Kitabı oku: «Aus smarter Silbermöwensicht»
Inhaltsverzeichnis
Fragen
Seb
Herr Steger
Zuviel Alltag
Ein roter Pullover
Helfersyndrom
Die Sache mit den Versprechungen
Stereotype
Albtraum
Männer
Schulpflicht
Bewegung
Eine Frage der Kollegialität
Reisevorbereitungen
Beim Italiener
Die Expedition
Eine Sprachnachricht
Mona
Max
Distanzen
Warum nicht Stockholm
Alles im Fluß
Zeichen im Eis
Kino
Nebel
Der Pullover
Anspruche
Gletscherspalte
Notoperation
Schweden
Entschleunigung
Telefonate I
Telefonate II
Jakob
Gefühlschaos
Flughavenbegegnung
Hausverbot
Kleine Schritte
Einblicke
Zuhören
Unbeeindruckt
Müde
Verfolgt
Sturm- und Silbermöwen
Assozieiert
In der Nacht
Vorsätze I
Vorsätze II
Haltung
Intrige
Perspektiven
Frischer Wind
Im Badezimmer
Keine Panik!
Rollentausch
Selbstbilder
Ein Ziel
Wieder einmal Jakob
Aus smarter Silbermöwensicht
Roman
Martina Kirbach
Fragen
»Ich kann mir was Besseres denken, als täglich alten Leuten den Hintern abzuwischen!« So hatte Anjas Mitschülerin Melanie abschätzig getönt, als Anja erwähnte, sie könne sich vorstellen, als Altenpflegerin zu arbeiten. ›Und ich kann mir etwas Angenehmeres erträumen, als ständig irgendwelchen Fotografen meinen Busen oder Po zu präsentieren‹, hätte Anja kontern können, denn Melanies Berufswunsch war, ein Model zu werden. Doch anders als diese hatte Anja ihre Gedanken für sich behalten.
Ein kaltblaues Licht kam von der einzigen funktionierenden Neonleuchte des Badezimmerschranks, in dessen Spiegel Anja sich jetzt begegnete.
Die kühle Beleuchtung ließ sie blasser und erschöpfter aussehen, als sie sich fühlte. Anja erschrak, obwohl sie um den wenig schmeichelhaften Effekt der Lampe wusste.
Wieso gelang es ihr nie, rechtzeitig ins Bett zu gehen, um morgens ausgeschlafen aufzustehen? Warum hatte sie mal wieder den Geburtstag ihrer besten Schulfreundin vergessen? Wie konnte es sein, dass sie auf der Arbeit fast immer länger blieb als ihre Kollegen?
Anja versuchte, die Gedanken zurückzudrängen, sich auf die morgendliche Routine zu konzentrieren, aber ihre Arbeitssituation ging ihr nicht aus dem Kopf. Sollte es einen Zusammenhang geben zwischen ihren unkalkulierbaren Arbeitszeiten und der Tatsache, dass ihre Kollegin Martha in jüngster Zeit extrem wortkarg war? Und, aus welchem Grund wurde der Dienstplan neuerdings immer wieder in letzter Minute umgeschrieben?
Wieso beschäftigte sie sich überhaupt mit diesen Fragen? Sie hatte ihr Leben doch im Griff. Das Arbeitsklima war angenehm, die meisten Kollegen einfühlsam, hilfsbereit und nett. So manche kritische Situation wurde gemeistert, weil man die Stärken wie die Schwächen der anderen kannte und sich gegenseitig ergänzte. So schien es zumindest.
Sie selbst sah sich als eine starke Frau, die wusste, was sie tat und auf welchem Weg sie war: auf dem Pfad zu einem endlich selbstbestimmten Leben. Nur, warum hatte Mona sie am Freitag so besorgt angeblickt? Anja sah ihre resolute Freundin vor sich, mit ihren kurzen, dunklen Haaren, in denen sich vereinzelt graue Strähnen fanden, ohne dass zu erkennen war, ob sie naturbelassen oder getönt waren. Mona hatte ihre Hornbrille ein wenig zurückgeruckelt und gesagt: »Anja, pass auf dich auf!« Ohne, dass diese nachfragen konnte, hatte der Pager geklingelt und jeder war zu seiner Aufgabe geeilt.
