Kitabı oku: «Skelett des Grauens», sayfa 2

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2) Mittwoch

Ein langer anstrengender Arbeitstag, der an Petras Körper zehrte, neigte sich langsam, aber sicher dem verdienten Ende entgegen. Ich bin auch nicht mehr die Jüngste. Vor ein paar Jahren machten mir solche langen Tage viel weniger aus als heute. Sie sass an ihrem Schreibtisch im Büro der aargauischen Kriminalpolizei in Aarau, und freute sich auf einen gemütlichen, erholsamen Feierabend. Sie würde mit Ulrich auf dem Balkon sitzen, ein Glas Wein trinken und den Herbstabend geniessen. Zunächst aber nervte sie eine lästige, wild umherschwirrende Fliege. Was hast du eigentlich für einen Nutzen, du kleines Mistviech? Warum bist du bloss auf dieser Welt? Mit einem Teil der heutigen Tageszeitung versuchte sie die Fliege zu erschlagen, ihrem sowieso nutzlosen Leben, ein Ende zu machen. Die ersten Angriffe missrieten vollends. Aber immerhin schaffte es Petra, dass sich die Fliege davonmachte und nun in einem anderen Teil des Büros umhersurrte. Bleib bloss wo du bist, sonst reiss ich dir deine Flügel aus, einer nach dem andern, schön genüsslich. Selber schuld, jawohl! Habe ich etwa eine sadomasochistische Ader in mir, wenn ich solche Sachen denke? Ach Quatsch, Sadomaso ist nichts für mich. Oder doch? Ich hab’s ja noch gar nie ausprobiert. Es gibt offenbar viele Menschen, die darauf stehen. Aber Sex ist doch was Schönes, Erotik muss doch vor allem Spass und Vergnügen sein. Wenn man Schmerzen hat, so kann es bestimmt keine Freude machen. Vielleicht mal ausprobieren, nur ganz wenig? Nein, ich glaube, das ist nichts für mich.

Petra schloss ihre müden und gereizten Augen, in denen sie ein unangenehmes Jucken verspürte, vor allem im rechten Auge. Wieder mal zu lange in den Bildschirm geschaut. Immer das blöde rechte Auge. Also, die Kriminalkommissare im TV und Kino müssen sich nie mit so viel Schreibtischarbeiten rumschlagen wie ich. Die haben für sowas immer irgendwelche Assistenten. Sie hielt ihre Arme in die Luft, kreiste mit ihren Schultern und bewegte sachte ihren Kopf in alle Richtungen. Schön langsam, nichts überstürzen, sonst krieg ich wieder Kopfschmerzen.

Dr. Emanuel Wohlers, ihr Neurologe, war bei ihrem letzten Kontrolluntersuch mehr als zufrieden mit ihr. Sie hatte es jetzt schon seit einem halben Jahr geschafft, pro Monat nicht mehr als an zehn Tagen Schmerzmittel zu sich zu nehmen, was sie durchaus als Erfolg verbuchen konnte. «Wissen Sie, Frau Neuhaus», meinte Dr. Wohlers, «ihr Körper muss lernen, mit den Kopfschmerzen zu leben, auch ohne, dass sie sich jedes Mal gleich einige Pillen einwerfen. Versuchen Sie sich zu entspannen, sagen Sie auch mal Nein und lernen Sie zu erkennen, was Ihnen guttut. Das hilft oft besser als jede Chemie.» Nebst den chronischen Kopfschmerzen hatte sie auch ihre langjährigen Depressionen viel besser im Griff als noch vor Jahren. Zurzeit war sie daran, ihre Antidepressiva kontinuierlich zu reduzieren. Sie hatte sich zum Ziel genommen, bis in spätestens zwei Jahren vollkommen davon befreit zu sein. In die Psychotherapie ging sie schon seit einem halben Jahr nicht mehr, sie wollte ihr Leben alleine in den Griff bekommen und meistern.

Petra stellte ihren Computer mit Namen «Harry» ab, stand auf und ging langsam zum Fenster, das sie öffnete. Ihr Blick richtete sich zur Aare hinunter und sie sehnte sich danach, wieder mal im Fluss zu baden. Auch wenn es schon September war, so sollte das doch dieses Jahr noch möglich sein, dachte sie sich. Warm genug war es auf jeden Fall noch. Wie oft bin ich früher hier am offenen Fenster gestanden und habe meine geliebten Marlboros geraucht. Ach Gott, bin ich froh, dass das hinter mir liegt und vorbei ist. Bin ich wirklich froh? Manchmal habe ich schon etwas Lust dazu, aber nein, ich hab’s Ulrich versprochen. Ich darf ihn nicht anlügen und hintergehen. Ungesund ist es ja sowieso, das weiss ich ja.

