Kitabı oku: «"Aber ich will etwas getan haben dagegen!"»
„Aber ich will etwas getan haben dagegen!”
Die RAF als postfaschistisches Phänomen
Martin Kowalski
„Aber ich will etwas getan haben dagegen!”
Die RAF als postfaschistisches Phänomen
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN (eBook, epub): 978-3-940621-49-8
Redaktion: Cornelia Siebeck
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
Inhalt
„Die Konflikte auf die Spitze treiben…“ – 40 Jahre nach Gründung der RAF
„Unter dem Pflaster liegt der Strand!“ – Die Revolten der 1960er Jahre und die bundesrepublikanische Linke
„Man kann mit Leuten, die Auschwitz gemacht haben, nicht diskutieren.“ – Der Tod Benno Ohnesorgs und die Radikalisierung der Studentenbewegung
„Napalm ja, Pudding nein.“ – Von der Spaßguerilla zur Stadtguerilla
„…ungeeignet, eine ihren Zielen angemessene Praxis zu entwickeln.“ – Krieg gegen den Staat oder ‚Marsch durch die Institutionen‘
„Unsere Isolation jetzt und das Konzentrationslager demnächst…“ – Eine kleine Geschichte der RAF
„Die Angst vor dem Faschismus überwinden, um seine Wurzeln zu vernichten!“ – Der Faschismusbegriff der RAF
„…eine nachholende Résistance.“ – Pathos des Widerstands und Märtyrertum
„Praxislos sind programmatische Erklärungen nur Geschwätz.“ – Primat der Praxis und Avantgardismus
„Wir haben diese Struktur in unseren Zusammenhängen nicht aufgelöst.“ – Autoritarismus, Menschenhass, Antisemitismus
Die Rote Armee Fraktion und die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft – Ein vorläufiges Fazit
Anmerkungen
„Die Konflikte auf die Spitze treiben…”
40 Jahre nach Gründung der RAF
„Die Rote Armee aufbauen!“ forderte die 29-jährige Gudrun Ensslin 1 im Sommer 1970: Aus bloßen Protesten sollte ein ‚bewaffneter Kampf‘ werden. Keine vier Jahre zuvor hatte der studentische Aktivist Rudi Dutschke 2 , ebenfalls Jahrgang 1940, zur Bildung einer außerparlamentarischen Opposition (APO) aufgerufen: gegen die Große Koalition und deren antidemokratisehe Notstandsgesetzgebung. 3 Vor allem aber bot die APO Raum für ein Gefühl der Empörung angesichts der saturierten Wohlstandsgesellschaft, die auf den Trümmern des ‚Dritten Reichs‘ entstanden war.
Während in Vietnam und anderswo Krieg und Elend herrschten, hatte man es sich in der Bundesrepublik und West-Berlin längst wieder bequem gemacht. Man ging seinen täglichen Pflichten nach, konnte sich nach den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit wieder etwas leisten und stellte lieber keine kritischen Fragen – nicht zur jüngsten deutschen Vergangenheit, nicht zu deren Kontinuitäten in der bundesrepublikanischen Gegenwart und schon gar nicht zu Ursachen und Folgen von Unterdrückung, Ausbeutung und Krieg im Rest der Welt.
„Ohne Provokation werden wir gar nicht wahrgenommen“, hatte Rudi Dutschke 1966 konstatiert 4 . Jetzt erklärte Gudrun Ensslin, die das vermeintlich wirkungslose Protestieren der APO-Aktivisten satt hatte, öffentlich den Krieg gegen den Staat: „Um die Konflikte auf die Spitze treiben zu können, bauen wir die Rote Armee auf.“ Die Pfarrerstochter appellierte an die „Genossen“, sich und anderen bewusst zu machen, „dass die Revolution kein Osterspaziergang sein wird!“ Der von Ensslin verfasste Aufruf in der linksradikalen Zeitung agit 883 5 gilt als Gründungsdokument der RAF. Die Massen sollten folgen: Ob Hauptschüler, Arbeiter und kinderreiche Familien oder die von Krieg und Ausbeutung geplagten Menschen in der ‚Dritten Welt‘ – im Kampf gegen ‚den Imperialismus‘ würden sie in absehbarer Zeit als revolutionäres Kollektivsubjekt „die Führung übernehmen“.