»Mama? Wir sind fertig«, sagte ihre Tochter Clara leise. Sie war verunsichert, wie sie mit den, sich in letzter Zeit häufenden, Tagträumereien ihrer Mutter umgehen sollte. Anja zuckte zusammen, dann verließ sie hastig das Badezimmer.
»Clara, Phillip, sorry, ich habe geträumt. Habt ihr alle Schulsachen? Hier sind eure Pausensnacks und etwas zum Trinken. Macht’s gut und überquert die Straßen bitte nur an den Ampeln, ja?«
»Aber Mama, das musst du uns nicht jedes Mal sagen«, antwortete Phillip vorwurfsvoll, packte die Sachen ein und zog mit seiner Schwester los.
Als die Tür ins Schloss fiel, lauschte Anja für einen Moment, wie die Schritte ihrer Kinder im Treppenhaus verhallten. Nun war sie mit ihren Gedanken erneut allein.
Warum nur hatte ihre Freundin und Kollegin ihr geraten, auf sich aufzupassen? Die Frage ließ sie nicht los. Trotz der anstrengenden Arbeit konnte man auf ihrer Station doch gemeinsam herzlich lachen. Zum Beispiel, wenn es der sehbehinderten, im Rollstuhl sitzenden Frau Weber mit Hilfe einer anderen Mitbewohnerin wieder gelungen war, sich unbemerkt auf den Weg zu machen, um ihre Weinvorräte aufzustocken. Hierzu hatte sie sich mit Frau Keimer verbündet. Diese hatte eine noch milde Ausprägung von Alzheimer und war begeistert, sich mit ihrer neuen Freundin unbemerkt aus dem Haus zu schleichen. Was gar nicht heimlich hätte geschehen müssen, da keine der beiden sich in einer geschlossenen Abteilung befand. Dennoch spürten sie, dass das Pflegepersonal es ungern sah, wenn sie das Haus unbeaufsichtigt verließen. Folglich machten sich die zwei Damen regelmäßig durch einen Notausgang aus dem Staub, ohne sich abzumelden. Frau Keimer kicherte dann pausenlos, Frau Webers sonst angespanntes Gesicht wurde weich und gelöst. Frau Keimers Tochter waren diese Umtriebe ihrer Mutter zu Ohren gekommen und sie hatte eine Verabredung mit dem nahegelegenen Taxibetrieb getroffen: Wann immer die Fahrer dieser beiden Damen gewahr wurden, chauffierten sie diese nach einer gewissen Zeit zurück ins Seniorenheim. Unter der Voraussetzung, dass es sich um Heimfahrten und keine Ausflüge handelte, beglich die Tochter umgehend die Rechnung – eine Vereinbarung, mit der alle gut leben konnten.
Amüsant war auch, wie manche Leute einfache Dinge verkomplizieren konnten: beispielsweise der Kollege Peer, der ständig versuchte, die Medikamentenausgabe zu perfektionieren, aber regelmäßig länger brauchte als alle anderen.
Anja konnte ehrlich über sich selbst lachen, weil sie sich in den Marotten der Mitarbeiter oder Bewohner wiedererkannte. Da war die verträumte Frau Senser, die immer wieder vergaß, sich für die Nacht fertig zu machen, weil sie so gerne dem Abendgesang der Amseln lauschte. Oder der etwas pedantische Herr Meyer, welcher sich weigerte, zu Tisch zu kommen, wenn er sein Puzzle nicht vollendet hatte.
Anja hatte den Eindruck, dass man an ihrem Arbeitsplatz bei Bedarf unzensiert stöhnen durfte, und so manche Durststrecke überbrückte, weil das Stationszimmer ein Ort war, wo man seine Maske fallen lassen konnte. Zumindest bislang.
Nur, aus welchen Grund hatte Mona sie letztens so seltsam angesehen? Anschließend hatte ihre Lieblingskollegin erreicht, dass sie beide in die gleiche Schicht kamen, fast so, als ob sie Anja beschützen müsse.