«Bist du schon in Feierabend-Stimmung?» Erwin Leubin trat forsch in Petras Büro. «Es gibt Neuigkeiten von unserem Baustellenskelett.»

«Ach ja, dann erzähl schon.» Seit Montag als die Knochen durch Ibrahim Mansour ausgegraben wurden, konnte sie in diesem Fall nicht viel unternehmen. Sie musste zunächst mal wissen, um welche Knochen es sich beim Toten handelte. Die Forensiker hatten mittlerweile grosse Teile des Skelettes geborgen und wie ein Puzzle zusammengefügt. Kein Job für mich, dachte sie diesbezüglich schon oft. Sie bewunderte die Tätigkeit der Forensiker, der Gerichtsmediziner aufrichtig.

«Hier ist der aktuelle Bericht unseres Pathologen Joseph Heidenreich.» Mit diesen Worten überreichte ihr Erwin ein umfangreiches Dokument. Interessiert begann sie den Bericht zu lesen. «Der Kopf wurde mit einer grossen Axt abgetrennt. Oh Gott, wer macht denn sowas?» Ein Schauer durchlief ihren Körper und kopfschüttelnd setzte sie sich wieder an ihren Schreibtisch, sie las weiter. «Also, Heidenreich schreibt, das Opfer war oder ist männlich, wie auch immer. Er war beim Ableben etwa 40 Jahre alt. Beim Opfernamen schreibt er nicht etwa unbekannter Mann, sondern Skelett des Grauens.»

«Ist doch passend, Heidenreich zeigt sich wieder mal von seiner kreativen Seite. Er wird mir je länger, je sympathischer. Mit seiner Fantasie sollte er Kriminalautor werden.»

«Dann soll er aber bitte Kriminalromane schreiben, die auch der Wirklichkeit entsprechen können. Viele Romane, die ich gelesen habe, sind oft grundsätzlich zwar spannend geschrieben, aber ansonsten liegen sie mit ihrer Geschichte vollkommen neben der Realität, jenseits von Gut und Böse. Diese Autoren sollte man verbieten.»

«Tja, das finde ich auch. Aber genau diese unrealistischen Romane landen oft auf der Bestsellerliste und werden dann auch noch verfilmt. Das kannst du nicht ändern Petra, oder willst du die Bücher verbrennen wie im Dritten Reich?»

«Ach hör schon auf, so meinte ich das doch nicht. Auf meiner persönlichen Bestsellerliste findest du diese Bücher sicher nicht. Okay, lassen wir das, ab sofort haben wir also den Mordfall ‹Skelett des Grauens› aufzuklären.» Petra musste kurz über diesen Titel schmunzeln und überflog die weiteren Zeilen. So erfuhr sie, dass der Mordfall vor etwa zehn Jahren verübt worden sein muss. «Gibt es aus dieser Zeit irgendwelche Vermisstmeldungen, auf die unser Opfer passen würde?»

«Ich habe den Bericht von Heidenreich eben erst bekommen und bin damit sofort zu dir gekommen. Ich habe also sonst noch nichts unternommen, hatte dazu keine Zeit.» Erwin Leubin setzte sich gegenüber von Petra auf einen Stuhl. «Sollen wir Schweizweit nach vermissten Männern aus jener Zeit suchen oder nur regional?»

«Natürlich in der ganzen Schweiz, was für eine Frage. Das Opfer kann ja von überall her kommen und hier ums Leben gebracht worden sein. Es ist auch möglich, dass der Mord gar nicht in Hirschthal geschah, sondern dass die Leiche dorthin geschafft wurde. Oder es handelt sich beim Toten um irgendeinen Ausländer, der hier Ferien machte, oder es war ein Asylanwärter.»

«Oh, das wird aber beinahe so was wie die Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen, nicht wahr?»

«Genau, es sei denn, uns kommt der sogenannte Zufall zu Hilfe.» Noch wusste Petra nicht, dass es eben dieser Zufall sein wird, der ihr schon bald eine erste Spur liefern würde. Entschlossen stand die Kommissarin auf, trat zu Erwin und meinte: «Aber weisst du was? Wir machen jetzt Feierabend. Lass uns morgen weitermachen. Nach zehn Jahren kommt es auch nicht mehr darauf an, ob wir den Fall ein paar Stunden früher oder später aufklären.»

