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Kants Neugier
KANTS NEUGIER
Selten findet man den Antrieb, der einen das Leben lang verfolgt, so klar formuliert wie bei Immanuel Kant, einem der größten Philosophen der Menschheit. Er steht am Ende seiner „Kritik der praktischen Vernunft“, und am Ende seines Lebens auf seinem Grabstein, zu seinem 200. Todestag 2004 stand er auf dem Titel des SPIEGEL: „Nichts erfüllt das menschliche Gemüt mit mehr Ehrfurcht und Bewunderung als der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Was wir nun tun, ist wissenschaftlich frivol: Wir wollen Kant in fünf Sätzen erklären. Kant war überzeugt, dass es nicht die Erfahrung ist, die uns allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten verschafft – denn sie müssten ja ständig neu bewiesen werden. Wo hört das Universum auf? Es hört nicht auf – doch wir können uns Unendlichkeit nicht vorstellen. Aber wir können es wissen.
Das ist Kants Neugier: Prinzipien des Wissens, die unabhängig von Erfahrung funktionieren. Diese Prinzipien „a priori“, unabhängig von der Erfahrung, sind Kants große Entdeckung: Im Denken können synthetische Urteile entspringen, Gesetze, denen etwas hinzugefügt wird, was unabhängig von Erfahrung ist, sondern dem Denken entspringt. Es wird also immer ein selbstständig denkendes und deshalb freies Wesen vorausgesetzt: Niemand, nur das Denken selbst kann Dir mitteilen, was wahr und falsch, gut und schlecht, was schön und hässlich ist. Kants Entdeckung (je)des Menschen als selbst denkendes und deshalb freies Wesen löste eine Revolution aus.
Das Zeitalter der frühen Aufklärung wurde die Ära der meinungsbildenden Medien, der Zeitungen. Schon 1700 gab es in Deutschland 58 Journale, zehn Jahre später waren es bereits 122 offizielle Zeitungen, weitere zehn Jahre später 241, gefüllt mit Sensationsgeschichten und Neuigkeiten aus der Gesellschaft, aber auch mit eine beträchtlichen Menge an historischem, politischem und philosophischem Inhalt. Trotz Zensur wurden bis 1790 in über 3.400 meist wöchentlich erscheinenden Journalen und Magazinen die Ideen der Leibniz-Wolff-Schule, von dem Königsberger Philosophen Immanuel Kant und anderer Vertreter diskutiert und verbreitet. Vor allem in den protestantischen Hochburgen, den Handelsstädten Leipzig, Frankfurt, Hamburg und den Universitätsstädten Halle und Jena erfreuten sich Zeitschriften immer größerer Beliebtheit. Immer stärker nahm auch die Zahl der kleinen Regionalzeitungen zu. Desgleichen erfuhren Bücher eine rasante Konjunktur. Waren es in den 1760er Jahren zwischen 2.000 und 3.000, so stieg die Zahl der Neuerscheinungen bis zum Ende des Jahrhunderts um fast 11.000 pro Jahr an. Und es wurde nicht nur von Intellektuellen gelesen. Auch ärmere und ungebildetere Schichten wurden ein Lesepublikum, das sich durchaus auch mit politischen und philosophischen Ideen, Texten, Gedichten und Romane der zeitgenössischen Dichter und Denker von Shakespeare bis zu den einschlagenden Werken von den politischen Ideen Montesquieus, Herders und Rousseaus, schließlich den poetischen Werken von Wieland, Lessing, Goethe und Schiller, der ein großes Interesse an der Verbreitung eines neuen, aufgeklärten Nationalgeistes hatte. Der Buchdruck erntete zum ersten Mal seine positiven Früchte: die der Individualität, der Persönlichkeit, des Menschen als „Zweck an sich“.