Anja ging in ihrem Beruf auf. Die Arbeit auf der Pflegestation war anstrengend aber befriedigend. Ihr ursprünglicher Wunsch, Ärztin zu werden, war 1979 entstanden, als im Fernsehen eine Dokumentation über die Aktivisten der Cap Anamur im südchinesischen Meer lief. Diese freiwilligen Helfer retteten tausende Vietnamesen, die dem Krieg in ihrem Land auf dem Meeresweg zu entkommen versuchten, und versorgten sie medizinisch an Bord des Schiffes. Viele Jahre später sah Anja sich, wenn man sie nach ihren Berufswünschen fragte, nach wie vor im humanitären Einsatz. Jetzt kamen erneut Flüchtlinge, nur sah Anja ihre Aufgabe heute mehr an der Seite alter Menschen, die in ihrer Hilfsbedürftigkeit und Hilflosigkeit Ertrinkenden ähnelten.
Seb
Anja brauchte mit ihrem gebrauchten, dunkelblauen Skoda Citigo zwanzig Minuten für den Weg zum Seniorenheim. Gern hätte sie Sebastian Tschüss gesagt und ihm etwas über Phillip erzählt, aber sie hatte seine verschlossene Zimmertüre gesehen - ein Zeichen, dass ihr Mitbewohner noch schlief. In ihrer 2er WG gab es nur wenige unumstößliche Regeln. Eine davon war »Eine geschlossene Tür ist eine geschlossene Tür« - eine eindeutige Message.
Die meiste Zeit waren Anjas und Sebastians Türen jedoch angelehnt, was hieß: Mann oder Frau sind ansprechbar - so hatten sie es vereinbart.
Sebastian war ein guter Kumpel, nur kam es vor, dass er sich tage- oder auch nächtelang hinter seinem PC verschanzte. Fragte man, woran er arbeite, erklärte er, ein Tool zu schreiben, das ihm angeblich in Zukunft die Programmierarbeit erleichtern werde. Es war für Außenstehende oft nicht ersichtlich, ob diese Zeitersparnis, beziehungsweise Arbeitserleichterung jemals wirksam werden würde. Viele fragten sich ohnehin, was er konkret tat. Auf Nachfragen antwortete Seb, wie ihn seine Freunde nannten, auf eine derart nüchtern sachliche, aber umständliche Art und Weise, dass die meisten das Interesse verloren.
Anja jedoch, war froh über ihre Zweckgemeinschaft. Nach ihrer Trennung von Jakob suchte sie momentan nichts als Ruhe und äußere Geborgenheit. Sie brauchte einen Ort, an dem sie zugleich loslassen wie auftanken konnte, einen sozialen Raum, in dem sie nicht ständig Phillips Verhalten rechtfertigen musste. Phillip, ihr kleiner ‚Sausebraus‘, ihr abenteuerlustiges, neugieriges Energiebündel. Phillip, erfinderisch, furchtlos, doch leider in den Augen vieler Erwachsener etwas distanzlos. So mancher reagierte auf ihn allergisch, nicht zuletzt ihr Ex.
Sebastian hingegen kam gut mit ihm klar. Was hatten der 30-jährige Computerfreak und ihr 7 Jahre alter Sohn, der am liebsten draußen war, gemein? Obwohl temperamentmäßig vollkommen gegensätzlich, bestand zwischen den beiden ›Männern‹ eine heimliche Komplizenschaft, die Anja überraschte und freute.
Als Anja auf den Parkplatz des Seniorenheimes einbog, war sie schon vollkommen in Gedanken bei ihren Schützlingen. Sie wusste, dass einige der Senioren sie sehnlichst erwarteten. »Du bist so lieb, freundlich und fast immer gut gelaunt. Auch verschwindest du nicht wieder so schnell«, hatte die 92-jährige Frau Thoden erst gestern gesagt. Ähnliche Äußerungen bekam Anja häufig zu hören, freute sich darüber und hatte das Gefühl, am richtigen Ort zu sein.
