Kitabı oku: «Politisch motivierte Kriminalität und Radikalisierung», sayfa 5
Anmerkungen
[1]
Goertz 2017d, S. 29.
[2]
Goertz 2017d, S. 29.
III Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus › 2. Islamistische Radikalisierung: Wege in den Islamismus, Salafismus und islamistischen Terrorismus
2. Islamistische Radikalisierung: Wege in den Islamismus, Salafismus und islamistischen Terrorismus
III Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus › 2. Islamistische Radikalisierung: Wege in den Islamismus, Salafismus und islamistischen Terrorismus › 2.1 Islamistischer Radikalisierungsfaktor: Die Ideologie
2.1 Islamistischer Radikalisierungsfaktor: Die Ideologie
2.1.1 Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus (Jihadismus) als religiös-politische Ideologie
Jede Religion, damit auch der Islam, kann durch die folgenden fünf Funktionen Einfluss auf das Individuum, eine Gruppe und ganze Gesellschaften ausüben: Sie (1) wirkt identitätsbildend, (2) sie ist ein Glaubenssystem, das das Verhalten von Individuen und Gruppen beeinflusst, (3) sie produziert Doktrinen, allumfassende Sichtweisen und Regeln, (4) sie produziert Legitimität und (5) sie institutionalisiert sich.[1] Aus anthropologisch-kulturtheoretischer Perspektive kann argumentiert werden, dass religiöse Deutungsmuster, verstanden als kulturelle Vorgabe für das Verständnis der Legitimität von Gewalt, besonders dazu geeignet sind, Gewaltbereitschaft hervorzurufen bzw. zu steigern.[2]
Religionen können, sozialwissenschaftlich erklärt, Gewalt hervorrufen bzw. bestärken, weil sie die Fähigkeit besitzen, bei ihren Anhängern äußerste Verpflichtung zu erzeugen, indem sie eine spirituell-religiöse Sprache und Geschichte kreieren, die Gewalt einem höheren Zwecke dienlich erscheinen lässt, weil sie Gewalt in Form von religiösen Riten und Opfern kontrollieren, wodurch eine Art von Gewaltkontrolle entsteht, das dem Gewaltmonopol moderner Staaten ähnelt. Darüber hinaus können Religionen in besonderen psychologischen und gesellschaftlichen Krisen sowie in Kriegen im Rückgriff auf die (gewaltsame, kriegerische) Entstehungsgeschichte der eigenen Religion Gewalt als Impuls wecken.[3]
Religiöser Fundamentalismus erschafft zum einen Strategien zur Bewahrung einer Gruppenidentität durch die Betonung selektiver Dogmen, Glaubenssätze, Normen und Praktiken zur Abgrenzung nach außen. Darüber hinaus strebt religiöser Fundamentalismus zum anderen eine religiöse, spirituelle, gesellschaftliche Erneuerung an und ist dadurch innovativ. Indem religiöser Fundamentalismus seinen Anhängern absolute und exklusive Dichotomien und Wahrheiten präsentiert, erschafft er eine ontologische, psychische Sicherheit für seine Anhänger.[4]
Durch ihren weltlichen, politischen Ordnungs- und Deutungsanspruch entwickeln Religionen das Potenzial, aus einem (weltlichen, politischen) Chaos eine Ordnung nach den Prinzipien der eigenen Religion zu schaffen. Dieser Prozess wird als ein „kosmischer Kampf“ beschrieben, an dessen Ende die Ordnung über das Chaos siegt. „Kosmischer Kampf“ daher, weil im Mittelpunkt des Kampfes der metaphysische Konflikt zwischen Gut und Böse, „Wir gegen die Anderen“, steht. Aus diesem Konflikt heraus entwickeln Religionen eine religiöse, moralische Legitimierung für Gewalt. Fundamentalismus, bzw. im Fall von Islamismus, Salafismus und Jihadismus auch Literalismus und (salafistischer) Neofundamentalismus, ist ein wesentlicher Faktor für die militante Ideologie und Theologie des Jihadismus.[5]
Anmerkungen
[1]
Ebd.; Fox/Sandler 2005, S. 293-303.
[2]
Goertz 2017b, S. 11.
[3]
Ebd., S. 11-12.
[4]
Ebd., S. 12.
[5]
Ebd.