Licht, Liebe, Leben: Aufklärung nach Kant
LICHT, LIEBE, LEBEN: AUFKLÄRUNG NACH KANT
In der epochalen Phase Deutschlands zwischen 1795 und 1806, dem Ende des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ und dem Aufstieg der preußischen Regierung entstehen die wichtigsten kulturellen Errungenschaften des Landes auf dem Gebiet der Literatur und der Philosophie, die Erzeugnisse der heutigen „Klassiker“ und der Philosophen des Deutschen Idealismus, die Deutschland zum „Land der Dichter und Denker“ machten. Den neuen Ideen stand der regulierende, bürokratische deutsche Staat gegenüber. Viele Leute, die sich mit Freiheitsideen, dem Vaterland, Menschlichkeit und Freiheit gleichermaßen befassten und diese Ideen als Gegenpol zum herrschenden Staat betrachteten, waren in der Poesie beheimatet. Denn man war nur innerlich „frei“. Diese innere Freiheit brachte allerdings einen Schatz an Ideen hervor, die wissenschaftlich bis ins Letzte ergründet, aber bis heute pragmatisch noch nicht ausgeschöpft sind. Johann Gottfried Herder (1744-1803) entwickelte in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784-1791) den Gedanken, in der Menschennatur schlummert eine Vielzahl an Entfaltungsmöglichkeiten, die in der Menschheit zum Tragen kommen. Ein Staat sollte nur auf seinen eigenen Werten beruhen: eine große, familienähnliche geschlossene Gemeinschaft mit gemeinsamer Sprache, Religion und historischer Tradition. „Licht, Liebe, Leben“ lautet die Inschrift auf seinem Grabmal.
Der „Dichterfürst“ Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) hatte ein großes Interesse an den kulturellen Errungenschaften seiner Zeit. Er schloss sich wie die Dichter Herder, Klopstock, Lessing, Wieland der Freimaurerloge an.
Für Friedrich Schiller (1759-1805) fällt der Kunst die Aufgabe zu, Muster des Sein-Könnens zu liefern. Im Mittelpunkt seines Denkens steht der Begriff der menschlichen Würde, der nach dem Zweiten Weltkrieg von Carlo Schmid in den viel zitierten Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes eingesetzt wird: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Denn Schmid erkannte die eigentliche Qualität der deutschen Tradition: „Die Majestät der Deutschen ruhte nie auf dem Haupte seiner Fürsten. Abgesondert von dem politischen hat der Deutsche sich seinen eigenen Wert gegründet, und wenn auch das Imperium unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten. Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und in dem Charakter der Nation, der von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist...“ (24).
Schiller stellt in seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen“ aber fest: Der Mensch „kommt zu sich aus dem sinnlichen Schlummer, erkennt sich als Mensch, blickt um sich her und findet sich – in dem Staat“. Er beansprucht für jeden Menschen die Freiheit im Sinne Kants. Schiller bezeichnete sich im Gegensatz zum Realisten Goethe als Idealisten und bezog seine Begeisterung für die Idee der Freiheit aus der Ethik und Ästhetik Kants. Beide wiederum begeisterten sich für Rousseau. Schillers und Goethes Dichtung sowie Kants Philosophie wurden Evangelien der Freiheitsbewegung. Aber der brennende Wunsch nach einer national verbindlichen Einheit in Freiheit war nicht zu leugnen, das Bemühen jedoch vollkommen umsonst. So sahen es die Dichter Goethe und Schiller, als sie 1795/96 zusammen einen Text verfassten: „Zur Nation Euch zu bilden, Ihr hofft es, Deutsche, vergebens. Bildet, Ihr könnt es, dafür freier zu Menschen Euch aus!“ (Xenien). Viele Zeitungen, die diese neuen geistigen Produkte aus Deutschland diskutierten, entstanden in dieser Zeit, und sorgten für die Verbreitung der Ideen von Kant, Goethe und Schiller. Die Deutschen griffen begierig zu: die Auflage lag um 1780 bei 30.000, 1803 waren es schon 50.000 verkaufte Exemplare. Der Buchhändler und Verleger Friedrich Nicolai verlegte zwischen 1765 und 1806 die „Deutsche Allgemeine Bibliothek“, sein erfolgreichstes Projekt unter vielen. Moses Mendelssohn und Nicolais Freund Gotthold Ephraim Lessing publizierten ebenfalls in dem Berliner Verlag. Der Bewunderer von Friedrich II. galt als Oberhaupt der aufklärerischen Bewegung, obwohl er später Goethe, Kant und Rousseau scharf attackierte. Langsam sickerte unter der preußischen Zensur immer stärker der Wunsch nach einer demokratischeren Republik durch. Diese Freiheit wurde jenseits des Atlantischen Ozeans realisiert: Die Unabhängigkeit Amerikas vom europäischen Kontinent, die 1776 mit der „Declaration of Independence“ besiegelt und 1783 in Paris anerkannt wurde.