Freitags wurden die Heimbewohner üblicherweise einer nach dem anderen gebadet oder hatten die Möglichkeit, mit Unterstützung des Pflegepersonals zu duschen. Das war Routinesache. Heute spürte Anja jedoch sofort beim Betreten der Station, dass etwas in der Luft lag.
Mona lief mit einem gehetzten Gesichtsausdruck und einem Blutdruckgerät in der Hand an Anja vorbei. Das war doppelt ungewöhnlich, denn normalerweise begannen sie zur selben Zeit ihre Schicht und in aller Regel war Mona die Ruhe selbst. Mit einem »Gut, dass du da bist«, verschwand sie im nächsten Bewohnerzimmer.
Anja desinfizierte sich ihre Hände und zog ihren Kittel über. Mona war eine examinierte Krankenschwester in dieser Schicht. Schnell hatte sie bemerkt, wie sehr man auf Anja zählen konnte. Sie verstanden sich oftmals ohne Worte und arbeiteten gut und gerne Hand in Hand.
Dann waren da noch Emma und Marga, zwei gelernte Altenpflegerinnen, die schon seit mehr als 25 Jahren in dem Haus arbeiteten. Ihre Erfahrungen behielten sie für sich. Es war, als umgäbe beide eine unsichtbare Mauer. Viele ihrer Kolleginnen hatten bald gespürt, wie sie selbst unter den Belastungen ihrer Tätigkeit verkümmerten. Sie hatten konsequenterweise aufgegeben und sich einen anderen Job gesucht. Emma und Marga nicht, doch heute lagen für beide Krankschreibungen vor und es gab keinen Ersatz.
In der Mittagspause versuchten Mona und Anja schnell, die vom Qualitätsmanagement vorgeschriebenen Dokumentationen nachzuholen. Welche Routinekontrollen und Maßnahmen waren erledigt? Waren außergewöhnliche pflegerische Maßnahmen notwendig geworden? Hatten alle Bewohner wirklich genug getrunken? Die langen, unübersichtlichen Dokumentationsbögen unterschieden nicht zwischen relevanten und wünschenswerten Daten. Eine Kategorie ‚Zuwendung‘ oder ‚Zeit zum Zuhören‘ fehlte. Ein Zufall? Anja erinnerte sich plötzlich, dass sie letzte Woche Frau Thoden versprochen hatte, ihr die begonnene Geschichte zu Ende vorzulesen. Wütend, dass sie ihr Wort nicht würde halten können, schleuderte sie den Kugelschreiber über den Tisch, riss sich dann wieder zusammen. Vorschrift blieb Vorschrift und die Mittagspause war bereits mit den leidigen Dokumentationen draufgegangen.
Nachmittags waren drei Bewohner noch immer nicht geduscht, aber dafür wurde ein Neuzugang angekündigt. Auf Monas Stirn zeigten sich ernste Sorgenfalten und Anja merkte, wie sie ins Schwitzen geriet: Die Gefühle eines neuen Heimbewohners in den ersten Stunden waren für das Gelingen seiner Eingewöhnung oft ausschlaggebend. Anja presste für einen Moment die Innenflächen ihrer Hände an Stirn und Schläfen, als ob dies den anschwellenden Druck in ihrem Kopf mildern könnte.
Herr Steger
Marco Steger brachte kein Wort heraus, als seine künftige Schwiegertochter ihn fragte, ob er in Zukunft lieber auf seinem Zimmer oder im Restaurant des Seniorenheimes frühstücken wolle.
Wie war er hierher gekommen?
Als sein Sohn Jonas ihm vorgeschlagen hatte, die Möglichkeiten des betreuten Wohnens in Anspruch zu nehmen, hatte er zugestimmt. Nicht, dass er von den Vorzügen überzeugt war, sondern, weil er wahrgenommen hatte, wie innerlich zwiegespalten Jonas in letzter Zeit war: Zerrissen zwischen den beruflichen Anforderungen, die eine frisch eröffnete Anwaltskanzlei mit sich brachte, und dem Wunsch nach einer harmonischen Beziehung mit seiner zukünftigen Frau Jana. Und nicht zuletzt war da Jonas´eigener Anspruch, sich vernünftig um seinen 89-jährigen Vater zu kümmern.
