Kitabı oku: «Aus smarter Silbermöwensicht», sayfa 3
Stereotype
Anja saß nach Dienstschluss regungslos in ihrem Auto. Statt den Wagen zu starten, ließ sie den Arbeitstag Revue passieren und merkte, wie sie körperlich in sich zusammensackte. Es war wieder einmal sehr anstrengend gewesen und eigentlich hätte sie das ganze Wochenende zum Erholen gebraucht. Hinzu kam, dass die wechselhafte Wetterlage sich in Stimmungshochs und -tiefs der Heimbewohner und Kollegen widerspiegelte.
Es beunruhigte Anja, dass sich Herr Steger den ganzen Tag nicht gemeldet hatte. Ein wichtiger Aspekt des betreuten Wohnens war, den Menschen ein großes Maß an Eigenständigkeit zu ermöglichen, ohne sie ständig zu kontrollieren. Dennoch nahm sie sich vor, bei nächster Gelegenheit wieder bei ihm reinzuschauen. Ihre Arbeitstage schienen fließend ineinander überzugehen.
Also, tief Luft holen und ab nach Hause. Anja war dabei, den Autoschlüssel ins Zündschloss zu stecken, als ihr Handy eine eingehende Textmessage meldete.
>Mama, wir sind in Alice’s Restaurant, kommst du nach?<
>Okay, ich mache mich auf den Weg<, schrieb sie zurück. Anja hatte den Namen des Restaurants nie gehört. Das hieß jedoch nichts, da sie selten essen gingen.
Und sofort war es wieder da, das schlechte Gewissen. Ja, sie hatten ursprünglich geplant, dieses Wochenende ins Kino zu gehen. Und nun waren ihre Kinder nachmittags in einem Restaurant. Wie waren sie dorthin gekommen? Allein? Mit Seb? Der ging fast nie essen. Was für eine seltsame Idee!
›Das sieht ihm ähnlich!‹, schoss es ihr durch den Kopf. Vermutlich war ihm wieder mal nichts eingefallen. Kein Wunder, wenn man stunden-, nein tagelang vorm PC hockt! Anja selbst schmerzten die Augen schon nach dreißig Minuten vor dem Bildschirm.
Bei ihren Internetrecherchen war sie schnell frustriert, wenn die Beiträge nicht gleich eine konkrete Antwort auf ihre Frage lieferten. Und, anstatt zur Ausgangsfrage zurückzukehren, sobald sie merkte, dass sie sich zu verzetteln begann, fuhr sie verärgert das Gerät ergebnislos herunter. Was blieb, war das Gefühl, unnütz verbrachter Zeit. Für Seb hingegen schienen Stunden vor dem PC Qualitätszeit zu sein. Hierbei half ihm seine Beharrlichkeit. Ob der Kombination von Fachwissen und der Fertigkeit, die Optionshierarchien streng systematisch und analytisch abzufragen, vermochte er auftretende Probleme erfolgreich zu lösen.
Dennoch gab es Tage, an denen selbst Seb gedanklich festzuhängen schien. Anja hörte ihn dann laut in seinem Zimmer fluchen und den PC beleidigen. In solchen Momenten war sie froh, wenn seine Tür verschlossen war. Die Frage, ob sie ihn ansprechen oder alles ignorieren sollte, stellte sich nicht. Auch Seb konnte ungenießbar sein.
Der PC schien definitiv Sebs Ding zu sein. Vermutlich hatte er den Kindern solange erlaubt, an seinem PC zu spielen, bis dieser ihm selbst wieder zu fehlen begann. Ja, jetzt fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Er hatte Clara und Phillip ins Kino geschickt hatte, um Ruhe zu haben. ‚Alice‘s Restaurant‘ war kein Restaurant, sondern ein Film, der in einer Retrospektive im CinemaxX lief – sie erinnerte sich dunkel an einen Artikel im Lokalteil der Zeitung.
Wut stieg in ihr auf. Zeitgleich ein Bild von Clara und Phillip, wie sie ängstlich fragend den Blick auf ihre Mutter richteten und sie dann nicht mehr aus den Augen ließen. Jetzt durchlebte sie erneut ihre fast vergessene, beklemmende Schockstarre, als sie die Kinder allein ein einem Sandkasten sitzend gefunden hatte.