Der deutsche Staat: Die Mensch-Maschine
DER DEUTSCHE STAAT: DIE MENSCH-MASCHINE
Drei junge Intellektuelle, die 1795 in einer Tübinger Wohngemeinschaft leben, formulieren berauscht von den neuen Ideen der Aufklärung durch Kant und Schiller einen Sprengsatz, in dem sie deutlich machen, dass die Wirklichkeit in keinster Weise mehr den Ideen der Zeit entspricht. Diese Wirklichkeit ist der bestehende Staat, in dem sich die Freiheit nicht entfalten kann. Ihm setzen sie die neuen Ideale der Schönheit und eine neue Mythologie, die „Mythologie der Vernunft“ entgegen. Aus einer Mischung zwischen Religion und Ästhetik soll sie der „Menschheit“ endlich Seelenheil verschaffen. Es handelt sich um die beiden Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling sowie den Dichter Friedrich Hölderlin.
Diese drei späteren Vertreter des „deutschen Idealismus“ stimmen, wie alle anderen Vertreter dieser Richtung nach Kant, darin überein, den Menschen nicht lediglich als ein durch mechanische Ursachen oder durch sinnliche Anreize bestimmtes Naturwesen, sondern als geistiges Wesen zu betrachten, das sich über die Einschränkungen der Natur erheben und aus sich heraus eine geistige Welt erzeugen kann, in dem die Werte des Wahren, Guten und Schönen Gestalt annehmen können; dass sich jeder Mensch von den Fesseln der Notwendigkeiten befreien und Aufgaben lösen kann, die ihn über sich hinausführen – darin liegt seine Freiheit. Der Mensch macht sich zu dem, was er sein kann, und er ist nichts anderes als das, was er ständig aus sich hervorbringt. Er ist ständige Bewegung, Tätigkeit, Leben, und darin frei. Diese Freiheit hat nichts mit Willkür oder Beliebigkeit zu tun, sondern mit Aufmerksamkeit, Hingabe und Verantwortung. Dies ist nach den deutschen Idealisten die wahre Bestimmung des Menschen, die zum ersten Mal bei Kant deutlich geworden ist, als er den Menschen als selbst denkendes Wesen erkannt hatte. Aber gerade auf dem Gebiet des Rechts und im politischen Leben treffen Freiheit und Zwang, Macht und Ohnmacht in Deutschland hart aufeinander.