2.1.2 Die Religion Islam sowie die Ideologie Islamismus und der Jihad
Jihad ist mehr als nur „heiliger Kampf oder „heiliger Krieg“, ein Begriff, der u.a. auch mit den christlichen Kreuzzügen ins Morgenland verbunden ist, allerdings religiös-politisch ein durchaus neutraler Überbegriff für harb, quital und weitere Begriffe mit Referenz auf Kampf, Krieg, Angriff oder Schlacht der Primärquelle Koran und zahlreicher Sekundärquellen des Islam ist. Die religiös-politische Konzeption Jihad ist umfassender als ein rein militärischer Krieg. Jihad ist eine religiös-politische Theologie, Kultur und Strategie des Krieges, eine Kultur des Todes, Kultur der Apokalypse. Der Begriff Jihad ist über 1400 Jahre alt, findet sich – gemeinsam mit anknüpfenden Begriffen wie Kampf, Angriff, Feldzug, etc. – an zahlreichen Stellen im Koran und hat als Theologie, politisch-religiöse Ideologie und Konzept bis heute verschiedene Interpretationen erfahren.[1]
Die international anerkannte Encyclopedia of Islam erklärt Jihad mit
warfare with spiritual significance und in law, according to general doctrine and in historical tradition, the jihad consists of military action with the object of expansion of Islam and, if need be, of its defense.[2]
Der frühe Islam des 7. Jahrhunderts wird von der herrschenden Meinung der internationalen Islamwissenschaft als vom Jihad dominiert beschrieben.[3] So werden die letzten zehn Jahre des Propheten Mohammed übereinstimmend als al maghazi (die Angriffe) bezeichnet.[4] Der Prophet Mohammed soll mindestens 27 militärische Offensiven persönlich angeführt und mindestens 59 weitere militärische Offensiven befohlen haben.[5]
In Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt, Religion und Terrorismus, Islam und Jihad muss konstatiert werden, dass das islamistisch-jihadistische Rekurrieren auf den Jihad als religiöse Pflicht „der Muslime“ evident mit der Darstellung des Propheten Mohammed im Koran verbunden ist.[6] Die Theologie des Jihad lässt sich im Koran in der dritten und vierten Phase Mohammeds verorten, die mit der Schlacht von Badr im Jahre 624 beginnt, als Mohammed dem göttlichen Befehl zum Kampf gegen die Verfechter der Vielgötterei (Sure 2, Verse 191-194 sowie Sure 47, Verse 4-5[7]) folgt.[8]
Festzustellen ist, dass der Islam des 7. bis zum 9. Jahrhundert und die sich ausführlich auf diese Zeit beziehenden Suren und Verse des Koran von göttlichen Offenbarungen gegenüber Mohammed geprägt sind, die in zeitlichem Zusammenhang mit der Kapitulation der Mekkaner und der Einnahme Mekkas durch die Muslime Ende 629 stehen.[9]
Für die Frage nach dem konkreten „politischen Gehalt“ des Jihad und seinen Konsequenzen sind die sog. Schwertverse in Sure 9 von vitaler Bedeutung. Beispielsweise erhalten die Muslime in Vers 5, Sure 9 den Befehl, den Kampf gegen die „Götzenanbeter“ („Ungläubige“) weiterzuführen. Darüber hinaus ruft Vers 29 der Sure 9 die Muslime auch zum Kampf gegen die sog. „Buchbesitzer“ (Juden und Christen als historisch ältere monotheistische Religionen) auf, bis diese den Tribut entrichten und ihre Unterwerfung anerkennen.[10] Vers 40 der Sure 9 befiehlt den Muslimen im Imperativ, so lange zu kämpfen, bis es keine Unterdrückung oder: Verführung zum Abfall vom Glauben (fitna) mehr gibt.[11]
Der Prophet Mohammed erhielt seine göttlichen Offenbarungen, die im Koran verankert wurden, in einem Jahrzehnt der Kriege und militärischen Offensiven. So sagt Sure 22 Vers 40 und 41:
Erlaubnis sich zu verteidigen ist denen gegeben, die bekämpft werden, weil ihnen Unrecht geschah – und Allah hat fürwahr die Macht, ihnen zu helfen. Jene, die schuldlos aus ihren Häusern vertrieben wurden, nur weil sie sprachen: Unser Herr ist Allah. […] Allah wird sicherlich dem beistehen, der ihm beisteht. Allah ist fürwahr allmächtig, gewaltig. [12]
Der Koran identifiziert Allah als den Handelnden der Schlacht und die Ursache des Sieges der Muslime. Weiter wird in den Versen 16-18 der Sure 8 ausgeführt:
Oh die ihr glaubt, wenn ihr auf die Ungläubigen stoßt, die im Heerzug vorrücken, so kehrt ihnen nicht den Rücken. Und wer ihnen an einem solchen Tage den Rücken kehrt, es sei denn, er schwenke ab zur Schlacht oder zum Anschluss an einen Trupp, der lädt führwahr Allahs Zorn auf sich und seine Herberge soll die Hölle sein. Schlimm ist die Bestimmung!