Die RAF konzipierte sich in Abgrenzung zur APO als revolutionäre Avantgarde. Ihr Diskurs oszillierte dabei von Anfang an zwischen paranoider Defensive und gnadenloser Offensive. So schrieb Ensslin einerseits aus der Perspektive der ‚Opfer‘, die ihr Ohnmachtsgefühl überwinden wollten: „Was heißt: Die Konflikte auf die Spitze treiben? Das heißt: Sich nicht abschlachten lassen. Deshalb bauen wir die Rote Armee auf.“ Andererseits schwelgte sie in Machtphantasien und drohte unverhohlen: „Die Konflikte auf die Spitze treiben heißt: Dass die nicht mehr können, was die wollen, sondern machen müssen, was wir wollen.“ 6 Ein Jahr später veröffentlichte die RAF mit dem ‚Konzept Stadtguerilla‘ ihr erstes Strategiepapier, 7 kurz darauf ein ausführliches Positionspapier, in dem der Zusammenhang von ‚Kapitalismus‘, ‚Imperialismus‘ und ‚Faschismus‘ sowie eine daraus vermeintlich resultierende Notwendigkeit von „bewaffnetem Kampf“ und „Terror gegen den Herrschaftsapparat“ theoretisch erläutert wurden. 8
Im Mai 1972 folgte mit der so genannten ‚Mai-Offensive‘ eine erste Welle von Bombenanschlägen auf zwei Einrichtungen der US-Armee, ein Polizeigebäude, den Springerverlag und einen Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofes. Kurz darauf wurden die Mitglieder der ‚ersten Generation‘ um Gudrun Ensslin, Andreas Baader 9 und Ulrike Meinhof 10 verhaftet. Ihre Nachfolger sahen sie fortan als Ikonen, die es zu befreien galt – nach ihrem kollektiven Selbstmord 1977, der in der Szene zum ‚Mord‘ umgedeutet wurde, schließlich auch als Märtyrer. Das „Projekt RAF“ wurde nach dem Tod der Gründergeneration mit verschärfter Brutalität fortgesetzt. Bis zur Auflösung im März 1998 wurden unter dem Label ‚RAF‘ diverse Banküberfälle und insgesamt 25 Anschläge und Anschlagsversuche verübt, 11 bei denen 34 Menschen getötet wurden. 12 Auch auf Seiten der RAF kamen im vermeintlichen Kampf „gegen Herrschaft und für Befreiung“ 13 26 Menschen meist bei Fahndungsaktionen der Polizei ums Leben.
Vier Jahrzehnte nach Gründung der RAF scheinen Begriffe wie ‚Revolution‘ und ‚Guerilla‘ in der westlichen Welt obsolet, zumindest als dezidiert politische Konzepte. Stattdessen begegnen sie uns in der Sphäre des Konsums. Branchen und ‚Märkte werden Revolutioniert‘, Waren mittels ‚Guerillamarketing‘ 14 beworben. Mao und Ho Chi Minh sind weitgehend in Vergessenheit geraten. Che Guevara hingegen ziert heute nicht mehr nur die Wände alternativer Jugendzentren und Wohngemeinschaften, sondern prangt als eines der meistreproduzierten Konterfeis der Welt auf T-Shirts großer Bekleidungsketten, Leihautos oder Fußmatten. Nichts scheint mehr übrig zu sein von der Aufbruchstimmung der späten 1960er Jahre, als es sinnvoll erschien, die Welt verändern zu wollen – notfalls mit allen Mitteln.