Ihr „Systemprogramm“, eine Art Flugblatt der Aufklärung, will den hinderlichen deutschen Staat gleich abschaffen: „Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also auch über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muss freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören (...)“. Die Autoren wollen den Staat ganz abschaffen, weil es in ihrer Vorstellung gar keinen anderen Staat geben kann als den Maschinenstaat, vor denen sich jeder, der die Freiheit liebt, in Schutz bringen muss. Die Aufklärung bringt ihre ersten Früchte. Vorbei war es mit der einfachen Handhabung, jeden Menschen einer Rolle in einem Staat unterzuordnen. Aber ein „Reich der Freiheit“ war auch nicht unbedingt sofort auszumachen. Die Polarität Staat-Mensch blieb in der deutschen Realpolitik bestehen. Wie anders klingt da zum Beispiel die Amerikanische Verfassung nach der Vorlage der „Federalist Papers“, allein das erste Wort: „We, the American people...“. Den Mitgliedern der neuen amerikanischen Gemeinschaft wird die Verfolgung des persönlichen Glücks („the pursuit of their own happiness“) auferlegt – und der Staat ist auf nichts als „Meinung“ begründet („that all government rests upon opinion“). Für Deutsche bis heute kaum nachvollziehbare Gedanken. Und undenkbar, so etwas in der deutschen Verfassung wiederzufinden. Dort kämpft man sich bis heute mit der „Würde“ ab.
Hegels Wende – Das Ende der grossen Freiheit
HEGELS WENDE – DAS ENDE DER GROSSEN FREIHEIT
Wenn dieses Systemprogramm der drei Idealisten abgearbeitet ist, „herrscht ewige Einheit unter uns. (...) Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des einzelnen sowohl als aller Individuen. (...) Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muss diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein.“ 1806 steigt dieses vermeintlich höhere Wesen in Jena zur Begeisterung des Autoren Hegel direkt vor ihm vom Pferd: Napoleon Bonaparte. Er denkt, dass der Mann auf dem Pferd sein höheres Wesen ist, das die Signale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit vor sich herträgt. Seine Ansprüche, die im Systemprogramm formuliert sind, verwirklicht er nicht. Im Gegenteil: Speziell seine geistige Entwicklung kann man als grandiose Dialektik, als Abkehr dieses Programms in ihr Gegenteil sehen – nämlich dadurch, dass er mit diesen Ideen wiederum Staat macht.
Hegel selbst aber reitet bald schon – als Berliner Professor im Auftrag des preußischen Fürsten unterwegs – auf seinen Prinzipien der Dialektik herum, die alles erklären können, durch die Institutionen. Der Diplomat und Beamte Wilhelm von Humboldt gründet 1809 die neue Universität Berlin und legt damit den Grundstein für eine neue, liberale Entfaltungsmöglichkeit des am Boden liegenden preußischen Staates durch universelle Bildung und die Schaffung eines „Rechtsstaates“ und eine Wirtschaft. Sein Ziel: Die intellektuelle, politische und wirtschaftliche Führerschaft über Frankreich. Sein Mittel: Die neue, frei gesetzte Energie der Aufklärung in der deutschen Bevölkerung. Sein Vertreter an der Universität: Hegel. Und Hegel sagt: „Alles, was wirklich ist, ist vernünftig, und alles, was vernünftig ist, ist wirklich“. Das ist ein Killersatz. Die Anbetung der Vernunft wird zum Dreh- und Angelpunkt seiner Konzeption, „der Mensch“ als höhergeleitetes Vernunftwesen das Maß aller Dinge – im Gegensatz zu „den Menschen“. Friedrich Schillers Konzeption von einem „ästhetischen Staat“, das Hegel früher für ein „Meisterstück“ hielt, findet er jetzt „nicht tragisch, sondern entsetzlich“. Durch die Ironie dieses Schicksals wird der gleiche Mann, der früher den Staat abschaffen wollte, später offiziell Preußens erster Staatsphilosoph und interpretiert den Staat als „Verwirklichung göttlicher Ideen". Der einstige Schiller- und Napoleon-Fan Hegel konvertiert zum Ideologen, der seiner eigenen Erfindung, der Dialektik, erliegt. Wie es sich für den genialen Dialektiker gehört, verwandelt er seinen „Staat“ in die bereits verwirklichte Form jener Ideen, die ihm früher mal vorschwebten. Vielleicht ist dies die fatalste Entwicklung der deutschen Kultur: die Tatsache, dass der deutsche „Rechtsstaat“ heutiger Prägung wiederum von einem Idealisten begründet wird.