Nicht ihr habt sie erschlagen, sondern Allah erschlug sie. Und du warfest nicht, als du warfest, sondern Allah warf, auf dass er den Gläubigen eine große Gnade von sich selbst bezeige.
Zahlreiche Suren des Koran thematisieren den Jihad, so u.a. die Suren 8, 9, 33, 48. Sure 9, Vers 5 des Koran stellt dabei – von der herrschenden Meinung der internationalen Islamwissenschaften anerkannt – einen entscheidenden Vers für den Jihad im Koran dar:
Und wenn die verbotenen Monate verflossen sind, dann tötet die Götzendiener [Polytheisten], wo ihr sie trefft, und ergreift sie, und belagert sie, und lauert ihnen auf in jedem Hinterhalt. [13]
Der Jihad, wie er in Sure 9 des Koran entwickelt wird, fokussiert sich auf das dualistische Verhältnis von Gläubigen (Muslime) und Nicht-Gläubigen bzw. Ungläubigen. So fordert Sure 9, Vers 28 des Koran im Imperativ:
Kämpfet wider diejenigen aus dem Volk der Schrift, die nicht an Allah und den jüngsten Tag glauben und die nicht als unerlaubt erachten, was Allah und sein Gesandter als unerlaubt erklärt haben, und die nicht dem wahren Bekenntnis folgen, bis sie aus freien Stücken den Tribut entrichten und ihre Unterwerfung anerkennen.[14]
Eine islamistische, jihadistische Auslegung des Koran versteht die oben zitierten Suren und Verse zum einen wörtlich (ihrem Literalsinn nach) und beruft sich darüber hinaus auf weltweit bedeutende muslimische Rechtsschulen wie den Wahhabismus, der in Saudi-Arabien den Status einer Staatsreligion hat, sowie auf den hanbalitischen Rechtsgelehrten Ibn Taymiyya.[15] Die Interpretation des „großen Jihad“ als „innerer Kampf des individuellen muslimischen Gläubigen gegen die eigenen inneren Schwächen“ ist innerhalb der islamischen Rechtslehre höchst umstritten, da sich die Interpretation „großer Jihad“ auf einen Hadith, eine Überlieferung, beruft, dessen Authentizität innerislamisch angezweifelt wird.[16]
Zusammenfassend: Eine Verbindung der Primärquelle Korantext zu jihadistischer, terroristischer Gewalt ist im Literalsinn des Koran nach ebenso festzustellen wie in den Sekundärdokumenten der sunnitischen Rechtsschulen und in den Gutachten diverser islamischer Rechtslehrer. Die jihadistische Lesart des Koran nutzt also einerseits den Koran im Literalsinn (siehe die oben zitierten Suren und Verse) und beruft sich andererseits auf wichtige muslimische Rechtsschulen, wie beispielsweise den Wahhabismus und den Hanbalismus sowie auf alte und neue Prediger des Jihad.
Anmerkungen
[1]
Ebd., S. 12-13.
[2]
Zitiert nach: Bearman/Binquis/Bosworth 2004.
[3]
Cook 2015; Firestone 1999; Johnson 1997; Morabia 1993; Goertz 2017b, S. 13.
[4]
Ebd.
[5]
Ebd.
[6]
Ebd.
[7]
Ahmadiyya Muslim Jamaat in der BRD 2016.
[8]
Cook 2015; Firestone 1999; Johnson 1997; Morabia 1993; Goertz 2017b, S. 13.
[9]
Ebd., S. 13-14; Ahmadiyya Muslim Jamaat in der BRD 2016.
[10]
Ebd.
[11]
Ebd.