Überrascht von Petras Worten stand Erwin auf und sagte leicht irritiert: «So kenne ich dich ja gar nicht. Das ist ja mal eine ganz andere Seite an dir. Aber mir solls recht sein, wenn ich nach Hause zur Familie kann. Also dann bis Morgen, schönen Feierabend.»

«Wünsch ich dir auch.»

Neunzig Minuten später sass Petra auf ihrem Balkon und schaute in den abendlichen Herbsthimmel empor. Zwei Rotmilane schwebten majestätisch umher, immer wieder gejagt von einigen Krähen, wenn die Rotmilane es wagten, zu nahe an deren Revier zu fliegen. Die Milane mussten irgendwo in der Nähe ihr Zuhause haben, denn Petra konnte sie praktisch täglich beobachten. Sie tat dies gerne und sie dachte oft, wie schön es wäre, wie ein grosser Vogel über die Erde zu fliegen. Ein lauer Herbstwind wirbelte die ersten von den Bäumen runter gefallenen Blätter quirlig durch die Luft. Petra machte den Reissverschluss ihrer Strickjacke zu, denn es fröstelte sie ein wenig. Wann kommt denn endlich Ulrich nach Hause? Wenn er da ist, so wird es mir nicht mehr zu kühl sein. Er wird mir die nötige Wärme geben, körperlich wie auch seelisch. Ulrich hatte zwar noch immer seine alte eigene Wohnung in Rombach, aber die meiste arbeitsfreie Zeit verbrachten sie zusammen in der Wohnung von Petra. Daher war der Gedanke, wann Ulrich nach Hause kommt, für Petra ganz normal. In diesem Moment hörte sie denn auch, wie ein Schlüssel ins Türschloss gesteckt und umgedreht wurde, wie sich die Eingangstüre öffnete.

«Hallo, bist du schon da?», tönte es aus der Diele. Ulrich setzte sich auf den Stuhl beim Wohnungseingang und öffnete die Schnürsenkel seiner schwarzen Halbschuhe.

Petra kam ihm vom Balkon entgegen, gerade im Moment, wo er bereits in seinen Hausschuhen um die Ecke der Diele ins Wohnzimmer trat. Beinahe wären sie zusammengestossen. «Hallo Ulrich, schön, dass du zuhause bist.»

Wenig später sassen sie auf dem Balkon, tranken ein Glas Rotwein und assen Brot, Käse und Oliven dazu. Bereits war die Sonne durch den halbrunden Mond am Himmelszelt abgelöst worden. Erste Nebelschwaden schlichen den Sträuchern entlang, wie Geister ohne Köpfe schienen sie sich die Welt einzunehmen, sie wie in einer Märchenwelt zu umhüllen. Auch wenn sich Petra auf den Feierabend gefreut hatte, so war sie in Gedanken noch immer bei der Arbeit, beim Fall «Skelett des Grauens». Nur selten gelang es ihr in der Freizeit von ihren Kriminalfällen loszukommen. Dies entging auch Ulrich nicht. «Gibt es etwas Neues in deinem Fall mit den Menschenknochen von der Baustelle?»

«Ja, es gibt etwas Neues - Der Fall heisst jetzt offiziell ‹Skelett des Grauens›».

«Oh, das tönt ja fast schon so gruselig wie in einem Horrorfilm. Es könnte aber auch ein Titel von Edgar Wallace oder Agatha Christie sein. Die hatten auch immer so tolle Titel wie `Der Mann im Hintergrund` oder `Tod in den Wolken`. Und weiss man schon irgendwas über das Opfer?»

«Ach Ulrich, du weisst doch, dass ich dir das eigentlich gar nicht sagen darf. Du kennst doch meine Schweigepflicht.»

«Eigentlich heisst weder Ja noch Nein, weder kalt noch warm, eigentlich bedeutet eigentlich so viel wie gar nichts. Ach, komm schon, ich wird’s schon nicht sofort der Presse erzählen, morgen früh reicht auch noch. Und wenn du lieb zu mir bist, dann mach ich’s erst in ein paar Tagen.»

Natürlich wusste Petra, dass ihre kleinen kriminalistischen Geheimnisse bei Ulrich sicher aufgehoben waren. Und sie war auch froh, wenn sie mit jemandem über ihre Arbeit sprechen konnte. «Bei den Knochen handelt es sich um ein Skelett eines Mannes, er verstarb, weil ihm der Kopf gewaltsam abgetrennt wurde.»

«Du meinst so richtig geköpft, mit einem Schwert oder so, wie im tiefsten Mittelalter?»