Eines muss man Hegel lassen: Er sieht in der Schlacht von Jena, die er 1806 selbst erlebt hatte, das Ende der Weltgeschichte, weil hier die Werte der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – den nationalstaatlichen Armen Napoleons entrissen wurden. Denn nun ist es seiner Meinung nach nur noch eine Frage der Zeit, wann Vernunft und Freiheit in einem Staat zusammenkommen.
Sein „Rechtsstaat“ beansprucht, „die Allgemeinheit der Rechtsqualität aller zu sein“ – ohne die Mitglieder der Nation konkret zu fragen. So sind in der deutschen Kultur auch nach der Blüte von Aufklärung, Idealismus und Romantik die alleinig bestimmenden Instanzen: Herrschaft und Bürokratie. Hier ist er wieder, nach den glorreichen Ideen von Freiheit und der Entdeckung des Menschen wie Phoenix aus der Asche: der alles dominierende deutsche Staat.
Hegel bezeichnete seinen Staat als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (Grundlinien §257). „Die Rechtsphilosophie – darin liegt das Geheimnis ihrer gedanklichen Provokationen und ein Schlüssel zu ihrer wechselvollen Wirkungsgeschichte – ist philosophisches Lehrbuch und politische Publizistik, gelehrter Traktat und aktuelle Kampfschrift in einem.“ (Riedel 1975:11f.) „Trotz aller Polemik gegen den Fichteschen Polizeistaat, in welchem „Alles nach der Schnur geht“, ist der Hegelsche Freiheitsstaat viel schlimmer als jener – eine rechtfertigende Konstruktion der faktisch in Preußen waltenden Polizeigelüste.“ (Haym in Riedel 1975:389) Es tritt also das Gegenteil von dem ein, was in der revolutionären Freiheitsschrift des Systemprogramms – vom gleichen Autor, Hegel! – die Rede war: Eine Welt für die Menschen zu schaffen. Anders gesprochen: Für das Politische, also die Entfaltung der Freiheit in Gemeinschaft, bleibt keine eigene Authentizität außer der Absorption durch den Staat als Rechtsordnungssubjekt übrig. Damit ist der Typus des politischen Denkens in diesem Kulturkreis (Deutschland) entwickelt. In Hegels Rechtsphilosophie sammeln sich die Ströme, die das deutsche politische Denken der Neuzeit geprägt haben: Die „Politica“ – Staatswissenschaft, das Naturrecht, die Polizeiwissenschaft, der „Transzendentalismus“ (Ernst Vollrath 1987:122). Aber was die deutsche Mentalität angeht, ist der Deutsche Idealismus und daraus resultierende, verklärende Romantizismus um 1800 bis heute „the real German Weltanschauung“ (Friedrich Hertz) geblieben. Und es ist schon erstaunlich, dass Peter F. Drucker noch 1985 betonen muss: „Alle haben erkannt, dass Staatspolitik und Staatsbehörden nicht göttlichen, sondern menschlichen Ursprungs sind. (...) Dennoch geht die Politik immer noch von der Jahrtausende alten Prämisse aus, was auch immer der Staat tue, sei in der Natur der menschlichen Gesellschaft verwurzelt und sei daher „für ewig“. Die Folge ist, dass es bis heute keinen Mechanismus gibt, mit dessen Hilfe ein Staatswesen Altes, Ausgedientes und nicht mehr Produktives abstreifen kann.“ (Drucker 1985:364) Das trifft in bedeutender Weise auf Deutschland zu. Das Problem: Die Vereinigung aller guten Ideen der Aufklärung und des deutschen Idealismus führt in Deutschland nicht zu einer Umkehrung der Verhältnisse zwischen Staat, Gesellschaft und Mensch, sondern offenbar zwangsweise zu einer Neu-Verfassung des Staatsgebildes. Etwas anderes als „der Staat“ scheint gar nicht denkbar. Die Realität Deutschlands ist bis heute der „Staat“ in der Vorprägung Hegels.
