Kitabı oku: «Eisenhagel - Ein Steiermark-Krimi»

Yazı tipi:

Eisenhagel

Krampuslauf

Ein Steiermark-Krimi

von Martin G. Wanko



www.editionkeiper.at

© edition keiper, Graz 2020

1. Auflage Oktober 2020

Cover, Layout und Satz: textzentrum graz

Coverfoto: Adobe Stock 305079845

Autorenfoto: Florian Lierzer

eISBN 9783903322233


Inhalt

Prolog

1. Teil

2. Teil

Speziellen Dank an

Über den Autor

Hey! Ho! Let’s go!

Ramones

Prolog

Jenny hat Angst.

Ihr Leben ist in Bewegung.

Am 5.12. kehrt das Böse zurück.

Das war schon immer so.

Nicht nur in Eisenhagel.

Aber dort besonders.

Dann ist der Krampus da.

1. Teil

Jenny ist Krankenschwester auf der Bettenstation. Blutdruck messen, Spritzen geben, Medikamente nachfüllen, Betten überziehen, den Patienten gut zureden, ein Lächeln schenken. Den Ärzten zuhören, nicken, wieder lächeln, das wollen sie so. Gelegentlich nachfragen, lieber einmal mehr als zu wenig. Was muss verabreicht werden? Irrtümer bringen viele Menschen ins Grab. Ihr Herz schenkt sie den Menschen, die gerade angeliefert werden. Die haben das Schlimmste hinter sich. Denken sie zumindest. Und die Angehörigen, die Freunde der Patienten, die hassen das Spital. Weil sie selber einmal dran sind.

Dennoch arbeitet sie gerne hier. Es ist eine abgegrenzte Welt mit Antworten. Vor ihr sind die Schränke mit den Arzneien und Verbänden. Ein jeder bekommt, was er benötigt.

Sie stellt eine Kanüle nach, macht Eintragungen und lächelt den Patienten an. Sein Gesicht hat wieder Farbe bekommen. Kleine Äpfel leuchten von seinen Wangen. Es ist Herr Knies, Zimmer 131. Unter dem Bett steht noch seine Nierenschale. Vor einigen Tagen brauchte er sie noch zum Pinkeln. Irgendwie war ihm das schrecklich peinlich, aber je natürlicher man als Krankenschwester damit umgeht, desto besser kommt der Patient damit zurecht. Jennifer lässt auch keinen Patienten kurz vor Dienstschluss mit angekackter Hose im Bett liegen. Das gehört sich nicht. Sie will sich keinen Spielraum lassen, auch nicht nach 48 Stunden Dienst. Jenny schaut auf die Uhr. In einer halben Stunde ist Mittagspause. Mal schauen, ob sie die nehmen kann. Sie schaut noch kurz zu Herrn Knies und zwinkert ihm zu. Herr Knies schafft das!

Oft wird sie gefragt, ob der Druck ihr nichts ausmacht. Sie hat ein eigenes Rezept gefunden, wie sie mit dem Stress hier umgeht. Sie denkt an ihre drei Freunde, die sind, seit ihre Großeltern und Eltern verstorben sind, ihr Rückgrat, ihre Familie, wenn man so will. Jenny kennt Kevin, Daniel und Annika aus der Schule. Kevin ist ihr Freund. Sie sind, seit sie denken können, die vier Unzertrennlichen. Sie machen alles zusammen, fahren sogar zu viert in den Urlaub. Der eine hilft dem anderen. Hat einer von ihnen Schmerzen, Jenny kann sie lindern. Suchen sie für eine Party die richtige Location, Kevin findet sie. Nähert sich die nächste Steuererklärung, Daniel berechnet sie. Brauchen sie jemanden zum Zuhören, Annika hat immer ein offenes Ohr.

Noch haben sie die passende Wohnung nicht gefunden, aber im Frühling, wenn es wieder wärmer wird, wird sie mit Kevin zusammenziehen. Sie gibt Kevin die nötige Struktur und er gibt ihr Sicherheit. Solange Kevin an ihrer Seite ist, wird ihr nichts passieren. Sie weiß selber nicht, wie sie zu solchen Gedanken kommt, aber sie sind nun mal da.

Sie muss lachen. Sie liebt ihn. Ja, natürlich. Obgleich sie nach den Jahren nicht mehr sagen kann, was sie an ihm liebt. Vielleicht ist es die Gewohnheit, die Stabilität, die die Beziehung mit sich bringt. Das ist wichtig. Kevin war da, als es ihr schlecht ging, als sie mit Gehirnerschütterung im Spital lag. Tage, von denen sie nichts mehr weiß – da war der Unfall und sie war weggetreten. Sendepause. Das ist jetzt schon zehn Jahre her, aber dennoch. Kevin hat sie aus dem tiefen Tal der Abwesenheit herausgeholt. Da ist sie sich ganz sicher.