«Kann man so sagen, ja. Beim Ableben war der Mann etwa 40 Jahre alt und die Tat musste wohl so vor zehn Jahren geschehen sein. Tja, und jetzt such du mal einen Mann, der vor zehn Jahren spurlos verschwand. Vielleicht gab es ja nicht mal eine Vermisstenanzeige, dann ist das so ziemlich aussichtslos.»

Ulrich stand nachdenklich auf. Innert Sekunden veränderte sich seine Gesichtsmimik zusehends. In seinem Kopf schwirrten die Gedanken wie auf einer Geisterbahn. Seine Cousine Monika, die hat doch irgendwann mal was von einem Mann erzählt, der von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand. Genau, es war doch offenbar ein Landwirt, der alleine auf einem abgelegenen Hof lebte. Wie hiess denn der schon wieder?

«Was ist denn mit dir los, Ulrich?»

«Ich weiss auch nicht so recht, es gibt da so eine Geschichte, die mir gerade in den Sinn gekommen ist, die muss so um die zehn Jahre alt sein.»

Nun war der kriminalistische Spürsinn von Petra Neuhaus endgültig erwacht, sie stand auf und trat zu Ulrich. «Eine Geschichte? Zehn Jahre? Na, dann erzähl doch mal, mein Schatz. Du weisst, ich liebe interessante Geschichten. Dies liegt ganz einfach in der Natur meines Jobs.»

Ulrich fühlte sich unbehaglich, er mochte nicht, wenn er in die Ecke gedrängt wurde, und von Petra erst recht nicht. Er nahm die Rotweinflasche und schenkte Petra und dann sich selbst nochmals ein. Nach einem kräftigen Schluck sagte er: «Ich habe eine Cousine, die heisst Monika Oeschger, sie kommt wie ich aus dem Mettauertal.»

Das Mettauertal, du meinst wohl das Ende der Welt. Petra versuchte sich zu erinnern, ob sie den Namen schon mal gehört hatte. «Die kenne ich aber nicht, die Monika, oder?»

«Nein Petra, ich glaube, du bist ihr wohl noch nie begegnet. Sie ist auch einiges jünger als ich. Vor etwa zehn Jahren ist sie umgezogen und ich habe ihr damals geholfen. Sie zog in die Nähe von Basel, nach Muttenz. Ob sie immer noch dort wohnt weiss ich gar nicht. Auf alle Fälle hat sie mir damals während des Umzugs von einem Landwirt erzählt, der spurlos verschwunden sei. Ich hatte die Sache schon längst vergessen, aber jetzt nachdem du mir von deinem Skelett erzählt hast.»

Hellhörig spitzte Petra die Ohren, konnte das der bewusste und ersehnte Zufall sein? War es tatsächlich so, dass der verschwundene Landwirt von damals jetzt als Skelett wieder aufgetaucht war? «Und Ulrich, wie hiess der Landwirt?»

«Das ist es ja, ich habe keine Ahnung. Ich weiss nicht mal, ob sie mir damals den Namen überhaupt nannte oder ob ich ihn vergessen habe. Das ist alles so lange her. Ausserdem bin ich ja schon mit 18 Jahren von Zuhause ausgezogen. Ich kenne die Menschen dort eigentlich gar nicht.» Ulrich versuchte sich zu erinnern, er grübelte nach, schüttelte den Kopf. Nein, es war unmöglich, der Name wollte ihm nicht mehr einfallen.

«Okay, komm ruf sie an!»

«Jetzt augenblicklich? Bist du eigentlich verrückt, Petra?»

«Warum denn nicht?»

«Warum nicht? Ich habe doch schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu Monika, ich kenne nicht mal ihre Telefonnummer. Nein, nein, das kannst du dir abschminken. Es tut mir leid, Petra, aber das musst du schon selbst in die Hand nehmen. Das ist dein Job, und nicht meiner.»

3) Donnerstag

Zielstrebig und mit schnellen Schritten verliess Petra den Lift und näherte sich ihrem Büro. Der Lift bot Platz für vier Personen und Petra kam es so vor, als würde konstant eine stinkige Luft den Innenraum des Aufzugs vernebeln. Froh, den Fahrstuhl verlassen zu können, glitt sie auf ihren neuen schwarzen Sneakers, die sie heute zum ersten Mal angezogen hatte, wortwörtlich wie auf leisen Sohlen dahin. Die Schuhe hatte sie Online in China bestellt, für nicht mal ganze neun Schweizer Franken. Eigentlich verrückt, neun Franken für ein Paar Schuhe inklusive Porto, ist bestimmt Kinderarbeit. Und ich dumme Kuh unterstütze sowas noch, ich sollte mich in die Ecke stellen und mich schämen! Ach Scheiss drauf, die Schuhe sind bequem und schön. Man muss ja nicht immer alles so dramatisch sehen. Vielleicht wars ja doch keine Kinderarbeit. Es waren erst wenige ihrer Kollegen und Kolleginnen anwesend. Sie war heute besonders früh dran, denn sie musste herausfinden, was das für ein Mann war, von dem Ulrich ihr gestern Abend erzählte.