Nur, wo „Staat“ ist, ist Macht – auch nach der deutschen Revolution und der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848. „Die Bahn der Macht ist die einzige, die den gärenden Freiheitstrieb befriedigen und sättigen wird, der sich bisher selbst nicht erkannt hat. Denn es ist nicht bloß die Freiheit, die der Deutsche meint, es ist zur größeren Hälfte die Macht, die ihm bisher versagte, nach der es ihm gelüstet“, sagt allen Ernstes der Verfassungs-Entwickler Friedrich Christoph Dahlmann in seiner Rede in der Nationalversammlung am 22. Januar 1849 (in Bleek 2001:149). „Die Macht ist das Prinzip des Staates“, sagt Treitschke in „Bundesstaat und Einheitsstaat“ (1864, zitiert in Bleek 2001:153), und zwar, „dass das Wesen des Staates zum Ersten Macht, zum Zweiten Macht und zum Dritten Macht ist“. Für den Historiker Friedrich Meinecke ist dies der klassische Beleg für die Wende von der Priorität des Freiheitsideals zum Vorrang des Machtgedankens (vgl. Bleek 2001:149).
A melancholic state of mind
A MELANCHOLIC STATE OF MIND
Es ist wohl ein einzigartiges Vorkommnis in der Weltgeschichte, dass Philosophen und Verfassungsrechtler dem „Staat“ traditionell so viel Autorität zukommen lassen wie in Deutschland. So viel Macht in der Hand des Staates, das kann nicht gut gehen. Auf Macht folgt Ohnmacht. In der Abenddämmerung des deutschen Idealismus und der Romantik beginnt der Aufstieg der typisch deutschen Melancholie. Sie wird in einer Gesellschaft besonders da auffällig und präsent, wo ein Volk oder eine Volksgruppe wieder und wieder scheitern, ihre Interessen durchzusetzen, wo sie sich als Untertanen einer Obrigkeit ausgesetzt fühlen, wo sie ihre Utopie verlieren. Das führt zu einem verminderten Bewusstsein der Eigenständigkeit, zu Minderwertigkeitskomplexen und Resignation. Bei einer übermächtigen Hand des Staates wie in Deutschland entsteht die Gefahr der Schicksalsergebenheit. Der wachsende Einfluss der Niedergeschlagenheit in Deutschland wird besonders bei Arthur Schopenhauer deutlich. In gewisser Weise ist der Hegel-Hasser Schopenhauer Nachfolger der idealistischen Schule, aber vor allem der Auslöser einer Bewegung unter Philosophen, die mit dem Scheitern von 1848 einhergeht und versucht, sich aus der Verstrickung dieser Übermacht durch das eigene Denken, die Persönlichkeit und das Leben zu befreien: Die Romantiker.
Wenn man jemanden benennen will, der die für uns vollkommen geläufige andauernde Kritik am Staat – und das ist der Staat Hegels – erfunden hat, dann ist das Arthur Schopenhauer. Weil man sich in Deutschland mit dem Staat identifizieren muss, wenn man sich mit seiner nationalen Kultur identifizieren will, hasst Schopenhauer konsequent jede Form von Nationalstolz: „Der Intelligente erkennt immer die Mängel seiner Nation. Der Dumme ist einfach nur stolz darauf“. Er fasste den klugen Entschluss, sich nicht an der herrschenden Staatskonzeption abzuarbeiten, sondern zu zeigen, worauf es im Leben ankommt. Seine prominentesten Schüler waren Richard Wagner und Friedrich Nietzsche. Nietzsche hat diesen melancholischen Rückzug klar formuliert: „(...) indem man zum Natürlichen zurückzufliehen glaubte, erwählte man nur das Sichgehenlassen, die Bequemlichkeit und das möglichst kleine Maß von Selbstüberwindung. (...) Sind sie (die Deutschen, d.A.) doch das berühmte Volk der Innerlichkeit“ (Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen (275)). Diese „Innerlichkeit“, die wir schon bei Luther finden, ist ein Zeichen der Resignation und der Kompensation der Erfolglosigkeit, die man mit dem berühmten deutschen Wort „Gemütlichkeit“ kenntlich machen kann.