Gleichzeitig mit ihnen gingen Annika und Daniel ebenfalls eine Beziehung ein. Jenny hatte nie daran geglaubt, dass die Beziehung ihrer Freunde so lange halten würde. Sie hatte immer das Gefühl, dass Annika auf ihre Beziehung eifersüchtig war und deshalb eine mit Daniel einging. Vielleicht war es auch so.

Über ihren Beziehungen steht ihre Vierer-Freundschaft. Ihre Freundschaft ist für sie wie ein Schutzschild. So sind sie unverwundbar. Es ist eine ganz eigene Freundschaft, die sie in den Jahren entwickelt haben. Ihre drei Freunde sind für sie nicht nur wie eine Familie, sie sind die Familie. Sie hat sonst niemanden. Das weiß sie. Darüber ist sie sich im Klaren. Drei Freunde hat sie. Zusammen sind sie vier Freude. Vier Freunde, denkt sie sich, vier Freunde sind genug und fünf Freunde gibt es nur im Buch. Sie liebt diesen Satz. Sie sagt ihn sich öfters vor. Er ist für sie wie ein Gebet. Und an Gebete muss man glauben.

Oder auch nicht!

Heute ist Jenny auf der Unfallstation, Notaufnahme, eingeteilt. Plötzlich Alarm, ein Unfall. Der alte Blumenhändler ist angefahren worden. Er starrt gegen die Zimmerdecke. Koma. Szenen im OP. Jenny ist Teil vom Team. Er schlägt die Augen auf. »Eine rote Blume. Ich habe sie extra bestellen müssen, einfliegen!«, erhebt der Blumenhändler plötzlich aus dem Nichts seine Stimme. Jenny versucht ihn wach zu halten und ihn in ein Gespräch zu verwickeln: »Für wen war denn die Blume bestimmt?« Bevor er antworten kann, wirkt die Narkose. Seine Lippen bewegen sich noch. Jenny versucht das Wort nachzusprechen. Es kommt jedoch nichts dabei raus.

Jenny geht mit den Wertgegenständen des Blumenhändlers zum vorgesehenen Spind. Aus seiner Manteltasche rutscht eine altmodische Taschenuhr. Automatisch tastet sie die Rückseite ab. Sie hat eine Gravur eingebrannt. Jenny wird nervös. Sie geht ins Freie. Atmet tief Luft ein. Sie will sich auf etwas konzentrieren, sie zittert, nichts passiert, ihre Augen werden in der Kälte glasig. Ihre Gedanken gefrieren zu Eis. Stillstand. Sie steckt die Uhr ein. Die gehört jetzt zu ihr. Sie ist Teil eines Mosaiks, von dem sie nicht mehr weiß, als dass die ganzen Splitter einmal eine geordnete Einheit in ihren Gedanken ergeben sollten. Die Uhr hat sie nicht gestohlen. Diebe sind andere, die, die ihr die Zeit nahmen, an die sie sich nicht mehr erinnern kann. Einige Wochen im Spital und von der Zeit vor dem Umfall fehlt ihr auch vieles. Das alles ist jetzt zehn Jahre her. Und die Zahl 10 ist die Zahl der Veränderungen und der Wendepunkte im Leben. Das Spiel mit den Zahlen, die Formeln und Einsichten, die darin enthalten sind, das entwickelt eine eigene Dynamik. Das hat sie sich ebenfalls in der Zeit im Spital angewöhnt. Du brauchst etwas, damit du nicht verrückt wirst, hat sie sich immer wieder gesagt. An irgendetwas musst du ja glauben, sonst wirst du irre. Das ist ihr kleines Geheimnis. Sie will sich ja nicht lächerlich machen. Aber auf die Zehn hat sie lange gewartet. UND ES KLOPFT AN. WAS IST LOS, VERDAMMT. Was anklopft, soll Wahrheit werden.

Ja wirklich? Willst du das wirklich?