Heute Morgen als ihr Wecker sie buchstäblich aus dem Schlaf riss, fiel es ihr schwer aufzustehen. Als sie ins Bett ging hatte sie lange Zeit Mühe den Schlaf zu finden. Es kam ihr vor, als würde sie stundenlang wachliegen, immer wieder kreisten ihre Gedanken um das «Skelett des Grauens». Auf alle Fälle war ihr klar, dass es nicht am exzellenten Rotwein lag, dass sie nicht schlafen konnte, auch wenn sie davon am Vorabend wohl etwas zu viel getrunken hatte. Aber dieser neue Wein der Wiler Trotte, den sie von Ulrich bekommen hatte, der war einfach zu gut, beinahe schon verboten gut. «Calant», so der Name des Weines, war neu und mundete ihr mehr als es eigentlich sein durfte. Aber man ist ja nur einmal jung und das Leben ist zu kurz, um schlechten Wein zu trinken, hatte sie sich gedacht und so war es halt nicht beim einen Glas geblieben, das sie vorgehabt hatte zu trinken. Bis spät in die Nacht hinein sassen Ulrich und sie zusammen, diskutierten über die Arbeit, über Gott und die Welt und genossen vor allem den vorzüglichen Wein. Wie sie der Weinetikette entnehmen konnte, ergeben zwei neue resistente Traubensorten den sehr farbintensiven und kräftigen Wein. Ein Teil der Trauben wurde luftgetrocknet und als Strohwein (mit Restsüsse) gekeltert. Sechs Monate Reifung in Barriquefässern ergänzen die Tannine und die Aromastoffe zu einem fruchtigen, gerbstoffreichen und weichen Wein. Ulrich erzählte ihr in wahren Lobeshymnen von weiteren exzellenten Weinen der Wiler Trotte und sie nahm sich vor, sobald wie möglich an eine Degustation dorthin zu gehen, um sich selbst davon ein Bild zu machen. Die nächste sollte, so Ulrich, im kommenden November stattfinden. Zu diesem Zeitpunkt konnte Petra noch nicht erahnen, dass bis zum Datum der Degustation noch Dinge geschehen, die einen Besuch der Degustation mit Ulrich unmöglich machen würden.

Ein flüchtiger Blick auf ihren Schreibtisch zeigte ihr schnell mal auf, dass seit dem Vortag nichts gravierendes mehr geschehen war. Es gab da zwar einige Haftnotizen, die wohl in ihrer Abwesenheit angebracht worden sind. Aber nach einer kurzen Durchsicht der Texte öffnete sie die mittlere Schublade ihres Schreibtischs, entnahm ihm ein Stück Schokolade und steckte es sich genüsslich in den Mund. Dann startete sie ihren Computer und nach Eingabe des Passwortes «SusanneErotik» begrüsste Harry sie mit einem «Herzlich willkommen Petra».

Schon wollte sie sich in die Datenbank mit den vermissten Personen einloggen, da hielt sie plötzlich inne und sie dachte an Susanne, an die Kriminalpsychologin, mit der sie vor einiger Zeit eine leidenschaftliche und überaus intensive Affäre hatte und daher auch das Passwort des Computers nach ihr benannte. Vielleicht sollte ich mich wieder mal bei Susanne melden, mich mit ihr treffen, ein Glas Rotwein trinken, über alte Zeiten quatschen. Nein, ich darf die Beziehung zu Ulrich nicht gefährden. Ich liebe ihn, aber mit Susanne, da wars irgendwie anders, es hat sich mit ihr so gut und richtig angefühlt. Genau, richtig, aber kann das Richtige auch das Falsche sein? Ich glaube ja auch, dass das mit Ulrich jetzt richtig ist. Und wenn es nur ein Irrtum ist? Vielleicht bin ich gar nicht für eine dauerhafte Beziehung geschaffen.