Marco wusste ebenso, dass Jana keine Frau war, die sich ihr Leben vom Terminplan ihres Mannes diktieren ließ, in der Hoffnung auf die eine oder anderer gemeinsame Unternehmung. Wo war es geblieben, dieses undefinierbare innere Strahlen aus Zufriedenheit und gelebter Nähe, das man nur bei Verliebten sieht, und dessen sie sich selbst nie bewusst sind. In Jonas` oder Janas` Augen hatte Marco es schon lange vergeblich gesucht. In der Hoffnung, dass die beiden wieder mehr Zeit füreinander hätten, und der Überzeugung, es seinem Sohn schuldig zu sein, hatte er sich zu diesem Schritt durchgerungen. Mit einem Hauch von Stolz und dem Gefühl, Herr der Entscheidung zu sein, hatte er die Zustimmungserklärung für die Unterbringung im Heim unterschrieben.
Und dennoch, in diesem Moment war es ihm vollkommen egal, wo er frühstückte. Die Frage, ob er ein Zimmer mit Fenster nach Osten oder Westen bevorzugte, hatte ihn kalt gelassen. Und an einer Singgruppe oder am Gedächtnistraining teilzunehmen konnte er sich überhaupt nicht vorstellen.
Die Einsicht, dass er nicht mehr eigenständig für sich sorgen konnte, war die zweitbitterste Erfahrung seines Lebens. Nicht aus freien Stücken war er zu dieser Erkenntnis gekommen, sondern durch den jüngsten Unfall, an dessen Hergang er sich kaum erinnerte, nur, dass er auf dem Küchenfußboden lag und nicht mehr in der Lage war, aufzustehen. Beklemmend allgegenwärtig waren nach wie vor diese Stunden der Hilflosigkeit, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen. Nun würde er hier die meiste Zeit allein im Rollstuhl sitzen und einer jener ins Heim ‚Abgeschobenen‘ sein, dachte er bitter. Nein, dieser Gedanke war nicht okay, er war ungerecht, unfair Jonas und Jana gegenüber. Sein Sohn hatte ihn letztes Jahr zu sich holen wollen und ihm sogar die Umbaupläne gezeigt: eine helle Einliegerwohnung mit altersgerechtem Bad sowie einer eigenen kleinen Terrasse. Marco Steger hatte abgewinkt. Nun musste er zu seiner Entscheidung stehen.
»Guten Tag, Herr Steger, meine anderen Kollegen haben sich ja schon vorgestellt. Ich bin die Anja und arbeite seit eineinhalb Jahren in diesem Haus. In der Regel bin ich zur Frühschicht auf der Pflegestation, doch momentan sind einige Mitarbeiter erkrankt und ich bleibe heute ein wenig länger. Wir helfen nämlich, bei Bedarf, auch hier in der Abteilung des betreuten Wohnens.«
»Guten Tag.« Der weißhaarige, hagere Herr im Rollstuhl hob nur andeutungsweise den Kopf:
»Ich sehe, Sie haben ja Ihren Kaffee gar nicht getrunken. Den trinken Sie sicherlich noch später. Ich habe hier auch eine Flasche Mineralwasser für Sie.«
»Räumen Sie den Kaffee ruhig ab, er schmeckt mir sowieso nicht.«
»Schade, bislang hat sich selten jemand über unseren Kaffee beschwert.«
»Habe ich mich beschwert?«
Zwei klare hellblaue Augen musterten Anja für den Bruchteil einer Sekunde. »Nein, haben Sie nicht. Entschuldigung, vielleicht müssen Sie hier erst mal richtig ankommen.«
Marco schwieg.