Die RAF und ihre Protagonisten wiederum sind beliebte Motive des Kulturbetriebes geworden. In zahlreichen Kunstwerken, Büchern und Filmen wurde der Kampf der RAF nicht selten historisch und politisch dekontextualisiert, trivialisiert und konventionellen Dramaturgien angepasst. Christopher Roths Film ‚Baader‘ (2002) etwa zeigt Andreas Baader und Gudrun Ensslin als junges Liebespaar à la Bonnie und Clyde. In schnellen Autos, schicken Klamotten, die Knarre griffbereit, ziehen sie aus, um die Welt zu verbessern. Sie haben Geld im Überfluss, rauchen viel und tragen coole Sonnenbrillen. Als Ensslin ihren Geliebten in einer Szene fragt, ob ihre Kinder in einer gerechteren Welt leben würden, erwidert Baader: „Klar, weil wir der Welt so lange auf die Fresse hauen, bis sie verstanden hat, dass der Wille zur Freiheit stärker ist als der Wille zur Unterdrückung.“ Wild und draufgängerisch entfliehen die beiden dem grauen Alltag und bieten zumal jugendlichen Zuschauern einige Identifikationsmöglichkeiten.
Die RAF ist ins Kuriositätenkabinett der deutschen Geschichte eingezogen, die ihrerseits seit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der ‚Wiedervereinigung‘ ihr Happy End gefunden haben will. Anlässlich von Jahrestagen wie etwa des ‚Deutschen Herbstes‘ überschlagen sich die Medien zwar regelmäßig in der Produktion von Rückblicken, Chroniken und Dokumentationen, zum Politikum wird die RAF allerdings nur noch selten. 15 Von gelegentlichen Debatten wie etwa anlässlich der RAF-Ausstellung in den Berliner KunstWerken (2003/4) oder der Begnadigung ehemaliger RAF-Mitglieder abgesehen, nimmt von ihr jenseits der professionellen Kommentatoren kaum jemand mehr Notiz.
Dem war bekanntlich nicht immer so. Obwohl die RAF nach heutigen Erkenntnissen zu keinem Zeitpunkt mehr als 20 Mitglieder hatte, 16 sahen die Bundesregierung und ein Teil der deutschen Bevölkerung die Bundesrepublik als akut gefährdet an. Angesichts der RAF griff ein großer Teil der deutschen Öffentlichkeit auf repressive und antidemokratische Traditionen zurück und frönte autoritären Ressentiments, die sonst unter der bundesrepublikanischen Oberfläche schlummerten. Rückblickend scheint es der RAF also zumindest zeitweise und im Ansatz tatsächlich gelungen zu sein, „Konflikte auf die Spitze zu treiben“ und gesellschaftliche Widersprüche sichtbar werden zu lassen.
Die Fahndungsplakate mit den Schwarzweißfotos der ‚Terroristen‘ waren in der alten Bundesrepublik omnipräsent, stets mit der Warnung ‚Vorsicht Schusswaffen!‘ versehen. Die bundesdeutsche Gesellschaft war über den Umgang mit der RAF zutiefst gespalten, der Staat beantwortete deren militante Provokation unterdessen mit immer drastischeren Maßnahmen. Neben Großfahndungen ungekannten Ausmaßes wurde die computergestützte Rasterfahndung entwickelt, in der potentiell jeder Bürger als des Terrorismus verdächtig erfasst werden konnte. Im Zeichen des Kalten Krieges herrschte in der Bundesrepublik ohnehin eine Art Generalverdacht gegen alle, die sich links von der SPD verorteten. Dies führte zu einer pauschalierenden Verknüpfung zwischen ‚Terroristen‘, ‚Sympathisanten‘ und ‚geistigen Brandstiftern‘. 17
Seit 1971 sollte beispielsweise ein so genannter ‚Radikalenerlass‘ sicherstellen, dass die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst über eine verfassungskonforme Gesinnung verfügten. Dabei wurden über 300 000 Personen vom Verfassungsschutz überprüft, potentiell linksradikale Bewerber oder Angestellte abgelehnt oder gar gekündigt. 18 Darüber hinaus konnte nahezu jeder als ‚RAF-Sympathisant‘ verdächtigt werden. Im Zweifelsfall reichte es aus, auf die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen hinzuweisen oder eine rechtstaatlich angemessene Behandlung einzufordern.