Sie lehnte sich auf ihrem Bürostuhl zurück, die Lehne des schwarzen Stuhles neigte sich leicht nach unten. Sie verschränkte ihre Arme hinter dem Kopf und schloss ihre Augen. Sie versuchte nicht zu denken, sie wollte bewusst ihre Gedanken ignorieren, auch wenn sie wusste, dass das gar nicht möglich war. Irgendwo hatte sie mal den Spruch gelesen: «Der Mensch kann nicht aufhören zu denken.» Petra wusste nicht mehr wo und wann sie dies gelesen, geschweige denn wer das gesagt oder geschrieben, hatte. Aber für sie waren diese Worte durchaus passend.

«So ein Mist», schnell stand sie auf, ging zum Fenster, zog den Vorhang beiseite, blickte hinunter zur Aare. Das tat sie täglich mehrmals, sie genoss diesen Blick in die Natur hinaus, er gab ihr die notwendige Ablenkung. Auf dem Kiesweg am Ufer, den sie sehen konnte, herrschte bereits emsiges Treiben: Jogger, Spaziergänger mit und ohne Hund, meistens aber mit, dann aber auch Radfahrer, vor allem E-Bike-Radler. Ach, diese E-Bikes. Als ich noch ein kleines Mädchen war, da war ich mächtig stolz auf mein erstes eigenes Fahrrad mit drei Gängen. Wahnsinn, drei Gänge! Und heute? Heute ist Fahrradfahren eine Erholung und keine Anstrengung mehr. Hunde, überall Hunde, ich habe das Gefühl von denen gibt es immer mehr. Da, der Raucher, der schmeisst seine Kippe einfach auf den Boden. Weisst du nicht, dass das niemals verfault, dass sich die Gifte in der Erde freisetzen und ins Grundwasser gelangen? Das habe ich nie gemacht! Ich habe meine Kippen immer schön ordentlich in einen Aschenbecher entsorgt, so wie es sich gehört. Eine einzige Kippe kann 500 Liter Wasser verschmutzen, das habe ich am Sonntag in einem Zeitungsartikel gelesen. Unvorstellbar, aber wahr. Erst kürzlich haben zwei Studien herausgefunden, dass herumliegende Kippen noch tagelang ihr Gift absondern, dass sich das Nikotin noch Tage später in der Luft freisetzen kann. Hmh, warum habe ich das Rauchen eigentlich so geliebt, dass ich es auch heute immer wieder mal vermisse?

Ihr Blick schweifte zurück ins Büro an die Wand mit dem Abreisskalender, sie ging darauf zu, riss die Blätter vom Samstag bis zum heutigen Donnerstag weg und las die Sprüche darauf, die ihr aber überhaupt nicht gefielen, so dass sie die Blätter frustriert in den Abfalleimer warf.

«Ein Abreisskalender ist dazu da, um jeden Tag abgerissen zu werden, deshalb heisst er auch so», meinte unlängst Erwin zu ihr.

Sie vergass es einfach immer wieder, es war ihr auch nicht wichtig genug. Kalendersprüche empfand Petra sowieso meistens doof und sinnlos, einer jedoch gefiel ihr, und das Blatt mit dem Zitat hatte sie denn auch auf ihrem Schreibtisch an die Box mit den Kugelschreibern geheftet, darauf stand «Wunder erleben nur diejenigen, die an Wunder glauben.» Von Erich Kästner. Es kam nicht von ungefähr, dass ihr gerade dieser Spruch gefiel, denn der Autor Kästner hatte es ihr schon lange angetan. Besonders bewunderte sie an ihm seine Vielseitigkeit, dass er Theaterstücke, Romane, Gedichte und Kindergeschichten in gleichermassen guter Qualität verfassen konnte.

Sie setzte sich wieder an den Schreibtisch, startete auf dem PC den Internet-Explorer und begann auf der Suchmaschine die Erkundung nach Monika Oeschger. Eine Polizeiakte gab es nicht von ihr. Scheint wohl eine weisse Weste zu haben. Gibt’s das eigentlich, eine weisse Weste? Petra hatte oft Mühe an das Gute im Menschen zu glauben, sie hatte schon zu viel Schlechtigkeit in ihrem Arbeitsalltag angetroffen, schon zu viele schlimme Sachen erfahren und gesehen. Ulrich glaubte zu wissen, dass Monika vermutlich immer noch in Muttenz oder sonst irgendwo im Kanton Baselland wohnte. Und wirklich, im Telefonbuch fand sie tatsächlich drei Monika Oeschger, die in dieser Region wohnhaft waren. Zum Glück gibt es noch Personen, die sich ins Telefonbuch eintragen lassen, das werden ja immer weniger. Das macht unsere Arbeit auch nicht gerade einfacher.