»Ankommen, ja, aber bisher hatte ›ankommen‹ für mich eine andere Bedeutung… Früher hieß ›ankommen‹ Unwegsamkeiten überwinden, Abenteuer erleben, ein Ziel haben und erreichen, um anschließend erneut aufzubrechen, ... aber jetzt? Wie war noch mal Ihr Name?«
»Anja. Wir sehen uns nach dem Abendbrot. Da erzählen Sie mir genauer, was ›ankommen‹ für Sie bedeutet. Ich denke, Sie haben viel erlebt.«
»Später vielleicht, nicht heute, ich bin sehr, sehr müde.«
»Kein Problem. Das verstehe ich. Alles ist ja neu und ungewohnt, stimmt‘s?«
Anja sah sich in Herrn Stegers Zimmer um. Es war so gut wie fertig eingerichtet. Die Regale an der rechten Wand waren bis unter die Decke voll mit Büchern und Bildbänden. Es gab einen kleinen Sekretär, an dem man vom Rollstuhl aus schreiben konnte. Darauf erkannte Anja das Bild eines circa dreißigjährigen Mannes. Unverkennbar ähnelten seine Gesichtszüge denen von Herrn Steger.
Herr Steger folgte Anjas Blicken und erklärte: »Ja meine Kinder haben letzte Woche schon alles vorbereitet. Es war viel Arbeit!«
»Ach, so. In der Regel klappt das nicht so schnell. Wie schön für Sie! Ich muss jetzt gehen. Sie haben unsere Rufnummer, für den Fall, dass Sie Hilfe brauchen?«
»Die liegt auf dem Tisch, danke.«
Wie erleichtert Anja war! Dies war heute der dritte Versuch, Herrn Steger aus seiner Reserve zu holen. Wie die Kollegen berichteten, hatte er bislang fast regungslos aus dem Fenster geschaut und die Bewegung der vorbeiziehenden Wolken beobachtet. Nun hatte er ihr geantwortet, in wenigen Worten, klar und stimmig. Zufrieden, dass es ihr gelungen war, ihm ein paar Sätze zu entlocken, zog Anja geräuschlos Herrn Stegers Tür ins Schloss. Ein kleiner Erfolg, sagte sie sich. Doch, wie lange würde sie diesen Job so noch durchhalten?
Auf dem Heimweg waren sie wieder da, die Schuldgefühle. Zum wiederholten Male hatte sie nicht bei Dienstschluss sofort ihre Sachen genommen und war nach Hause gehetzt.
Stattdessen hatte sie die Spätschicht darauf hingewiesen, dass Frau Xander wegen ihrer Pergamenthaut häufiger als bislang umgebettet werden müsse, und dass Herr Buck seine dritten Zähne seit neuestem im Schuhschrank versteckte. Tragik und Komik lagen in ihrem Beruf so nah beieinander. Doch ihr Eindruck war, dass ihr keiner der Kollegen zuhörte oder zuhören wollte. Würde sie nach vielen Jahren ebenso abstumpfen?
Zuviel Alltag
Kaum hatte Anja einen Parkplatz in der Nähe ihrer Wohnung gefunden, fiel ihr ein, dass einige Lebensmittel fehlten, und beschloss, noch schnell einen Abstecher zum Supermarkt zu machen. Sebastian dachte selten ans Einkaufen und ließ sich, wenn der Kühlschrank leer war, eine Fertigpizza bringen.
Ein kurzer Blick aufs Handy. Gott sei Dank, keine Nachricht! Falls etwas mit Phillip vorgefallen wäre, hätte Clara sie informiert. Eine Mischung aus Erleichterung und Dankbarkeit durchflutete Anja bei dem Gedanken an ihre 10-jährige Tochter. Man sah dem zierlichen, blonden, auf den ersten Blick eher zurückhaltenden Mädchen nicht an, wie selbstbewusst es auftreten konnte. Zuhause übernahm sie Verantwortung für sich und ihren Bruder, in der Schule erledigte sie selbstständig und zielstrebig ihre Aufgaben. Ob das so bleiben würde? Wenn Anja an ihre eigene Kindheit zurückdachte… Wann hatte sie ihre Gradlinigkeit verloren?