[12]
Ebd.
[13]
Ebd. Polytheismus (von Griechisch πολύς, polys, „viel“ und θεοί, theoi, „Götter“), auf Deutsch auch als „Vielgötterei“ bezeichnet, ist eine religiöse Verehrung einer Vielzahl von Göttern. Die meisten Religionen des Altertums waren polytheistisch. Der Aufruf dieses Verses aus Sure 9 bedeutet also wörtlich ausgelegt „tötet diejenigen, die der Vielgötterei anhängen“. Mohammed belagerte aber nicht nur „polytheistische Widerständler“ der Stadt Ta´if, sondern auch die nordarabische Christenstadt Tabuk. Auf diese beiden militärischen Offensiven beziehen sich einige Verse der Suren 8 und 9: „Zieht in den Kampf, leicht- oder schwerbewaffnet, und kämpft mit Gut und Blut für die Religion Allahs“ (Sure 9,42). „Wenn ihr nicht zum Kampfe auszieht, wird euch Allah mit schwerer Strafe belegen“ (Sure 9,40). „Wenn die Gläubigen töten oder getötet werden, so werden sie das Paradies erlangen, indem sie für die Religion Allahs kämpfen…“ (Sure 9,112).
[14]
Ahmadiyya Muslim Jamaat in der Bundesrepublik Deutschland 2016.
[15]
Goertz 2017b, S. 15-16.
[16]
Maher 2016, S. 218.
2.1.3 Zwischenfazit: Die islamistische Ideologie als Radikalisierungsfaktor
Wie in diesem Unterkapitel ausgeführt, sind Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus als religiös-politische Ideologie eine Form des politischen Extremismus, welche auf eine teilweise oder vollständige Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland (fdGO) abzielen.[1] Der Islamismus als religiös-politische Ideologie basiert auf der Überzeugung, dass Religion, hier: der Islam, nicht nur eine persönliche, private ‚Angelegenheit‘ ist, sondern auch das gesellschaftliche Leben und die politische Ordnung regeln soll.[2] Nach Analyse der deutschen Verfassungsschutzbehörden ist Islamismus eine politische Ideologie, die einen universalen Herrschaftsanspruch erhebt und Gewaltanwendung legitimiert, um als „islamisch“ definierte Ziele umzusetzen.[3] Kurz gesagt beschreiben die deutschen Verfassungsschutzbehörden Islamismus als eine religiös-politische Ideologie, deren Anhänger sich auf religiöse Normen des Islams berufen und diese politisch interpretieren.[4]
Daher muss die religiös-politische Ideologie Islamismus und ihre Religionspraxis, die für alle verbindlich gemacht werden soll, als im eindeutigen Widerspruch zu demokratischen Verfassungsordnungen stehend beurteilt werden.[5] Dementsprechend widerspricht das von Islamisten angestrebte Konzept eines Gottesstaates, in dem jegliche staatliche Legitimation unmittelbar von Gott hergeleitet werden soll, demokratischen Prinzipien von Volkssouveränität und Gewaltenteilung.
Die Studie Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind. Fortschreibung 2016 des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz wertete die vorliegenden Daten der Radikalisierungshintergründe und -verläufe von 784 Personen, die bis Ende Juni 2016 aus islamistisch-jihadistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien und Irak ausgereist sind, statistisch aus.[6] Bei der Frage nach der Motivation für eine aktive und/oder unterstützende Funktion innerhalb islamistisch-terroristischer Gruppen wie dem „Islamischen Staat“ oder der Al Nusra (bzw. Jabhat Fatah Al Sham, Al Qaida-Ableger in Syrien) waren Mehrfachnennungen möglich. Bei den 784 Personen wurden in über 60% der Fälle eine aktive Rolle in Moscheen bzw. Moscheevereinen, 54% die Funktion der Familie und der Freunde (peer group), in 44% islamistische Angebote im Internet, in 27% sog. Islamseminare, in 6% sog. Benefizveranstaltungen, in 3% Kontakte in der Schule und in 2% in Justizvollzugsanstalten festgestellt.[7] Hierbei liegen zu 79% der Islamisten Informationen zur Ausreisemotivation vor, bei denen islamistisch-jihadistische Beweggründe angenommen werden können, konkretisiert durch das Ziel, in „das Kalifat“ bzw. den „Islamischen Staat“ auszuwandern.[8]
Auffälligerweise werden ca. 96% der untersuchten Personen dem salafistischen Spektrum zugerechnet, wobei über die Hälfte von ihnen vor der (erstmaligen) Ausreise in einer Moscheegemeinde, einem Moscheeverein oder -verband aktiv waren.[9] Bei dem überwiegenden Teil der Ausgereisten war die realweltliche Anbindung an bekannte salafistische Persönlichkeiten bzw. deren Milieus offensichtlich ausschlaggebend für die Radikalisierung.