Jenny geht zurück ins Spital. Der Blumenhändler liegt auf 159. So ganz singulär gefallen ihr die Zahlen, aber in der Summenformel kommt sie auf 15, das gefällt ihr nicht. 15 steht für Macht, Dominanz, Ausstrahlung, Manipulation, Versuchung und Gier. Sie wird ihr Bestes tun, die Summenzahl kann man zurückweisen. Die Tür 159 geht auf. Eine Krankenschwester schiebt das Bett auf den Gang, Der Blumenhändler ist mit einem weißen Tuch bedeckt. Jennys Schritte werden schneller. Sie steht vor einem jungen Arzt. »Herzstillstand«, meint er und tippt etwas in den Computer. Manchmal reicht ein Wort und ein Leben hat sich erledigt. Vor allem, wenn keiner nachfragt. In solchen Momenten ist eine nüchterne Sprache sehr wichtig, sie ist wie eine Mauer, hinter der man seine Gefühle verstecken kann. Dennoch schnürt es Jenny den Hals zu. Der Blumenhändler ist tot, die Uhr ist ihr geblieben. Die Uhr! Es hat den Anschein, als richten sich die Zeiger in die Zukunft, aber das Ticken weist in die Vergangenheit. Sie spürt sie ticken. Sieben Mal. Das ist eine gute Zahl. Dante beschrieb sieben Ebenen des Fegefeuers. Nach dem siebenten war man erlöst. Aber zuerst musst du durch das Feuer.

Tick, tick, tick …

Kevin kellnert in einem Café. Er ist freundlich, zuvorkommend. Ein Witz an die alten Damen gerichtet, ein Zwinkern gehört den rotwangigen eisteeschlürfenden Schülerinnen, ein Abklatschen mit den Kumpels an der Bar. Er rollt ein Fass Bier aus dem Lager, hebt es an, dabei streicht er seinen blonden Scheitel zurück, pfeift »WoW« von Dame. Seine leichte Fehlstellung der Vorderzähne macht ihn gerade bei Mädchen besonders sympathisch. Spielend leicht gelingt alles, jede Bewegung wird von bestimmten Muskeln getragen, er spürt das und genießt es auch. Kevin ist mit seinem Körper auf Du und Du, er ist jedoch kein Muskelmann, sondern einfach durchtrainiert. Früher war er ein Surfer, ohne jemals kalifornischen Boden betreten zu haben. Hier in Eisenhagel braucht man keinen Strand dazu. Es reicht, sich mit einem Seil an die Brücke zu hängen, sich mit dem Brett gegen die Wasserströme zu stemmen und den Steinen auszuweichen, die wie Haifischflossen aus dem Flussbeet ragen. Im Idealfall surft man auf stehenden Wellen. Früher machte er das unter dem Beifall Schaulustiger, heute macht er es alleine, oder im Beisein seiner drei Freunde, Jenny, Annika und Daniel. Scheißegal, früher war er ein Surfing Boy, heute ist er der Kapitän der »Eisenhagel Cracks«, dem örtlichen Eishockey-Verein. Ein Eishackler also. So nebenbei versucht er sein Leben in den Griff zu bekommen. Sein Mädchen, Jenny, will, dass er zum Rauchen aufhört, seit 48 Stunden hält er sich daran, aber er hat ihr gesagt, dass das jetzt einmal nur eine Phase ist, ein Testlauf. Er will sich nichts aufzwingen lassen, schon gar nicht, wenn es sein Leben betrifft.

Kevin geht in den zweiten Raum. »Hey Jungs, darf’s noch etwas sein?« Sie nicken schüchtern, schieben ihre Schulranzen intuitiv unter die Sitzbank. Schüler, denkt er sich, die zarten Hände haben noch nie einen Schraubenschlüssel gehalten, geschweige denn einen Motorblock ausgewechselt. Jeder bestellt noch ein Bier. Er kann es in ihren Augen lesen, dass keiner von ihnen 16 ist, also weder Bier noch Zigaretten haben dürfte, aber Kevin sieht das nicht so eng. Leben und leben lassen, jeder muss wissen, was er mit seinem Leben so anstellt.

»Zigaretten auch?«, fragt er nach und wischt einmal über den Tisch. Jetzt leuchten ihre Augen.

»Marlboro Rot oder Gauloises?«

»Dreimal Marlboro«, antworten sie. Die Zigaretten kommen aus seinem Spind, sind also seine Privatangelegenheit. Der Gewinn geht auf sein Konto. Peanuts, aber irgendwann will er damit eine professionelle »River Surfing Station« aufbauen. Das gibt es hier noch nicht. Kevin geht zurück hinter die Bar, um die Zigaretten zu holen, als ihm plötzlich jemand auf den Rücken tippt. Kevin zuckt zusammen. Es ist der Bürgermeister. Grauer Scheitel, blaue Augen, Sakko, Stecktuch. Sein Rasierwasser verbreitet sich im ganzen Lokal, noch nie roch Kevin den Geruch lieber als heute. Kurz schließt er die Augen und saugt ihn ein. Schwein gehabt! Tommy, der Besitzer, hätte wieder einmal Stress gemacht, weil sein »cleanes« Café, wie er es nennt, keine Tschick verkauft.