Anja war in Lilienthal, unweit von Bremen aufgewachsen. Der Ort hatte zwar teilweise dörflichen Charakter, war jedoch schon von den Gewohnheiten der täglich pendelnden Bewohner geprägt. In ihrer Grundschulzeit hatte Anja Freunde aus Familien, die im Alltag noch rudimentär ländliche Bräuche pflegten. Ihre Bodenständigkeit, die festen Essenszeiten und klaren Regeln schufen einen behütenden Rahmen, in dem Anja sich geborgen fühlte. An ihre ersten vier Schuljahre erinnerte sie sich gerne.
Auf dem Gymnasium hingegen, das merkte Anja schnell, wehte ein anderer Wind. Die Klassen waren größer, in jedem Fach unterrichtete ein anderer Lehrer und es gab sehr viele Hausaufgaben. Anja konnte sich für Erdkunde, Biologie und Sport begeistern. Kunst und Deutsch waren okay. An Englisch und Mathematik verlor sie bald das Interesse. In Mathe schweiften ihre Gedanken wegen der umständlichen Erklärungen ab und in Englisch war sie jedes Mal überrascht, wenn ein Vokabeltest geschrieben wurde. Trotz Gymnasialempfehlung erreichte Anja das Klassenziel der fünften Klasse nicht. Als Einzige! Noch jetzt erinnerte sie sich an ihre Angst und das Gefühl der Scham in der Zeit nach diesen Sommerferien. Wie peinlich! Wie würden die neuen Mitschüler sie behandeln?
Diese Furcht und Sorge, den Erwartungen anderer nicht zu entsprechen! Dieses lähmende Gefühl tiefer Verunsicherung zog sich wie ein roter Faden durch Anjas Leben.
In ihrem neuen Zuhause, der WG mit Seb würde sie hoffentlich einiges davon hinter sich lassen. Es hatte sich als Ritual ergeben, dass sie unten an der Haupteingangstür klingelte und dann, wie erwartet, kurz darauf Clara und Phillip ihr ausgelassen entgegeneilen. Sie sprinteten um die Wette die Treppe herunter, und umarmten ihre Mutter: Phillip kurz und flüchtig, Clara hingegen hängte sich lachend an ihren Arm.
»Du Mama, ich wünsch mir ein Pferd!«
»Ich auch«, rutschte es Anja heraus, biss sich dann auf die Lippen. »Wie kommst du denn darauf?«
»Pferde sind einfach toll. Wunderschön, klug und gute Freunde. Ich habe das gelesen.«
Entgegen dem Impuls, ihrer Tochter Recht zu geben entgegnete Anja: »Ja, aber sie sind teuer und machen sehr viel Arbeit.«
»Ach«, schmollte Clara, hing aber weiterhin an Anjas Arm, sodass diese nur mühsam die Stufen erklimmen konnte. Gerade jetzt wollte sie um nichts in der Welt eine Spielverderberin sein.
Inzwischen war es 18:00 Uhr, als sie die Küche betraten. Die Spüle war voll mit dreckigem Geschirr, obwohl sie eine neue Spülmaschine angeschafft hatten. Anja spürte einen Anflug von Groll. Gewiss, Seb war die meiste Zeit zu Hause und hätte aufräumen können, aber sie verbiss es sich, herumzunörgeln. In ihrer Abwesenheit hatte sich Seb als ein zuverlässiger Ansprechpartner für die Kinder erwiesen, ohne dass sie ihn darum gebeten hatte. Sie wusste, dass, wenn sie auf der Arbeit war, seine Tür immer angelehnt war. Was für ein beruhigendes, neues Gefühl!
Kaum hatte Seb Anja kommen gehört, tauchte sie auf vor seinem inneren Auge: Die halblangen, kastanienbraunen Haare locker hochgesteckt, für gewöhnlich in Jeans und Sweatshirt, mit einem strahlenden Gesicht, das die Freude über die Kinder widerspiegelte. In den bernsteinfarbenen Augen blitzten meist Neugier, Interesse und etwas Spitzbübisches. Dennoch gab es Tage, an denen Müdigkeit und Erschöpfung überwogen.