Diese empirischen Ergebnisse der psychologischen und sozialwissenschaftlichen Studien des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz belegen die Wichtigkeit des Radikalisierungsfaktors Islamismus als religiös-politische Ideologie.
Anmerkungen
[1]
BfV 2016a, S. 150.
[2]
Ebd.
[3]
BfV 2012, S. 5.
[4]
BfV 2016a, S. 150; BfV 2012, S. 5; LfV Hessen 2014.
[5]
„Demokratie ist in den Augen der Islamisten eine falsche ‚Religion‘“; MIK NRW 2014, S. 137.
[6]
BKA/BfV 2016.
[7]
Ebd.; Goertz/Holst 2016, S. 450-464.
[8]
BKA/BfV 2016, S. 25-27; Goertz/Holst 2016, S. 450-464.
[9]
Ebd.
III Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus › 2. Islamistische Radikalisierung: Wege in den Islamismus, Salafismus und islamistischen Terrorismus › 2.2 Radikalisierungsfaktor islamistische, salafistische, jihadistische Peer Groups und Milieus
2.2 Radikalisierungsfaktor islamistische, salafistische, jihadistische Peer Groups und Milieus
Weil sich beinahe alle Menschen – unabhängig von ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Herkunft – über die Zugehörigkeit zu Gruppen definieren, hat die Funktion von Milieus, des sozialen Nahraumes, eine entscheidende Rolle in der Analyse von Radikalisierungsprozessen.[1] Milieus und Gruppen stiften durch die Faktoren Freundschaft, ethnische Herkunft, Soziolekt und Religion „Lebenssinn“ und daher rekrutieren Islamisten in einem Umfeld, in dem sie auf Grund ihrer Biografie und/oder ihrer aktuellen Situation für eine Radikalisierung besonders anfällige Menschen vermuten (bestimmte Stadtteile, Moscheen, Schulen, Gefängnisse etc.). In Deutschland sind solche salafistischen Milieus auffällig häufig in Städten wie Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, Bonn, Städten des Ruhrgebietes, Bremen, Wolfsburg und Neu-Ulm zu beobachten, wobei die Bedeutung einer Stadt für islamistische Radikalisierungsprozesse vornehmlich von der Existenz einer islamistisch-salafistischen „Infrastruktur“ abhängig ist, die in der Regel aus islamistisch-jihadistisch geprägten Moscheevereinen, Imamen und Aktivisten besteht.[2]
Ob sich jemand dazu entschließt, sich einer Gruppe anzuschließen, die eine Gewaltstrategie verfolgt, hängt u.a. ganz wesentlich von der Gruppe ab:
three factors determine, whether or not an individual supports violent or constitutional politics: ideology, social networks, and expectations of success. [3]
Die aktuelle internationale Forschung geht – anders als von verschiedenen deutschen Sozialwissenschaftlern vertreten, die immer noch sozioökonomische Faktoren für die Radikalisierung „verantwortlich“ machen – davon aus, dass sich bis zu 75% der sich Radikalisierenden aufgrund von Freundschafts- und Familiennetzwerken und deren religiöser Ausrichtung einer islamistischen bzw. salafistischen Gruppe anschließen.[4]
Sozialpsychologische Modelle und empirische Studien betonen die hohe Bedeutung von Gruppen, des Milieus, des sozialen Nahbereiches auf das zu Gewalt neigende Individuum.[5]
Gruppenentscheidungen tendieren dazu, die Rationalität des Individuums zu marginalisieren, so dass individuelle Meinungen und Haltungen hin zur Gewalt verstärkt werden („group polarization“).[6] Individuen schließen sich aufgrund von erwarteten Anreizen und erhofftem Nutzen Gruppen an, dabei suchen manche Individuen eher sozialen Kontakt, andere eher Sinn und Aufgabe, eine dritte Gruppe wiederum ist auf der Suche nach „thrill“.[7] Für Mitglieder einer militanten Gruppe ist Kohäsion, Gemeinschaftsgefühl so wichtig, dass diese Faktoren entsprechend auch extreme Gewalt triggern können, weil die Gruppe diese Taten wohlwollend als Aktionen „für die gemeinsame Sache“ anerkennen und honorieren wird. Das Empfinden, auf der moralisch „richtigen“ Seite zu stehen, kann zudem zu einer Selbstaufwertung führen, die insbesondere bei Gruppen, die sich selbst als benachteiligt erleben („Kampf gegen westliche Demokratien und ihre Sicherheitsbehörden“), einen starken Einfluss haben könnte.[8]