So wurde der Schriftsteller Heinrich Böll Anfang 1972 zum Ziel einer aggressiven Medienkampagne, nachdem er die RAF-Berichterstattung der Bild-Zeitung im Spiegel als „Aufforderung zur Lynchjustiz“ bezeichnet und eine von der „Springerpresse“ aufgehetzte Gesellschaft der „Gnadenlosigkeit“ bezichtigt hatte. Um auf die absurden Dimensionen der öffentlichen Diskussion aufmerksam zu machen, erinnerte Böll daran, dass von einem „Krieg der Sechs gegen 60 Millionen“ eine vergleichsweise geringe Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung ausgehe. Er verwies auf die NS-Vergangenheit zahlreicher Funktionsträger der bundesrepublikanischen Gesellschaft, vor allem aber auf die juristische Milde, mit der viele Nazi-Verbrecher behandelt worden waren.
Böll plädierte dafür, Ulrike Meinhof „freies Geleit“ und einen fairen rechtsstaatlichen Prozess anzubieten, um ihr so zu ermöglichen, den eingeschlagenen Weg wieder zu verlassen. Vor Gericht müsse allerdings auch der Verleger Axel Springer gestellt werden – „wegen Volksverhetzung“. 19 Bild verglich den Schriftsteller daraufhin mit Goebbels, in der Illustrierten Quick hieß es: „Die Bölls sind gefährlicher als Baader-Meinhof.“ In der Tagesschau wurde Böll als „Anwalt der anarchistischen Gangster“ tituliert, dem ZDF-Magazin galt er als „Sympathisant dieses Linksfaschismus“, der „nicht ein Deut besser“ sei „als die geistigen Schrittmacher der Nazis“. Die Diffamierungen blieben nicht ohne Folge: Im Zuge einer Großfahndung nach RAF-Mitgliedern wurde im Juni 1972 auch Bölls Haus von schwer bewaffneten Polizisten umstellt. 20
Die RAF war ein Produkt der radikalen Linken in der Bundesrepublik, die sich seit Mitte der 1960er Jahre von den autoritären Strukturen einer postfaschistischen Gesellschaft zu emanzipieren versucht hatte. Schon die Studentenbewegung hatte die bundesrepublikanische Gesellschaft mithilfe von bedeutungsschwangeren Abstraktionen wie ‚Kapitalismus‘, ‚Imperialismus‘ und ‚Faschismus‘ radikal kritisiert. Die RAF bezog sich auf die gleichen Paradigmen und reduzierte sie im Sinne ihrer eigenen Ideologie.
Das Verhältnis der bundesrepublikanischen Linken zur RAF war kompliziert. Die Mehrheit wandte sich gegen deren Selbstverständnis als ‚revolutionäre Avantgarde‘ mit ihren realitätsfernen Zeitdiagnosen und lehnte das Konzept einer straff organisierten Stadtguerilla und die ebenso militanten wie strategisch sinnlosen Mittel ab. Gleichzeitig stellte die Praxis der RAF für die Linke ein massives Problem dar: Linke und linksradikale politische Ziele wurden durch sie auch in der wohlgesonneneren Öffentlichkeit diskreditiert, eine grundlegende Kritik an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung steht bis heute unter ‚Extremismusverdacht‘. Dennoch blieb man dem Ziel einer radikalen gesellschaftlichen Veränderung verbunden und kritisierte den Ausbau des staatlichen Kontrollund Repressionsapparats.
Der Diskurs der radikalen Linken in der Bundesrepublik unterschied sich bezüglich Themenwahl und revolutionärem Pathos nicht wesentlich von dem der zeitgenössischen westeuropäischen Linken. 21 In der Bundesrepublik schwangen jedoch immer auch Erschrecken und Empörung über die jüngste Vergangenheit und deren weitgehende Tabuisierung mit. „Faschist!“ hatte die Aktivistin Beate Klarsfeld gerufen, als sie 1968 dem damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) aufgrund seiner einstigen NSDAP-Mitgliedschaft eine Ohrfeige verpasste 22 – damit hatte sie vielen Gleichaltrigen aus dem Herzen gesprochen.