»Hans, was willst?«, fragt er den Bürgermeister.

»Alles klar für Samstag? Ich brauch dich in der Vereinssitzung«, stellt der Bürgermeister leicht gereizt fest. Kevin schluckt und wirft seine wasserstoffblond gefärbten Haare zurück. Er hat das vergessen, nicht vergessen, eher verdrängt. Vereinssitzung bedeutet Bier, sehr viel Bier. Das will er sich in Zukunft sparen, macht zu viel Stress im Kopf. »Pass mal auf, Bürgermeister, ich habe da irgendwie keine Zeit, aber beim Lauf mache ich schon mit, keine Frage. Kein Krampuslauf ohne Kevin. Versprochen!«

Der Bürgermeister schaut ihn mit einem ernsten und zugleich auffordernden Blick an. Dieser Blick ist abrufbar. Als Bürgermeister von Eisenhagel hat man diesen Blick quasi gebucht. Letztens wurde ein Mädchen von fünf Jungs durchgezogen, auf der Toilette der Disko, auf der Pressekonferenz stand auch er im Zentrum, die Privatsender wollten wissen, welche Schweine hier wohnen. Er konnte die Sache gerade noch bereinigen. Den Menschen signalisieren, dass dies die Ausnahme ist. Dass bei ihnen alles sicher ist. Alles gute Menschen. Fast halt. So wie überall.

»Erinnere dich einmal an die goldene Zeit hier, weißt du noch? Kohle und Eisen haben die Stadt groß gemacht – und heute?«, versucht der Bürgermeister, Kevin zu motivieren. Vor den Augen des Bürgermeisters geht ein Film ab: Ihre Väter und Großväter gehen mit verrußtem und zugleich stolzem Antlitz durch die Stadt. Harte Arbeit unter der Woche, Bier und Handball am Samstag, im Winter Eishockey, Kirche am Sonntag. »Wenn jeder die Stadt im Stich lässt, der etwas kann, wird die Stadt nie wieder raufkommen.«

Kevin nickt und schaut ihn fordernd an. Dann tu was dagegen, Bürgermeister. Also leg los!

»Nächstes Jahr ist die Bürgermeister-Wahl. Wenn ich gewinne, gebe ich das Amt während meiner Amtsperiode ab. Das bleibt aber bitte unter uns!« Er schaut Kevin ins Gesicht. Kevin ist ganz bei ihm. »Ich brauche wen, dem ich das Amt anvertrauen kann, jung, agil und doch mit Lebenserfahrung. Einen, mit dem die Leute hier etwas anfangen können. In der Partei habe ich nicht den Passenden.« Jetzt hat er ihn an der Angel, weiß der Bürgermeister. Zumindest jeden zweiten Bürger von Eisenhagel kennt er so gut, dass er weiß, welchen Köder er auslegen muss. Abgesehen davon, er braucht wirklich einen Nachfolger. Die Tabletten am Nachtkästchen werden nicht weniger, dafür nimmt die Sicht ab und auch der Wille etwas zu verändern, durchzupeitschen, hart bleiben, mehr Verantwortung in die Gemeinde holen und auch mehr Geld. Nun nimmt er einen Schluck von seinem Espresso und holt die Netze ein. »Ich brauche wen, der mir nachfolgt. Ich kann mir vorstellen, dass du einer von denen bist. Da musst du dich jetzt langsam in den Vordergrund spielen, dich engagieren, bei den Treffen der Stadt dabei sein.«

Kevin ist ganz Ohr. Auf solche Momente wartet man ein Leben lang. Da weißt du, du hast doch nichts falsch gemacht, bist so wie du bist, ein ehrlicher Hund und ein Sieger. Endlich ein Sieger. Er nickt dem Bürgermeister zu. »Bin zu jeder Schandtat bereit.«

»Machst du uns den Krampuslauf? Der Alois kann nicht mehr«, meint der Bürgermeister und zeigt vorsichtig die Bewegung eines zum Mund führenden Bierglases.

Kevin starrt ihn an. »Ausgerechnet den Krampuslauf?«

»Bekommst du jetzt kalte Füße?«

»Nein, ähm, aber muss das wirklich der Lauf sein?«

»Kevin, was ist los mit dir?«

»Nichts, aber es passiert halt immer viel, auf diesem Lauf. Ich weiß nicht, ob das wirklich karrieretauglich ist.«

»Hör einmal zu! Du musst jetzt einmal den Krampuslauf organisieren, und vielleicht kannst dann schon in den Gemeinderat! Dann werden wir eh alles Weitere sehen. Abgesehen davon, das was einmal war, ist vergessen. Das was vor zehn Jahren passiert ist, wird nicht mehr aufgewärmt. Da musst du drüber, und wir auch!«

Wahrscheinlich muss er das. Ein Sprung ins kalte Wasser. Es geht nicht anders.