Anja schüttelte sich. Das war fünf Jahre her. Phillip war knapp anderthalb Jahre alt gewesen. Anja zog mit beiden Händen die Kopfhaut am Haaransatz zurück, wie andere sich die Augen reiben, um eine gewisse Müdigkeit zu beherrschen.
»Seb ist nicht Jakob«, sagte sie laut zu sich selbst. Nur, hoffentlich hat er die Kinder wenigstens hingefahren. Aber, verdammt, sein Auto war ja in der Werkstatt.
Schneller als erlaubt fuhr Anja in Richtung Kino, fand jedoch erst nach der dritten Runde um den Block einen winzigen Parkplatz und hetzte in die Kinoeingangshalle.
Tatsächlich lief ‚Alice‘s Restaurant‘ aus den 70ern im Augenblick. Irritiert löste Anja eine Karte und machte sich auf die Suche. Als sie im Kinosaal nach ihnen rief, erntete sie nichts als missbilligende Bemerkungen der Zuschauer.
Ihre Panik hatte sich zwar gelegt, aber dennoch war sie ratlos. Wo waren Clara und Phillip? Erneut schickte sie eine Nachricht raus und fragte, wo sie nun seien. Sie waren in einer Parallelvorstellung, in einer Wiederholung von ‚Flutsch und weg‘. Der Film war fast zu Ende. Anja beschloss, in der Eingangshalle auf sie zu warten. Schnell schrieb sie eine wütende Textmessage an Seb. < Wie kannst du nur die Kinder allein ins Kino schicken? > und fügte ein dunkelrotes wütendes Emoji hinzu.
Als sich die Kinosaaltüren öffneten, traute Anja ihren Augen nicht, denn etwas seltsam wirkten die drei schon. Aber sie waren ausgespochen gut drauf. Phillip steckte in einer schlotterigen Cordhose mit gestickter Bordüre, die ihm etwas zu groß war und Carla in einem schrillen, orange-roten Poncho im Ethnolook. Sie war behängt mit diversen langen Ketten und Armreifen. Seb trug ausgefranste Jeans und Jesuslatschen. Ihre Kinder waren nicht allein!
Es trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht, als sie Seb sah, versuchte, sich aber zu fangen.
»Moment mal, Fasching ist doch vorbei. Habt ihr euch das nur für den Kinobesuch ausgedacht?«
»Nö, das hat sich so ergeben«, antwortete Clara etwas kühl.
»Was heißt, das hat sich so ergeben? Worher habt ihr das Zeug?«
»Von Max und Inge, Freunden von Seb.«
»Nie gehört, von denen hast du noch nie etwas erzählt.«
»Die sind auch gerade erst aus Australien zurück und haben ein Känguru mitgebracht!«, prustete Phillip.
»Sehr witzig und der Koala kommt nächste Woche, stimmt‘s?«
»Erst in einem Monat«, raunte Phillip verschwörerisch.
»Nein, das Känguru ist aus Plastik, aufblasbar und noch nicht Inges Aufräumaktion zum Opfer gefallen«, ließ sich Sebastian gnädig zu einer Erklärung herab.
»Na gut, nur, warum lauft ihr hier so seltsam gekleidet herum?«
»Inge räumt auf. Sie möchte ihre Wohnung völlig umgestalten: mit am besten gar nichts, viel weiß, klaren einfachen Formen und mit einigen wenigen exklusiven Möbelstücken«, erläuterte er weiter.
»Und beim Aufräumen stieß sie auf zwei Kisten mit den Lieblingsklamotten ihrer Oma, die war voll mit Klamotten aus den 70er Jahren«, unterbrach Clara begeistert.
»He, he, Mädel, auf einmal modebewusst und geschichtlich bewandert, Hut ab, Clara!«
»Sebastian hatte sowieso vorgehabt, mit uns zum 70er Jahre Straßenfest zu gehen. Den Rest kannst du dir denken.«
»Kann ich – ehrlich gesagt – nicht.«
»Ich konnte doch Max nicht mit seinen Computerproblemen allein lassen. Für ihn stand Einiges auf dem Spiel und er war unter Zeitdruck, seine Präsentation für das Vorstellungsgespräch fertigstellen zu müssen«.