Auch die RAF verstand sich explizit als antifaschistische Organisation: „Die RAF nahm den Kampf gegen einen Staat auf, der nach der Befreiung vom Nazi-Faschismus mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit nicht gebrochen hatte“, hieß es in ihrer Auflösungserklärung von 1998. Man habe von Anfang an auf einem „gesellschaftlichen Terrain“ gekämpft, „das historisch von wenig Widerstand und dem Ausbleiben einer Bewegung gegen den Faschismus, dafür um so mehr von einer zu Faschismus und Barbarei loyalen Bevölkerung geprägt war. […] Die RAF hat nach dem Nazi-Faschismus mit diesen deutschen Traditionen gebrochen und ihnen jegliche Zustimmung entzogen. Sie kam aus dem Aufbruch dagegen.“ 23
In diesem Buch soll die RAF entgegen ihrem Selbstverständnis als postfaschistisches Phänomen betrachtet werden, d.h. als Phänomen, das aus der inneren Dynamik einer postfaschistischen Gesellschaft entstand, die ihrerseits noch stark von ideologischen Strukturen der nationalsozialistischen Vergangenheit geprägt war. Ihre Vorgeschichte in der Studentenrevolte der späten 1960er Jahre ist dabei entscheidend. Hier entstand der grundsätzliche Protest, der sich zum einen gegen autoritäre Traditionen und Kontinuitäten des Nationalsozialismus in der bundesrepublikanischen Gesellschaft richtete und zum anderen das gegenwärtige Unrecht der Welt anprangerte, wenn nicht tatsächlich beseitigen wollte. Der Diskurs der Studenten radikalisierte sich dabei zusehends – auch in Reaktion auf die ihr äußerst feindlich gegenüber stehende Mehrheitsgesellschaft. Nicht zuletzt an der ‚Gewaltfrage‘ zerbrach die Bewegung in viele kleine, sich teilweise bekämpfende Gruppen. Eines dieser Zerfallsprodukte war die RAF, die sich in fanatischer Fortführung bereits vorhandener linksradikaler Diskurse zur revolutionären Avantgarde stilisierte und eine in vieler Hinsicht unausgegorene Theorie in die Praxis umsetzen wollte – hier und jetzt.
Ihren ‚Kampf‘ legitimierte die RAF dabei konsequent als ‚Antifaschismus‘, wiederholt war die Rede davon, dass man den Widerstand nachholen wollte, den die eigenen Eltern unterlassen hatten. De facto reproduzierte die RAF jedoch im Zeichen eines manichäischen Antiimperialismus genau jene Strukturen, die sie zu bekämpfen behauptete. Sie war bestimmt von autoritären Strukturen und einer ebenso reduktionistischen wie verschwörungstheoretisch geprägten Ideologie, die nicht nur zwischen Menschen und ‚Schweinen‘ zu unterscheiden wusste, sondern auch antisemitische Züge aufwies.
Diese Entwicklung soll im Folgenden aufgezeigt werden – jenseits von Dämonisierung, aber auch ohne jede Romantisierung. Die Notwendigkeit, die Welt zum besseren zu verändern, bestand damals ebenso wie heute. Die verkürzte Theorie und mörderische Praxis der RAF bedarf jedoch fundamentaler Kritik. Im dogmatischen Bestreben, ‚alles richtig‘ zu machen, hatte sie alles falsch gemacht.
„Unter dem Pflaster liegt der Strand!”
Die Revolten der 1960er Jahre und die bundesrepublikanische Linke
„Im Aufwind der weltweiten Befreiungsversuche“, so heißt es nostalgisch im Auflösungspapier der RAF, „war die Zeit reif für einen entschiedenen Kampf, der die pseudonatürliche Legitimation des Systems nicht mehr akzeptiert und dessen Überwindung ernsthaft wollte.“ 24 So sehr die RAF sich auf eine revolutionäre Phantasiewelt berufen hatte – die weltweiten Revolten der 1960er Jahre waren Realität, und sie waren ein Aufschrei: Gegen eine Vergangenheit der Massenvernichtung, eine Gegenwart der Verleugnung und eine Zukunft der totalen Zerstörung.