»Unser Alois hat hier wirklich gute Arbeit geleistet. Also, schlagst ein?«

Kevin reißt die Augen weit auf. »Na dann!«

Sie verabschieden sich. Der Bürgermeister lacht und klopft ihm noch auf die Schulter. »Hab gewusst, dass ich mich auf dich verlassen kann. Bist einer von uns!«

Kevin bringt in das Hinterzimmer die bestellten Zigaretten, seine Beine zappeln, seine Finger vibrieren und er weiß gar nicht wie, aber plötzlich landet wieder eine Kippe zwischen seinen Lippen. Gierig zieht er an ihr. Der verbrennende Tabak knistert. Der erste Zug hebt ihn aus. Der zweite lässt ihn über die Stadt fliegen. Der dritte lässt ihn gleiten. Mit dem vierten macht er einen Looping. Oh ja, das Leben steckt eben voller Überraschungen. Sogar in Eisenhagel. Ohne Krampuslauf wird es nicht gehen, um endlich weiterzukommen. Er hat schon verstanden!

Wie er die Aktion seinen drei Freunden erklärt, weiß er noch nicht. Vor zehn Jahren machten sie einen Schwur. Keine wichtige Entscheidung wird alleine getroffen.

Im Café sitzt ein Mann, der dies alles beobachtet. Der Bürgermeister bemerkte ihn nicht und Kevin schon gar nicht. Kevin ist jetzt sehr glücklich. An diesen glücklichen Moment sollte er sich noch öfters zurückerinnern. Denn in nächster Zeit gibt es keinen zwingenden Grund, glücklich zu sein.

Daniel unterrichtet Mathematik und Physik im Gymnasium Eisenhagel. Er freut sich, wissbegierige Schüler zu haben. Freitagnachmittags hat er einen kleinen, aber feinen Kreis von guten Schülern um sich geschart, die er heute wieder unterrichtet. Seine Schüler lieben diese Nachmittage, das Ereignis und das Experiment.

»Lydia, wie hoch glaubst du ist die Wahrscheinlichkeit, dass du bei einem Spaziergang durch Manhattan deinen passenden Freund findest, wenn bei der U-Bahn-Station Times Square rund 300.000 Menschen täglich durch die Pforten marschieren und es anzunehmen ist, dass du rund 30 Millionen Menschen begegnen musst, um ihn zu finden.« Lydia bekommt einen roten Kopf und schaut ihn mit großen Augen an. »Die Lydia fliegt sofort nach New York, wenn das alles nur stimmt!«, unterbricht Markus und alle lachen. Daniel freut sich, dass auch diese Rechnung für Unterhaltung sorgt. »30 Millionen durch 300.000 ist 100. Ich muss also 100 Tage auf den passenden Freund warten, ich armes Wesen, ich! Aber Markus zahlt mir den Flug und ich probiere es aus!«, trällert Lydia und lacht. Daniel steht auf, reibt sich sein Kinn und setzt fort: »Wenn die U-Bahn-Station jedoch acht Ausgänge hat, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass du unter denselben Voraussetzungen den passenden Freund findest?« Lydia überlegt kurz, nimmt nun den Taschenrechner zur Hand und rechnet. »Die Chance ist 1:38, Herr Professor!«, antwortet Lydia. »Und das ist richtig!«, freut sich Daniel und ist auf seine Schüler richtig stolz. Sie kommen freiwillig am Nachmittag zu ihm, ausgerechnet zu ihm, der in der Schule eher der Streber war und es nicht gerade leicht hatte. Fast glaubt er, er habe diese Aufmerksamkeit nicht verdient und richtet seine Krawatte, die sich zu seinem Missfallen etwas gelockert hat. Zugegeben, er macht für sie tolle Beispiele, wo sie namentlich vorkommen, oder die sich thematisch an etwas orientieren, was sie interessiert.