Melancholie speziell deutschen Zuschnitts – Verzweiflung an der Obrigkeit – hat Tradition. Zahlreiche literarischen Schriften sind Zeugen dieser Grundstimmung: Allen voran Johann Wolfgang von Goethes „Werther“, der eine Selbstmordwelle auslöste. Oder Karl Philipp Moritz’ „Anton Reiser“, der ihr in Gestalt der „Mönchskrankheit“ begegnet, jene Lethargie, die „seine Kraft gegen sich selbst kehrt, weil sie nicht nach außen wirken kann, und den Wankenden und Unentschlossenen in jedem Moment seines Lebens mit sich selbst unzufrieden macht.“ (Moritz 1971:21) Der Universalgelehrte Wilhelm von Humboldt analysiert diese Zeit der „Werther“-Krankheit als eine Zeit, „wo man häufiger als sonst Passivität und Schlaffheit mit Bildung und Geistesfähigkeit vereint antrifft. (...) Dies ist eine kränkelnde Gemütsstimmung, die auch unserem Zeitalter, mehr als dem vorherigen, sogar unserer Nation, mehr als den Auswärtigen, eigen ist.“ (zit. in Lepenies 1998:197) Er weiß im Prinzip aber auch die Lösung: „(...) wir bedenken nicht, dass ein Leben, das keine große That, kein wichtiges Werk, nicht einmal das Andenken an eine nützliche Geschäftigkeit unter einer größeren Anzahl unserer Mitbürger hinterlässt, ein verlorenes und verschwendetes Leben ist.“ (ebd.)
Gleichzeitig erscheint in der Melancholie der menschliche Zug. Vorbei ist die Idealisierung „des Menschen“ als ein höhergeleitetes Wesen, das Idealbild, das niemand ausfüllen kann. Nietzsche fleht, nicht der Melancholie oder der Angst zu verfallen, sondern sich der Leichtigkeit, Möglichkeit und Heiterkeit des Lebens bewusst zu werden – durch das „möglichst kleine Maß an Selbstüberwindung ... warum an dieser Scholle, diesem Gewerbe hängen, warum hinhorchen nach dem, was der Nachbar sagt? Es ist so kleinstädtisch, sich zu Ansichten zu verpflichten, welche ein paar hundert Meilen schon nicht mehr verpflichten. (...) Niemand kann Dir die Brücke bauen, auf der gerade Du über den Fluss des Lebens schreiten musst, niemand außer Dir allein. (...) Es gibt in der Welt in der Welt nur einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann, außer Dir. Wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn.“ (Unzeitgemäße Betrachtungen III: 340) Das ist Kants „Zweck an sich“ und Nietzsches Neugier. Sein berühmter „Wille zur Macht“ bedeutete übrigens Macht über sich selbst, die Fähigkeit, über sich hinauszuwachsen, genau im Sinne dieses Zitats. Was seine Schwester ihrem rechtskonservativen Mann zuliebe aus Nietzsches Texten gemacht hat, als dieser längst im Irrenhaus saß, ist eine andere Geschichte. Aber nur dieser Verdrehung der Inhalte Nietzsches ist die aberwitzige Groteske der Geschichte zu verdanken, dass Elisabeth Foerster-Nietzsche gemeinsam mit Adolf Hitler einen Kranz auf Nietzsches Grab niederlegt.