Im Zeichen des Kalten Krieges war der ‚Overkill‘ möglich geworden, die mehrfache Vernichtung der Menschheit durch Nuklearwaffen. Die Gefahr bestand real: Nicht nur während der Kuba-Krise 1962 standen USA und Sowjetunion am Rand eines Atomkrieges. Je mehr die Weltpolitik in einem fatalen Machtpoker gefangen schien, desto mehr träumte die Jugend von Frieden und Freiheit. In den USA entstanden eine schwarze Bürgerrechtsbewegung und eine Frauenbewegung, die ihre sozialen Rechte einforderten, der Protest gegen den Vietnamkrieg fand immer mehr Anhänger. Auch in Europa regte sich Widerstand. Elementare Gesellschaftsstrukturen wurden in Frage gestellt: Rassismus, Sexismus, Militarismus und jede Art von selbst ernannter Autorität. Überkommene Moralvorstellungen sollten überwunden, autoritäres Denken aufgebrochen, vor allem aber das System des Kapitalismus zugunsten einer herrschaftsfreien Gesellschaft überwunden werden. „Unter dem Pflaster liegt der Strand“, lautete ein viel zitierter Slogan.
Selbst im sowjetischen Einflussbereich regte sich mit dem ‚Prager Frühling‘ kurzzeitig die Hoffnung auf einen ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘. Und in der ‚Dritten Welt‘ kämpften ‚Befreiungsbewegungen‘ gegen jahrhundertelange Ausbeutung und Unterdrückung im Zeichen des Kolonialismus. Im Zuge der damit einsetzenden Dekolonisierung projizierte man auf diese Kämpfe der ‚Opfer der Geschichte‘ allerart Sehnsüchte. Dort, jenseits der Machtblöcke, sollte das revolutionäre Kollektivsubjekt zu finden sein, das die bestehenden Verhältnisse radikal umwälzen würde. Zwar schien die politische und gesellschaftliche Gegenwart düster, die Zukunft dagegen vollkommen offen: Geschichte wird gemacht!
Weltweit wurden vor allem Universitäten zu Zentren der kritischen Reflexion, bald auch des lautstarken Protests. In der Bundesrepublik kam Bewegung in die erstarrten gesellschaftlichen Verhältnisse. Unter dem Motto „Keine Experimente“ 25 hatte die Adenauer-Ära wirtschaftlichen Aufschwung und gesellschaftliche Restauration gebracht. Die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit war dabei weitgehend tabu, die NS-Verbrechen wurden beschwiegen, verleugnet, auf einzelne Schuldige zurückgeführt oder durch Vergleiche relativiert. 26 So verwies man auf ‚eigene‘ Opfer durch Krieg und Vertreibung oder wehrte sich empört gegen eine niemals erhobene ‚Kollektivschuldthese‘. 27 Eine breitere gesellschaftliche Beschäftigung mit der Tatsache der Judenvernichtung fand erst seit Beginn der 1960er Jahre, vor allem im Zusammenhang mit dem Jerusalemer Eichmann-Prozess und den Frankfurter Auschwitz-Prozessen statt. 28
Bereits in den 1950er Jahren hatte es in der Bundesrepublik eine erste Protestbewegung gegen die Wiederbewaffnung und später gegen die geplante atomare Bewaffnung der Bundeswehr (‚Kampf dem Atomtod‘) gegeben, die wesentlich von Studenten und Intellektuellen, aber auch von Kirchen und Gewerkschaften initiiert und getragen worden war. In den 1960er Jahren formierte sich nun eine außerparlamentarische Opposition, die maßgeblich von der Politik und den Aktivisten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) 29 geprägt wurde. Neben Dauerprotesten gegen den sich verschärfenden Krieg in Vietnam und dem anhaltenden Kampf gegen die drohende Notstandsgesetzgebung waren es vor allem die mangelnde öffentliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit sowie zahlreiche personelle Kontinuitäten, welche die SDS-Aktivisten umtrieben.