Aber das positive Feedback ist Neuland für ihn. Gegen früher! Die Mitschüler, die Nachbarskinder. Erst durch seine Freundschaft zu Kevin ließen sie von ihm ab, weil Kevin sie ansonsten zusammendrosch. Er manövrierte Kevin dafür durch die Schule. Er half Kevin in Mathe, dafür brannte ihm Kevin die CD mit den Liedern, die gerade hip waren. So richtige Anerkennung in der Stadt fand er in dieser Zeit durch seine Freundin Annika. So ist er doch noch gut gelandet in Eisenhagel und wird hier auch bleiben. Jetzt, nachdem er das Unterrichten gewöhnt ist, will er sich an ein kleines Galerie-Projekt wagen. Etwas Kunst würde Eisenhagel guttun. Die Bergbaustadt schreit richtiggehend danach. Er sieht schon die erste Ausstellung vor sich. Um hier niemanden zu überfordern, würde er mit Impressionismus beginnen, seltene Drucke, die man nicht überall zu sehen bekommt. So bereitet er das Publikum auf spätere Ausstellungen vor, Schwarzweißfotos aus dem Bergwerksstollen, verlassene Herrenhäuser, vergitterte Fabriken.

Dabei hat er vor Kurzem selber zu malen begonnen. Jetzt nichts wirklich Wichtiges, aber ihm ist ein Mädchen in den Sinn gekommen, und das hat er nun porträtiert. Dunkle Haare, dunkle Augen, ein schönes Gesicht. Seine Vorstellungen sind gar seltsam, ihm ist, als würde das Mädchen ihn beobachten, von ihm etwas wollen. Aber das ist oft so, wenn man Porträtsammlungen in Museen anschaut – man wird von Dutzenden Augenpaaren verfolgt. Trotzdem, das Mädchen geht ihm nicht aus dem Sinn. Ihm war plötzlich, als müsste er malen, und so ging er in den nächsten Bastelshop und kaufte sich eine Staffelei, einige Bögen Papier, Wasserfarben und Ölkreiden. Fast hatte er ein schlechtes Gewissen, so viel Geld auf einmal für eine Sache auszugeben, von der er nicht einmal wusste, ob er damit wirklich etwas anfangen kann. Zugegeben, mit der Staffelei kommt er nicht so ganz zurecht, da er beim Malen lieber sitzt. Sie macht sich aber auch als Kleiderständer gut. Mit einer Mischung aus Wasserfarben und Ölkreiden schuf er jedoch das Porträt des Mädchens. Er nennt das Mädchen Edda. Keine Ahnung warum, aber sie heißt nun Edda. Er hat den Namen auf der Rückseite ganz klein in eine Ecke geschrieben und vorne signiert, damit keine falschen Schlüsse gezogen werden.

Er wird Annika einweihen, aber das hat Zeit, denn sie würde damit sofort etwas machen wollen, und das geht ihm zu schnell. Zuerst die Aquarelle anderer Künstler. Edda bleibt vorerst sein kleines Geheimnis.

Die Annika könnte dazu noch ihre Kenntnis mit dem Wein einbauen, vielleicht soll er sie überhaupt mit dem Buffet betrauen, sie zaubert ja auch in der Küche immer tolle Sachen hervor, allein wenn er an die gestrigen Muscheln in Kokosmilch, Safran und Zimt denkt. Alle Achtung! Sie ist so gut zu ihm. Sein Herz schlägt gleich schneller. Ein paar Sponsoren werden sie noch brauchen, das muss Kevin machen, den kennt ein jeder und vor allem er kennt einen jeden. Und Jenny? Irgendwie hält Jenny die Gruppe von innen zusammen. Von außen beschützt sie Kevin, aber für den inneren Zusammenhalt ist eindeutig Jenny verantwortlich. Intuitiv greift er bereits nach seiner Jacke. Er lässt jedoch von ihr wieder ab. Ist Jenny wirklich aktiv für den Zusammenhalt verantwortlich, oder kümmern sie drei sich ein bisschen mehr um Jenny als um jeden anderen? Sie hat damals sicher am meisten durchgemacht, als sie den Bund eingegangen sind, auf immer und ewig füreinander dazusein.

AUS! Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Die ist schon passiert, kann keiner ändern. Darum schaut Daniel in die Zukunft. Das Leben ist gut. Er blickt auf die Jacke. Wieder einmal etwas zu warm gewählt, immer eine Schicht zu viel, wie Annika sagt, aber er will immer auf alles vorbereitet sein. Ein plötzlicher Temperatursturz soll also nicht sein Problem sein. »So, Schluss für heute, ich wünsche euch noch ein schönes Wochenende!«

»Was, schon jetzt Herr Professor?!« Jetzt schauen ihn die jungen Menschen groß an und er schaut auf die Uhr. Schon halb fünf, er sollte noch eine Kleinigkeit essen und sich dann noch anständig herrichten. Weil freitags geht es mit Annika, Kevin und Jenny ins Detox, eine Disko an der Schnellstraße, etwas außerhalb der Stadt. Zwar hauen sie schon länger nicht mehr auf den Putz, aber der Freitag muss bleiben.