»Der hat vielleicht komisch gekuckt, als wir zu dritt in der Tür standen«, mischte sich Phillip ein.
»Ja, Begeisterung ist etwas anderes, aber er hat schnell begriffen, dass es keine Alternative gab. So hat er dann den Kindern grünes Licht gegeben, die Kisten seiner Schwiegermutter zu durchstöbern und damit den Tag gerettet.«
»Ohne seine Frau zu fragen?«, erkundigte sich Anja ungläubig.
»Mir war es egal und ihm – glaube ich – auch. Auf jeden Fall waren die Kinder beschäftigt und ich hatte ausreichend Zeit für die Fehlerdiagnose am PC.«
»Und Clara und Phillip konnten sich selbst beschäftigen?«
»Na ja. Die fantasievollen Outfits gaben den beiden Anlass zu vielen Fragen, doch sie versuchten, sich zurückzuhalten. Ihre Neugier auf das Straßenfest war damit auf jeden Fall geweckt!«
»Was für ein Tagesprogramm! Wie seid ihr auf diesen etwas eigentümlichen Film gekommen?«
»Einer der Straßenfestorganisatoren war von Clara und Phillips Verkleidung so angetan, dass er sie angesprochen und ihnen dann den Floh ins Ohr gesetzt hatte, sich diesen Film unbedingt anzuschauen«, erklärte Seb. »Und mir war so, als ob da jemand den Kindern einen Kinobesuch für das Wochenende versprochen hatte«, rechtfertigte sich Seb. In seiner Stimme schwang ein Hauch von Ironie.
Verlegenes Schweigen.
»Wir haben uns dann aber doch für ‚Flutsch und weg‘ entschieden«, ergänzte Phillip zufrieden.
Ein unbehaglicher Gefühlsmix aus Scham, Erleichterung und Dankbarkeit mit einem Hauch von Neid über den für sie verlorenen Tag erfasste Anja. Nachdenklich schaute sie die drei an.
»Ist was?«, fragte Seb.
Albtraum
Jeden Morgen dasselbe. Clara stand nach dem Weckerklingeln ohne Probleme auf. Phillip kam schwer auf Touren, obwohl er sich bemühte. Im Badezimmer putzte er sich stundenlang summend die Zähne und hatte folglich nur wenig Zeit für das Frühstück. Dabei sollte er sich die Zähne nach dem Essen putzen. Es kam vor, dass er sich nicht entscheiden konnte, welches T-Shirt er anziehen sollte. Ein anderes Mal wollte er vier Tage in der Woche dasselbe tragen.
Aber, nun hatten sie es geschafft. Die Kinder waren auf dem Weg. Anja zog die Autotüre zu und schaltete die Zündung ein. Da sah sie Phillip zurück ins Haus rennen. Was war denn bloß wieder los?
Sie stieg aus dem Auto. »Turnzeug vergessen?«
»Ja, und wir sollen 3,50 € für den Tagesausflug nächste Woche mitbringen.«
»Konntest du nicht früher daran denken?«, fragte Anja vorwurfsvoll.
Dann sah sie Phillips betretenes Gesicht und es schoss ihr durch den Kopf, dass es ihre Aufgabe war, nachzufragen, ob etwas anläge. Schließlich war er erst in der zweiten Klasse! Sie selbst hatte sich gestern nur mit enormer Anstrengung aufraffen können, mit Phillip die Hausaufgaben durchzusprechen.
»Hier ist das Geld. Kommt, ich fahre euch zur Schule, sonst seid ihr zu spät. Es wird schon nicht so schlimm sein, wenn ich mal nicht pünktlich bin.«
»Frau Sonnenfeld kann es sich leisten, jeden Tag ein paar Minuten später zu kommen«, tönte es Anja entgegen, als sie den Umkleidungsraum betrat.