Angesichts der zeitgenössischen gesellschaftlichen Entwicklungen wird Melancholie, die Verzweiflung an der eigenen Unfähigkeit, sich selbst zu entwickeln und sich gegen die Institutionalisierung der Freiheit durch den Staat durchzusetzen, in Deutschland geradezu zur Zuflucht, zur Sucht. Die deutsche Volksseele – eine feine Art der Verzweiflung. Erst im Zeitalter der Industriellen Revolution, der Geburtsstunde des Fortschritts, sah das Bürgertum zum ersten Mal die Chance, sich durch Arbeit mit dem Adel auf eine Stufe zu setzen und die staatliche Macht mit ökonomischer Macht zu überwinden und gleichzeitig „von der ehemals gesuchten Melancholie loszukommen“ (Lepenies 1969: 204). Tatsächlich verabschiedet man sich im deutschen Kulturkreis von den Werteparadigmen, die sie selbst geschaffen hat – Aufklärung, Idealismus, Romantizismus – und wendet sich den Idealen des kartesianischen, mechanistischen Weltbildes mit ihrer klassischen Trennung von Körper und Geist und der Naturwissenschaft zu, deren Erkenntnisse sich immer besser industriell verwerten lassen.
Die Menschen und ihre Befindlichkeit bleiben allerdings im Zuge der Industrialisierung auf der Strecke. Sie, die gerade noch durch ihre Philosophen ihre Selbstbestimmung vor Augen hatten, geraten in die nun realen Maschinenhallen der Fabriken. Sie empfinden und akzeptieren ihr Dasein als sinnlos und treten die Flucht in die Natur, in die Einsamkeit oder in den Tod an. Wie bei Kierkegaard zu lesen ist, der alle Menschen für langweilig hält, schließlich bei Sigmund Freud, später dem brillanten und tragischen Essayisten Walter Benjamin und den Schriftstellern Gottfried Benn, Rainer Maria Rilke, Georg Trakl, Thomas Mann, Robert Musil, den Kulturkritikern Heidegger und Adorno.
William James, von 1867 bis 1868 Medizinstudent in Berlin, war von der deutschen Grundstimmung so erfasst, dass er daraufhin seinen Pragmatismus „erfand“, um sich von der in Deutschland erfahrenen Melancholie zu befreien: „Oh God! An end to idle, idiotic sinking into Vorstellungen disproportionate to the object“ (zit. in Melancholie 182). Melancholie – nicht zuletzt ein Erbe der protestantischen Lehre Luthers, seit der man sich mit sich selbst auseinandersetzen muss – ist für William James „der Niedergang der Lebensneugierde“. Sie entsteht aus Enttäuschung über die vorgefundene Wirklichkeit und die Unfähigkeit, jene Brücke zwischen Wirklichkeit und Ideal zu gehen, die Nietzsche nahegelegt hat. Es ist übrigens die persönliche Kommunikation und die reale Beziehung mit anderen Menschen und der Wille zu tatkräftiger Arbeit, die ihn rettet: „For the remainder of the year, I will abstain from the mere speculation and contemplative Grübelei in which my nature takes most delight, and voluntarily cultivate the feeling of moral freedom, as well by acting. (...) Not in maxims, not in Anschauungen, but in accumulated acts of thought lies salvation“ (Letters, Vol. 1, 147f., zit. Melancholie 184).
Die Diskrepanz zwischen der Freiheit zur Selbstverwirklichung aus der Aufklärung und der ständigen Behinderung durch den „Staat“ als ordnende Form zieht sich, wie wir gesehen haben, wie ein roter Faden durch die deutsche Kulturgeschichte. Geblieben ist die traditionelle latente Gewohnheit, viele Dinge als schicksalsergeben hinzunehmen, die eigentlich in unsere private Lebensplanung fallen könnte. Nicht nur die Rente, auch die Karriere. „Sie alle würden die Frage: ‚wozu lebst du?’ schnell und mit Stolz beantworten – um ein guter Bürger, oder Gelehrter, oder Staatsmann zu werden – und doch sind sie etwas, was nie etwas Anderes werden kann, warum sind sie dies gerade?“. Nietzsche meint damit seine Zeitgenossen, die Angestellten seiner Zeit. Hat sich daran etwas geändert?