»Okay, ein Beispiel habe ich noch!«, lenkt er ein und kommt im selben Moment drauf, dass er gar kein weiteres vorbereitet hat. »Also, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass einen die Vergangenheit wieder einholt?« Für einen Bruchteil von Sekunden gaffen ihn alle an. Daniel muss schlucken. SHIT! Er weiß selber nicht, wie er auf diese Frage kam. Bist du gelähmt, denk nicht so viel über die Vergangenheit nach, dann kommt so ein Quatsch raus! Schule ist Schule, und alles andere ist alles andere.

»Es kommt auf die Schwere des Verbrechens an«, antwortet Karl aus der dritten Reihe, ganz links. Alle Kinder schauen nun zu Karl. Und Professor Daniel Zotter ist massiv entspannt. Seine Schüler haben ihm das Ding entschärft. So geht Leben. »Karl, was hast du auf dem Kerbholz?«, versucht Markus einen Schmäh. »Der Karl hat den Hahn vom Edelsbrunner vergiftet, seitdem kann er wieder jeden Sonntag ausschlafen.« Lautes Gelächter. Daniel klopft kurz auf das Lehrerpult und sorgt so für Aufmerksamkeit.

»Stimmt das echt, Karl, das mit dem Hahn?« Jetzt lachen alle los. Die Welt dreht sich wieder um die eigene Achse und nicht um Eisenhagel. Karl bleibt die Antwort schuldig. »Also, alle Hähne leben noch. Und ja, es kommt auf die Intensität des Vergehens an. Manche Antworten bezüglich der Wahrscheinlichkeit sind ganz logisch und ohne viel zu rechnen zu beantworten. Also, ich schicke euch am Montag einige Übungsbeispiele und wir sehen uns nächsten Freitag wieder, und keine wilden Partys heute!« Gelächter und Abtritt. »Halt, Freunde! Ich begleite euch gleich mit hinaus. Letztens war ja die Garderobe verschlossen.« Daniel schaltet das Licht ab, verlässt den Raum mit seinen Schülern und sperrt hinter ihnen ab. Ihm ist heute nicht nach alleine sein. Er war zu oft alleine. Alleine das Wort alleine mag er nicht. Unter heiteren Menschen lebt es sich leichter.

Annika verlässt das Tourismusbüro. Sie streicht sich mit der Hand durch ihre mittellangen Haare und zündet sich eine Benson & Hedges an. Das war heute im Stadttourismus-Amt ein turbulenter Tag, hätte sie gar nicht erwartet. Jetzt noch schnell einkaufen. Gar nicht so einfach, aber man muss genau schauen, wo man was bekommt. Zwei zarte Steaks beim Fleischer, einen argentinischen Rotwein in der Vinothek um die Ecke, hoffentlich haben sie einen argentinischen Cabernet Franc. Der schmeckt Daniel am besten. 6.900 verschiedene Rebsorten gibt es, das ist eigentlich gigantisch, denkt sie nun. Über das ist sie gestern beim Recherchieren für die Stadtentwicklung gestolpert. 6.900 unterschiedliche Geschmacksmomente. Sie geht in den Supermarkt. Für Daniel braucht sie noch laktosefreie Milch, Kresse für den Salat fehlt auch noch. Eine freundliche Mischung aus weichem Licht und belangloser Musik lassen sie entspannen, einen kurzen Moment erscheint es ihr, als lächelten sie alle Güter an. Sie sieht noch die letzte Kresse, steuert darauf zu und schnappt sie einer anderen Kundin vor der Nase weg – super, das wird ein wunderschöner Nachmittag, und dann hinein ins Vergnügen! Vielleicht noch Orangen und ein Schokoladeeis für ein Dessert? Wein oder Dessert? Eigentlich egal, Daniel hat sie auch mit einem dicken Hintern gerne, hat er ihr letztens gebeichtet. Na dann!

