. Meist ließen sich die Schreiber gar nicht über Formate aus, die Veicht-Productions produzierte. Die Schreiber verwechselten munter die unterschiedlichen Serien, in denen Frauen, Kinder oder Männer für eine Woche getauscht wurden; sie brachten die Formate durcheinander, in denen völlig unbekannte Menschen, die dennoch als prominent bezeichnet wurden, tagelang zum Überlebenskampf in Dschungelcamps oder auf Almen oder Burgen eingesperrt waren, und sie ließen sich über jede Art von Heimwerker-Dokusoap aus.
Koziol zuckte mit den Schultern. »Sicher, für die Zuschauer sieht eins wie das andere aus. Und wenn wir ehrlich sind, ist eins wie das andere.«
»Es war keiner dabei, der explizit damit drohte, Ihnen oder Ihrem Kompagnon den Kopf abzuschlagen.«
»Nein, das gab es nie. Wenn man uns allerdings auch alles mögliche andere abschneiden wollte.«
»Uns ist bei der Korrespondenz mit kirchlichen Stellen aufgefallen, dass sie vor zwei Jahren plötzlich abgebrochen ist. Zumindest der Dialog mit der katholischen Kirche.«
»Gut beobachtet, Herr Kriminalrat. Der Dialog mit der evangelischen Kirche läuft seit jeher stärker auf Gesprächsebene. Da gab es auch nie so starke Reibereien. Bei den Katholen sah es anders aus. Wir hatten ständig mit Beschwerden zu tun, gelegentlich echauffierte sich sogar der Vorsitzende der Katholischen Bischofskonferenz persönlich. Meist blieb es aber bei kleingeistigem Gezänk mit dem Erzbistum von München und Freising. Ab und an gab es einen sehr scharf formulierten, aber natürlich rechtlich einwandfreien Brief vom Erzbistum. Mehr nicht. Vor zwei Jahren dann hatten wir einen überraschenden Quotenhit mit Speed Sperm. Es lief nur eine Folge und die war der Aufreger schlechthin.«
Pfeffer erinnerte sich dunkel. In der Sendung ging es um die Zeugungsfähigkeit verschiedener Männer. Wer die schnellsten Spermien absonderte, konnte einen hohen Geldpreis gewinnen.
»Damals ist über uns eine Woge der Empörung zusammengeschlagen. Was haben die sich nicht alle aufgeregt! Dabei war das eigentlich nur ein Gag von uns. Ein totaler Fake und alle sind drauf eingestiegen. Und seit damals hat sich auch der Vatikan bei uns gemeldet, in Form von Kardinal Ansgar Radlkofer. Ein Hardliner der unangenehmsten Sorte, mit dem ich nichts zu tun haben möchte. Herbert hat sich von da an einen Spaß daraus gemacht, mit dem Kardinal erbitterte Telefongespräche zum Thema Ethik und Fernsehen zu führen. Seitdem gab es keine Briefe mehr.«
»Wir haben das hier gefunden.« Pfeffer zog den einen Brief heraus, den Annabella für wichtig gehalten hatte. Er reichte ihn dem Dicken. Auf dem weißen Blatt stand nur: »45 ist schuldig.«
»Das sagt mir leider gar nichts.« Dieter Koziol hob entschuldigend die Hände. »Schon wieder diese Fünfundvierzig. Seine Schuhgröße war es jedenfalls nicht und mit dem Kriegsende hatte er auch nichts zu tun … oder …« Er legte sie Stirn kraus, starrte auf die Spitze seiner Zigarre und überlegte laut. »Oder doch? Nein, ich bin mir ganz sicher. Für einen kurzen Moment dachte ich, dass … halt, ach Gott, man wird alt. Gut, ich dachte eben, dass Herberts Bett im Internat Nummer 45 war. Wir hatten alle eine Nummer, die auf das Fußende des Betts geschrieben war. Doch ich bin mir fast sicher, dass ich mich da täusche. Ich werde das aber für Sie herausfinden.«