Verstärkt wird diese Tendenz zu extremer Gewalt noch durch die psychologisch analysierte Neigung, dass sich Individuen als Teil einer Gruppe weniger verantwortlich für gewalttätige Aktionen empfinden (Verantwortungsdiffusion).[9] Auch die Faktoren Stressoren, Verluste und enttäuschte Erwartungen sind häufig verbunden mit Anfälligkeiten für eine Radikalisierung in Gruppen wie Wendepunkte im Leben, affektive Bindung zur Gruppe, intensive Einflussnahme durch die Ingroup und können mit dem Phänomen sog. vulnerabler Persönlichkeiten verbunden werden.[10] Daneben haben experimentelle und affektive Motive bzw. Typen eine wichtige Funktion bei (individuellen) Radikalisierungsprozessen.[11]
Die experimentellen Typen suchen nach Identität und Gruppenmitgliedschaft, während die affektiven Typen starke Emotion bzw. emotionale Bindungen anstreben. Diese experimentellen und affektiven Motive und Typen sind besonders im Phänomenbereich militanter Islamisten und jihadistischer Gruppen stark vertreten.[12]
Da Menschen das Bedürfnis haben, „dazuzugehören“, wollen sie, dass die eigene Gruppe und sie selbst positiv bewertet werden. Entsprechend hat die eigene Gruppe (Ingroup) eine große identitätsstiftende Wirkung. Wenn die Gruppe nun für eine als wichtig, essenziell, existenziell wahrgenommene Sache (Allah der „Islamische Staat“ als Kalifat der Gegenwart) kämpft, dann gewinnt jeder Einzelne in der Gruppe an Bedeutung. Darüber hinaus wird durch den Kampf für eine gemeinsame Sache bzw. gegen andere der Gruppenzusammenhalt verstärkt. Nach dieser Logik muss die Gruppe gegen andere Personen, die die eigene Lebensweise vorgeblich bedrohen, verteidigt werden.[13]
Die eigene Gruppenzugehörigkeit ermöglicht eine Abgrenzung zu anderen Gruppen (outgroup hate), was eine Abwertung der anderen Gruppe bewirkt und dualistisches Schwarz-Weiß-Denken in Form von „Wir gegen die Anderen“ erzeugt. In letzter Konsequenz werden die Mitglieder der Outgroup nicht mehr als Individuen wahrgenommen (De-Individualisierung). Diese De-Individualisierung ermöglicht die Entstehung einer Distanz zu den Mitgliedern der anderen Gruppe, da Anonymität einen emotionalen Rückzug ermöglicht. Wer keine Empathie (mehr) für „die Anderen“ empfindet, wird eher dazu neigen, Mitglieder der Outgroup zu verletzen und/oder zu töten.[14]
Die Abwertung der Mitglieder der Outgroup wird unter anderem verstärkt durch:
• | Kulturelle und ethnische Unterschiede: Die Outgroup wird als Feind oder Sündenbock wahrgenommen. Traditionelle Gruppenunterschiede ermöglichen oft eine Diffamierung der Mitglieder der anderen Gruppe als kulturell niedere Lebensform, was sich unter anderem allein durch den Sprachgebrauch („Kuffar, Hunde, Schweine“) zeigt. Die Entmenschlichung der anderen spielt eine vitale Rolle bei der Anwendung von Gewalt. |
• | Die Überzeugung, moralisch überlegen zu sein und den Glauben an den Kampf für die gerechte Sache: Der Kampf erscheint als legitime Selbstverteidigung, das Töten wird zum Akt der Gerechtigkeit (Verteidigung des Kalifats). |
In Gemeinschaften mit „engen“ Wertvorstellungen, wie sie beispielsweise von islamistischen, salafistischen und jihadistischen Gruppen vertreten werden, ist der freie Austausch von Ideen unerwünscht. Freund-Feind-Schemata werden kreiert und verstärkt, basierend auf dem typischen Schwarz-Weiß-Denken.[15]