Wie gerne wäre Seb mit Clara und Phillip Anja entgegengelaufen. Häufig ertappte er sich dabei, dass er nachmittags auf die Uhr schaute und sich fragte, wann sie zurück sein würde.
Wenn er schließlich die drei im Flur hörte, war es oft mit seiner Konzentration auf das Programmieren vorbei. Welch angenehme Unterbrechung! Überkam ihn doch in diesen Momenten ein Gefühl freudiger Erwartung. Erstaunlich, wie mühelos sich ihre beiden verschiedenen Lebensstile ergänzten. Anders als seine Mutter unterließ es Anja, sein völlig unvorhersagbares Schlaf- und Wachverhalten zu kommentieren. Vormittags hatte er die Wohnung für sich und nachmittags kamen ihm Phillips Ablenkungen nicht selten gelegen. Dessen unverblümte Fragen durchbrachen seine unsinnigen Gedankenspiralen. So hatte tags zuvor der Besitzer eines Onlineshops Seb gefragt, ob er ihm bei der Steigerung seiner Umsatzzahlen helfen könne. Voreilig hatte Seb geantwortet, dass sich mit Hilfe einer Auswertung der Besucherdaten der Website etwas machen ließe. Den ganzen Vormittag über hatte dann Seb ergebnislos über die konkreten Realisierungsmöglichkeiten gegrübelt. So war er heilfroh, als Phillip in sein Zimmer kam und ihn unterbrach: »Hi Seb.«
»Hallo Phillip. Ist dir langweilig?«
»Nein, aber was ist mit dir los? Du fluchst mal wieder wie nichts Gutes.«
»Stimmt, tut mir leid«, entschuldigte sich Seb. »Habe ich gar nicht gemerkt.«
»Außerdem siehst du aus, als ob dein Kopf gleich platzt.«
»So ähnlich fühlt sich das an«, gab Seb zu. »Ich muss unbedingt herausfinden, wieso die Besucher dieses Onlineshops hier so früh und oft ihre begonnenen Bestellvorgänge abbrechen. Theoretisch müsste ich das aus den vorliegenden Datensätzen herauslesen können. Nur, es gelingt mir nicht«.
»Frag die Leute doch direkt!«
Seb schlug sich mit der Hand vor die Stirn und brummte: »Danke, Phillip, das macht Sinn!«, bestens gelaunt begann er umgehend, ein Pop-up Tool zu programmieren, welches bei einem Abbruch des Bestellvorgangs sofort einen individuellen Kundenkontakt ermöglichte.
»Phillip, du bist genial!«, rief er ihm zu. Dieser nahm das Kompliment eher irritiert zur Kenntnis, runzelte die Stirn und verschwand aus Sebs Zimmer, denn Seb war schon in seine ureigene PC-Welt abgetaucht.
Clara, war nicht distanziert abweisend, doch in ihrer Art weitaus zurückhaltender. Seit ihrem Einzug beobachtete sie Seb abwartend. Sebastian fand das okay. Mädchen waren ihm bislang oft als Kunstprodukte erschienen, und was Clara anbetraf, war ihm nicht klar, ob sie ebenfalls in diese Kategorie fiel. Was ihn heute beschäftigte, war die Frage, ob Anja ihn wieder zum Abendbrot bitten würde. Zugegebenermaßen wartete er nur darauf. Bei Anjas Einzug hatten sie über das Thema »gemeinsame Mahlzeit« versus »Jeder kocht sein eigenes Süppchen« nicht gesprochen. In letzter Zeit trafen sie sich jedoch häufiger ›zufällig‹ in der Küche.
»Gab‘s was Neues?«, fragte Anja in die Runde, als sie alle vier beim Abendbrot saßen.
»Na ja«, murmelte Seb, »Phillips Klassenlehrerin bittet um einen Rückruf.«
»Oh nein, nicht schon wieder« stöhnte Anja. »Heute kann ich nicht mehr auf Stress, das mach‘ ich morgen in der Frühstückspause, ich bin jetzt zu k.o.«
Beide Kinder blickten auf ihre Mutter. Phillip überrascht und irritiert, Clara mitfühlend und besorgt. Sebastian verhielt sich neutral.