Sie nimmt beides, zahlt und macht sich auf den Heimweg. Gedanklich switcht sie zurück in ihren Büro-Job. Der Bürgermeister kam hineingerauscht, im grauen Lodenmantel, mit strengem Scheitel, aber hochrotem Kopf. Er wollte nicht einmal Platz nehmen, bis ihr Chef für ihn Zeit hatte, sondern starrte einfach aus dem Fenster. Er versuchte still zu sein, aber seine Halsschlagader pulsierte. Als sich die Tür zu ihrem Chef öffnete und sein Besucher den Raum verließ, eilte er zielgerichtet hinein, wartete nicht einmal, bis Annika ihn ankündigte. Das Gespräch war trotz verschlossener Tür nicht schwer mitzubekommen. Dem Bürgermeister ist der Organisator vom Krampuslauf abhandengekommen. Jetzt suchen sie einen neuen. Und sie musste plötzlich eine Liste von möglichen Kandidaten aus ihrem Ärmel zaubern. Alle außer Kevin, dachte sie. Sie schrieb ihn bewusst nicht auf die Liste. Obwohl Kevin dafür geboren wäre, nicht alles erledigt man in einem Leben. Manches kommt erst im nächsten. Auch bei Kevin.

Jetzt sieht sie, wie die kleine Stadt einnachtet. Wie sich die Dunkelheit über die Häuser legt, die längst erloschenen Fabriksschlote schluckt und die kalkigen Zacken des Bergkamms, die die Stadt umrahmen, zum einzigen wesentlichen Erkennbaren machen, wenn um Mitternacht die Beleuchtung ausgeschaltet wird. Die Stadt muss sparen, heißt es dann. Ab Mitternacht braucht man hier keine eingeschalteten Laternen. Jedoch ist es der falsche Weg, denkt sich Annika. Wer will schon in eine Stadt, die ab Mitternacht verdunkelt ist? Das lädt nicht ein, und wenn, dann die falschen Menschen. Wieder denkt sie an den Krampuslauf. Der findet am 5. Dezember statt und ist dann für 364 Tage erledigt. Sie findet es nicht gut, wenn hier Bewegung reinkommt. Der soll so bleiben, wie er ist. Manche Dinge sollte man auf sich beruhen lassen.

Alles wegwischen, reinmachen, denkt sie sich und schaut durch das Stiegenhausfenster auf den Platz, wo vor zehn Jahren der Krampuslauf aus den Fugen geriet und im Chaos unterging.

»Der Jenny darf nichts passieren!«

Annika ist daheim angekommen, öffnet die Wohnungstür und inhaliert die abgestandene Luft, die von ihrer jetzigen Zerrissenheit noch nichts weiß. Wie ist sie bloß auf den Gedanken gekommen, dass der Jenny nichts passieren darf? Jetzt reißt ihr auch fast noch die Papiertüte! Was ist das plötzlich für ein scheiß Tag geworden! Der Wein, die Orangen, das Schokoladeeis, alles wäre umsonst! Als ob sie mit diesem Jenny-Gedanken böse Geister geweckt hätte, spricht sie sich den Satz noch einmal vor: »Der Jenny wird nichts passieren.« Und jetzt laut und noch einmal für alle, aber korrigiert, damit es alle bösen GEISTER wissen: »UNSERER Jenny darf nichts passieren!«

Daniel öffnet die Tür. »Führst du Selbstgespräche?«

Sie drückt ihm den Einkauf in die Arme. »Pass lieber auf, der Sack reißt gleich! Und ich muss einmal.«

»Hey, was ist?«

»Ich muss aufs Klo!«

Feierabend. Jennifer ist in der Garderobe und zieht sich um. Weg mit dem Kittel! Ihr Rücken wird von einem Tattoo verziert.

FREAK

OUT!

In dunkelrot gehalten. Teilweise wird es von ihren dunklen Haaren verdeckt, aber in Eisenhagel kennt es jeder, den sie kennt. Das passt zu ihr, das steht. Das passt zu ihrem dunkelroten, fast schwarzen Lippenstift, zu ihrer hellen Haut und ihren engen dunklen Jeans. Ihre Augen sind auch dunkelbraun, außer zu Halloween, da hat sie schwarzrote Katzenaugen. Jenny faucht in den Spiegel. WOOORRR! Kurz hört sie ein Geräusch und schaut herum. Jetzt muss sie lachen. Jenny zieht einen figurbetonten schwarzen Pullover an. Sie macht ein Selfie. Der Lidschatten passt zum Lippenstift, die Hose sitzt am Arsch und auch sonst: Alles fit im Schritt. Nun beginnt ihr zweites Leben. Ihre drei Freunde treffen, abhängen, streamen. Sie liebt ihren Job. Sie bewegt sich gerne, mag es, von einem Zimmer zum anderen zu gehen und sie will gebraucht werden, also ernsthaft gebraucht werden, auf der Unfallstation ist das auch so, darum war es für sie schon lange klar, dass sie Krankenschwester werden will. Und wenn sie einmal mit Eisenhagel fertig ist und in die Großstadt will, Krankenschwestern werden immer gebraucht.

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