Petra blickte auf ihre Armbanduhr, es war erst kurz nach acht Uhr. Konnte sie es dennoch wagen, die Frauen bereits jetzt anzurufen? Es musste sein, die Sache verlangte ohne Aufschub erledigt zu werden. Bei den beiden ersten Frauen mit dem Namen Monika Oeschger hatte Petra kein Glück. Die erste angerufene Frau war bereits über 70 Jahre alt und konnte somit natürlich nie und nimmer die Cousine von Ulrich sein. Bei der zweiten Person handelte es sich um eine Frau, die nun verheiratet Oeschger hiess, ledig aber einen anderen Namen, nämlich Guggenbühler, hatte.

Nun also, dann halt der dritte Versuch. Aller guten Dinge sind ja bekanntlich deren drei, wird schon klappen. Es muss jetzt ganz einfach die Richtige Monika Oeschger sein. Das Telefon klingelte einmal, zweimal, dreimal, dann …

«Hallo».

«Guten Tag, mein Name ist Petra Neuhaus, ich bin von der Kriminalpolizei des Kantons Aargau, spreche ich mit Frau Monika Oeschger?»

«Ja …», die Frau am anderen Ende der Leitung schien sichtlich überrascht zu sein.

«Was kann ich für Sie tun?»

«Ja, das ist gerade etwas schwierig. Sie kennen doch Ulrich Zumsteg, nicht wahr? Er ist doch ein Cousin von Ihnen.»

«Ulrich? Ulrich Zumsteg? Aber ja, natürlich, ist etwas passiert, ist ihm etwas zugestossen?»

«Aber nein, seien Sie ganz unbesorgt.»

Also die richtige Monika Oeschger habe ich jetzt gefunden, und nun? Petra musste sich bemühen, um die passenden Worte zu finden, wohl auch, da es sich um eine Person handelte, die Ulrich nahe steht oder stand. «Es geht nicht um Ulrich, ich rufe Sie Ihretwegen an.»

«Meinetwegen, aber …», kurze Zeit blieb es still am anderen Ende der Telefonleitung. Nach einem räuspern sprach Monika weiter. «Ich verstehe Sie nicht ganz, Sie haben doch gesagt, dass Sie von der Kriminalpolizei des Kantons Aargau sind, ich wohne aber im Kanton Baselland. Das kommt mir schon etwas suspekt vor, wie soll ich Ihnen glauben, dass Sie wirklich von der Polizei sind? Vielleicht sind Sie nur eine der unzähligen Telefonbetrüger.»

«Natürlich kann ich Ihre Zweifel verstehen. Soll ich Ihnen die Nummer des Staatsanwalts Alex Worthmann geben? Er kann Ihnen versichern, dass ich wirklich bei der Kriminalpolizei Aargau tätig bin. Oder haben Sie Skype, dann kann ich Ihnen meinen Ausweis zeigen.»

Monika Oeschger machte eine kurze Pause, sprach dann weiter: «Nein, schon gut, ich glaube Ihnen. Nun müssen Sie mir aber schon erklären, worum es eigentlich geht. Warum Sie mich anrufen. Vielleicht liegt eine Verwechslung vor.»

«Nein, ich bin froh, dass ich Sie erreicht habe. Wissen Sie, wir haben hier in Hirschthal das Skelett eines Mannes gefunden, der vor etwa zehn Jahren durch eine Gewalttat ums Leben kam. Und Ulrich hat mir gestern Abend erzählt, dass es in Ihrem Umfeld einen Mann gibt, oder besser gesagt gab, der wohl in dieser Zeit spurlos verschwand. Ja, und da habe ich mir gedacht, kann es tatsächlich so sein, dass es sich hier um dieselbe Person handelt?»

Einige Sekunden konnte sie keinen Ton hören. Petra vermochte durchs Telefon hindurch zu spüren, wie unangenehm es für Monika offenbar war, an alte Zeiten erinnert zu werden. Bingo, ich bin auf der richtigen Spur.

Monika musste sich auf ihr Sofa setzen. Ihr Puls begann zu rasen, Schweisstropfen auf der Stirn, entlang der Nase und rund um den Mund waren klare Zeichen ihres extremen Unwohlseins, das innert Sekunden ihren Körper befiel. Ihre Hand umklammerte das Telefon. Nein, bitte nicht, hört das denn nie auf? Kann es nicht endlich einfach vorbei sein?

«Hallo Frau Oeschger, sind Sie noch dran?»