So hieß es in einem studentischen Flugblatt von 1967: „Machen wir Schluss damit, dass nazistische Rassenhetzer, dass die Juden-Mörder, die Slawen-Killer, die Sozialisten-Schlächter, dass die ganze Nazi-Scheiße von gestern weiterhin ihren Gestank über unsere Generation bringt.“ Gefordert wurde nicht weniger als eine nachholende Entnazifizierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft: „Holen wir nach, was 1945 versäumt wurde: Treiben wir die Nazi-Pest zur Stadt hinaus.“ Denn der Nazismus sei noch immer omnipräsent: „Nazi-Richter, Nazi-Staatsanwälte, Nazi-Gesetzgeber […], Nazi-Polizisten, Nazi-Beamte, Nazi-Verfassungsschützer, Nazi-Lehrer, Nazi-Professoren, Nazi-Pfaffen, Nazi-Journalisten, Nazi-Propagandisten, Nazi-Bundeskanzler, und nicht zuletzt […] Nazi-Kriegsgewinnler, Nazi-Fabrikanten, Nazi-Finanziers.“ All jenen müsse man sich radikal verweigern, um so „den gesamten Apparat dieser miesen Gesellschaft“ zu sabotieren, „denn er besteht – bezeichnenderweise! – zu einem lebenswichtigen Teil aus den alten Nazis.“ 30
Konkret skandalisierte man etwa die Ernennung des damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke zum Ehrensenator der Unviersität Bonn. 31 Dieser hatte zu NS-Zeiten in seiner Funktion als Bauleiter der Heeresversuchsanstalt und der Luftwaffenerprobungsstelle in Peenemünde unter anderem KZ-Häftlinge als Zwangsarbeiter eingesetzt. „Das Rektorat hat sich mit seinem Vorgehen offen mit KZ-Baumeistern als Ehrensenatoren solidarisiert. Dass es diese Solidarität gegen Anträge auf Diskussion mit dem Einsatz von Schlägertrupps verteidigen lässt, bedeutet ein offenes Bekenntnis des Rektorats zum Faschismus.“ 32 Ohnehin vermutete man ‚Unter den Talaren den Muff von 1000 Jahren‘, wie eine zeitgenössische Parole lautete. Kurz: Man wähnte sich inmitten einer „schleichende[n] Faschisierung“ 33 der Universitäten.
Die Gefahr einer ‚Faschisierung‘ schien überhaupt omnipräsent in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, auch unmittelbar im eigenen Leben. Von Wilhelm Reich lernte man, dass zwischen autoritärer Triebunterdrückung und ‚faschistischem Charakter‘ ein ursächlicher Zusammenhang bestehe: 34 Die patriarchal geprägte bürgerliche Kleinfamilie züchtete quasi Faschisten, war als Modell der Vergesellschaftung also dringend zu überwinden. 1967 gründete sich in West-Berlin die skandalumwitterte Kommune 1, die sich ganz in diesem Sinne auf die Suche nach alternativen Lebensformen begab. Angestrebt wurde ein Leben im Kollektiv, in dem sich der Einzelne von Konkurrenzund Konsumdenken emanzipieren sollte und in dem ‚freie Liebe‘ und in jeder Hinsicht herrschaftsfreie Beziehungen praktiziert werden sollten. 35 Unter dem Motto „Das Private ist politisch!“ sollte die Revolution im eigenen Alltag beginnen. In ganz Westdeutschland gab es bald zahlreiche ähnliche Wohngemeinschaften, in denen neue Konzepte des Zusammenlebens entwickelt, erprobt und gelebt wurden.
Außerdem wurde viel demonstriert, wann immer sich ein Anlass bot: In erster Linie gegen die Notstandsgesetze und gegen den Vietnamkrieg, aber auch für eine Demokratisierung der Hochschulen und gegen Kapitalismus und Imperialismus im Allgemeinen. Gesellschaftliche Machtverhältnisse wurden öffentlich zur Debatte gestellt, man hielt kritische Vorträge und Diskussionen ab, bildete Komitees, veröffentlichte Flugblätter und Manifeste und besetzte Hörsäle. Im Rahmen von ‚Teach-ins‘ verständigte man sich über politische Fragen, in ‚Sit-ins‘ propagierte man Gewaltlosigkeit als Mittel im Kampf um eine bessere Welt.
Auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung 1967/68 mangelte es zudem nicht an politischen Ereignissen, die das systemkritische Weltbild der Studenten ebenso bestätigten wie ihre Sehnsucht nach radikaler Veränderung beförderten: In Griechenland putschte sich ein faschistisches Regime an die Macht, nahezu zeitgleich forderte Che Guevara: „Schafft zwei, drei, viele Vietnam!“. In Nigeria brach nach der Unabhängigkeitserklärung der Region Biafra ein blutiger Bürgerkrieg aus. Im Juni wurde der Demonstrant Benno Ohnesorg in West-Berlin von einem Polizisten erschossen, Tage später begann der israelisch-arabische Sechstagekrieg. Unterdessen massakrierte die bolivianische Militärjunta gewerkschaftlich organisierte Minenarbeiter. Im August verübten Gudrun Ensslin und Andreas Bader in West-Berlin einen Rauchbombenanschlag, einen Monat später hielten Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl das so genannte ‚Organisationsreferat‘, in dem erstmals von einer ‚Stadtguerilla‘ die Rede war. Im Oktober erschoss das bolivianische Militär Che Guevara; kurz darauf legten Andreas Baader und Astrid Proll 36 anlässlich einer großen Demonstration gegen den Vietnamkrieg einen Brandsatz ins West-Berliner ‚Amerikahaus‘.
1968 überschlugen sich die Ereignisse: In Kambodscha begannen die Roten Khmer mit dem Guerillakampf. In Vietnam starteten nordvietnamesische Truppen und Vietcong ihre ‚Tet-Offensive‘ gegen die südvietnamesische Regierung und die US-Armee. Mitte Februar fand an der Technischen Universität Berlin ein vom SDS mitorganisierter ‚Internationaler Vietnam-Kongress‘ statt. Unter dem Motto „Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen“ versammelten sich mehrere Tausend Teilnehmer aus 14 Ländern. Im Abschlussbericht des SDS hieß es: „Solidarität mit dem vietnamesischen Volk bedeutet für uns, Ho Chi Minhs Aufforderung […] ‚Errichtet die Revolution in eurem eigenen Land‘ zu übernehmen [.,.].“ 37 Kurz darauf legten Andreas Baader und Gudrun Ensslin Brände in Frankfurter Kaufhäusern.
Zwei Tage später wurde in den USA der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King ermordet, eine Woche darauf schoss ein junger Neonazi Rudi Dutschke in den Kopf. Demonstrationen und gewalttätige Aktionen gegen den Springer-Verlag waren die Folge, dessen Hetze gegen die Studenten man für das Attentat mitverantwortlich machte. Im Mai 1968 kämpften in Paris Studierende und Arbeiter auf Barrikaden, es kam zu mehrwöchigen Streiks, an denen bis zu zehn Millionen Menschen teilnahmen – die ‚Revolution‘ schien zum Greifen nahe. In Bonn demonstrierten unterdessen 70 000 Menschen gegen die Notstandsgesetzgebung – zwei Wochen später wurde sie dennoch verabschiedet. Im August walzten sowjetische Panzer den ‚Prager Frühling‘ nieder, im Oktober verübte die mexikanische Regierung im Vorfeld der Olympiade ein Massaker an demonstrierenden Studenten.
Auch wenn die Bewertung der hier nur skizzierten Dynamik, die gemeinhin unter dem Schlagwort ‚1968‘ zusammengefasst wird, je nach politischem Standpunkt unterschiedlich ausfallen muss – dass sich hier gesellschaftlich vielerorts Elementares bewegte oder zumindest bewegen wollte, ist offensichtlich. Ebenso liegt auf der Hand, dass diese Ereignisse im dichotomen System des Kalten Krieges als Kampf des ‚Guten‘ gegen das ‚Böse‘ interpretiert werden konnten. Ob aus ‚linker‘ oder ‚rechter‘ Perspektive: Alles schien mit allem zusammenzuhängen – und vieles hing tatsächlich zusammen. Vorherrschend war jedenfalls das Gefühl, dass es ‚ums Ganze‘ ging, das genau jetzt die Weichen für die Zukunft gestellt würden, dass Geschichte zu machen sei – notfalls mit Gewalt. Schließlich wandte der Gegner auch Gewalt an.
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