Der im Unterkapitel 2.1 erläuterte religiös-politische Exklusivitätsanspruch des Islamismus, Salafismus und islamistischen Terrorismus strebt danach, auf verschiedenen Ebenen potenzielle Anhänger und potenzielle religiös-politisch motivierte Täter möglichst total einzunehmen. Ein strenges Befolgen der als „einzig richtig“ dargestellten religiösen Auffassungen, Gebote und Riten wird (teilweise) aggressiv eingefordert, offensives, öffentliches Missionieren gehört zu den Aufgaben der Ideologie Islamismus.[16] Im Rahmen der Teilnahme an (islamistischen, salafistischen) „Islamseminaren“ wird der Prozess der Indoktrinierung und weiteren Radikalisierung von charismatischen Führungspersönlichkeiten und der Peergroup gefördert und vorangetrieben. Neben den „Islamseminaren“ werden auch sog. „Benefizveranstaltungen“, Spendensammelaktionen für „Glaubensbrüder und Glaubensschwestern in Not“, für die Verfestigung der Ideologie genutzt, indem der Glaube durch die helfende Tat „gelebt“ und die sozialen Strukturen des salafistischen Milieus weiter vernetzt werden.[17] An den oben aufgeführten Orten wird u.a. eine zunehmende Fixierung auf das Jenseits propagiert, wodurch das eigene, irdische Leben von sekundärer Bedeutung wird, was die letzten Schritte auf einem Radikalisierungsweg zur Tat, sprich: zu einem Anschlag, bedeuten kann.[18]
Die Strukturen der salafistischen Milieus in Deutschland und Europa sind amorph und bestehen aus losen – virtuellen und realen – Personennetzwerken, u.a. in der Nähe von örtlichen, regionalen Islamvereinen und sog. „Hinterhofmoscheen“. Die deutschen Verfassungsschutzbehörden sprechen von mindestens 100 islamistisch-salafistischen Moscheen in Deutschland, „die in Bezug auf die Migrationsbewegungen aktiv geworden sind“.[19] Daraus muss gefolgert werden, dass es mehr als 100 islamistisch-salafistische Moscheen in Deutschland gibt und dass es sich hier nur um die von den Verfassungsschutzbehörden als solche identifizierten handelt, sprich: 100 islamistische-salafistische Moscheen ist das Hellfeld, die Zahl im Dunkelfeld mag deutlich höher sein.[20]
Das islamistische und salafistische „Bildungsangebot“ des islamistischen und salafistischen Milieus bzw. Maßnahmen zur Indoktrinierung und Radikalisierung werden sowohl durch Online-Prediger auf Websites oder in sozialen Netzwerken durch verlinkte Videos als auch durch charismatische Predigerpersönlichkeiten als Multiplikatoren in der Realwelt ergänzt.[21] Verbunden wird dies mit einer kontinuierlichen Präsenz in der Öffentlichkeit, um Konfliktlinien zur deutschen bzw. europäischen Mehrheitsgesellschaft zu verdeutlichen und das „Freund-gegen-Feind-Prinzip“ weiter zu stärken.[22] „Dawa“ (wörtlich: Einladung, hier: Missionierung bzw. bei bereits Missionierten eine weitere Radikalisierung) und andere „soziale“ Maßnahmen dienen dem Ziel der Beendigung der „kulturellen Verwestlichung“ muslimischer Mitbürgerinnen und Mitbürger in Gestalt einer radikalen Abgrenzungssemantik, wir „wahre Muslime“ versus „die Anderen“. Die Islamisierung des sozialen Nahbereiches, des persönlichen Umfeldes und letztlich der Gesellschaft durch die Umwandlung des Bildungswesens nach islamistischen und salafistischen Kriterien wird ebenso direkt propagiert wie religiös-politische Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat und Politik anhand islamistisch-salafistischer Interpretation des Korans und der Sunna sowie die Sharia als angestrebtes politisch-gesellschaftliches Ordnungsprinzip.[23]