«Entschuldigung, aber ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen. Es tut mir wirklich leid, auf Wiederhören.» Schnell legte Monika den Hörer auf und blickte ins Leere, ins Nichts. Und da sah sie ihn wieder, nach all den Jahren, als wäre es gestern gewesen, den schwarzen Mann. Sie schloss die Augen, aber noch immer war er da, er wird immer da sein, sie wird dieses Verbrechen nie vergessen können. So etwas kann ein Mensch verdrängen, er kann es ausblenden, aber vergessen, das geht niemals.

Petra stand wieder an ihrem geliebten Aussichtspunkt am Fenster, mit einem wehmütigen Blick sah sie hinunter zum immer wieder neu daherkommenden und wegfliessenden Wasser. Das Gespräch mit Monika Oeschger hatte Spuren hinterlassen. Überaus sonderbar kam es Petra vor, dass Monika das Gespräch so abrupt beendet hatte. Warum um alles auf der Welt hatte Monika so merkwürdig reagiert? Wenn es wirklich so war, dass der verschwundene Mann von damals und das nun gefundene Skelett dieselbe Person ist oder war? Kann es sein, dass Monika Oeschger etwas mit dem Tod des Mannes zu tun hat? Ich werde sie wohl besuchen müssen oder zu einer Befragung aufbieten.

Sie schüttelte den Kopf, in diesem Moment trat Erwin in ihr Büro und sah, wie nachdenklich und auch traurig Petra in die Welt hinaus schaute. «Was ist denn mit dir los?»

Die Kriminalkommissarin fuhr durch ihre fülligen Haare, auf die sie selbst recht stolz war. Sie streckte sich und drehte sich dann langsam um: «Weisst du was, Erwin. Eigentlich haben wir doch einen richtigen Scheissjob, wir kommen immer zu spät. Wir werden erst gerufen und benötigt, wenn es zu spät ist, wenn bereits alles geschehen ist. Wir sind immer nur da, um zu reagieren, aber wir können nicht agieren. Wir können nichts bewirken, wir machen eigentlich nur Schadensbegrenzung.»

Erwin stand einige Sekunden nur stumm da, sagte dann aber: «So siehst du das?»

«Komm, setz dich, ich muss dir was erzählen.»

Nach den Ausführungen von Petra blieb Erwin einige Augenblicke wortlos. Es war für Petra ersichtlich, in welch angespanntem Zustand sich der sportliche und kräftige Körper Erwins befand. «Was meinst du?»

«Ich denke», so begann Erwin zu sprechen, «dass es durchaus realistisch ist, dass es sich beim spurlos verschwundenen Mann um unser Skelett handelt. Das werden wir wohl relativ schnell herausfinden, denn wir wissen ja nun, wo wir suchen und ansetzen müssen. In der Tat ist die Reaktion von dieser Monika Oeschger jedoch als sehr seltsam einzustufen. Also entweder sie hat wirklich was mit dem Mordfall zu tun, oder sie weiss irgendetwas davon, das sie aber wohl nicht so freiwillig erzählen wird. Vielleicht kennt sie sogar den Mörder und versucht ihn zu decken.»

«Okay, soll ich sie gleich nochmals anrufen?» Bereits ergriff sie mit ihrer rechten Hand den Telefonhörer und wollte die Wahlwiederholungstaste drücken.

«Moment Petra, nicht so schnell.» Erwin stand auf und nahm ihr den Hörer behutsam aus der Hand. «Diese Monika Oeschger wird uns schon nicht davonlaufen, da habe ich keine Angst. Ich frage mich im Moment ganz was anderes.»

Petra runzelte ihre Stirn, ihre Zornesfalten waren deutlich zu sehen und somit ein Ausdruck der Ernsthaftigkeit. Sie wusste nicht, was Erwin damit meinte.

«Bist du nicht befangen, immerhin handelt es sich um die Cousine deines Lebenspartners.»

Lebenspartner, ist Ulrich das wirklich für mich? Oder nur ein LAP, ein Lebensabschnittspartner? Wo liegt denn überhaupt der Unterschied? «Na und?»

«Vielleicht, also ich meine … Petra, ich empfehle dir, den Fall abzugeben.»

Petra glaubte ihren eigenen Ohren nicht zu trauen. Einen Fall abgeben, sie, die Kriminalkommissarin Petra Neuhaus? Was soll denn das, spinnt Erwin vollkommen? «Niemals, das kommt überhaupt nicht infrage! Das werde ich niemals tun. Nicht mal wenn Ostern und Weihnachten zusammen gefeiert werden.»

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