Anja war geschockt von dem drohenden Unterton ihrer Kollegin Marga, bemühte sich aber, ihn zu ignorieren. »Hallo allerseits«, sagte sie. »Es tut mir leid, aber die Kinder waren spät dran. Da habe ich sie zur Schule gefahren.«
»Noch so eine Super-Mama, die ihren Kindern die Hand unter den Hintern hält und sich nachher wundert, dass…. Und überhaupt, wenn die Kinder zu spät kommen, dann liegt das doch an den Eltern, oder?«
Wortlos betrachtete Anja die mürrische Frau mit den zusammengezogenen Augenbrauen und heruntergezogenen Mundwinkeln, schwang sich in den Kittel und verschwand, um ihren Schützlingen bei der Morgentoilette zu helfen. Die meisten waren froh, sie zu sehen, völlig unabhängig davon, dass es etwas später war als sonst.
Frau Duderstett war in ihrer Nasszelle und hatte schon mit dem Waschen begonnen. Anja lobte sie dafür überschwänglich, denn normalerweise wollte Frau Duderstett nur in Ruhe gelassen werden. Ein Strahlen ging über das Gesicht der alten Frau.
»Und morgen nehmen wir als Erweiterung des Programms einen neuen Lappen und warmes Wasser zur Hilfe«, lachte Anja, »Abgemacht?«
»Abgemacht. Helfen Sie mir beim Anziehen«?
»Nur, wenn Sie mir erklären, warum Sie nicht mehr zum Spielenachmittag gehen!«
»Will ich ja, aber die anderen gewinnen immer!«
»Immer?«
»Na ja, die letzten drei Mal.«
»Na, logischerweise sind Sie die nächsten Male dran.«
»Glauben Sie wirklich?«
»Ganz sicher. Also, gehen Sie?«
»Na ja, wenn Sie das sagen, aber wehe, sie haben nicht recht und ich verliere wieder.«
Anja lächelte Frau Duderstett verschmitzt an und sagte: »Ich habe recht«, und schickte sicherheitshalber ein kleines Stoßgebet gen Himmel. Als sie das Zimmer verließ, leuchtet auf dem Display des Stationshandys Herr Stegers Zimmernummer.
Marcos Herz klopfte und er zitterte vor Anspannung, hatte er doch seine Ausrüstung peinlichst genau geprüft. Vieles war in zweifacher Ausführung vorhanden für den Fall, dass etwas verloren ging oder funktionsuntüchtig wurde: Helm, Handschuhe, Steigeisen, Seile, Eispickel, Karabiner und, und, und…
Er und seine zwei Expeditionskumpel waren doch alle drei erfahrene Bergsteiger. Ein Jahr lang hatten sie sich vorbereitet: Karten studiert, Erfahrungsberichte gelesen und vor allem trainiert und sich körperlich fit gemacht. Deshalb ... Wieder ging ein Zittern durch Marcos Körper und…
Anja stieß energisch die Tür zu Marco Stegers Wohneinheit auf und sah, dass sie ihn dabei aus einem unheilvollen Traum befreite. Er war angstschweißgebadet.
»Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Steger. Was gibt es denn?«
»Wieso, was gibt‘s?«
»Na, Sie haben doch geklingelt?«
»Nein, hab ich nicht!«
»Ist auch egal, ich hatte ohnehin vorgehabt, bei Ihnen mal wieder nach dem Rechten zu schauen. Vermutlich sind Sie versehentlich an die Klingel gekommen. Sie sehen blass und gestresst aus.«
»Ich hatte einen fürchterlich chaotischen Traum.«
»Träume sind oft chaotisch, meine ebenfalls.«
»Ja, aber meiner beginnt immer gleich: Ich sichte und kontrolliere meine Ausrüstung. Wir fahren nach Kathmandu, nehmen den Bus nach Nyalam, bauen nach zwei Tagen Fußmarsch das Basiscamp auf, und dann beginnt das Chaos… jedes Mal anders, aber ähnlich entsetzlich. Bisweilen habe ich den Eindruck, dass es mit jeder Wiederholung grauenhafter wird.«
»Ein Traum, der immer wieder kommt?« Anja näherte sich Herrn Steger vorsichtig.
»Ja, gut, dass Sie gekommen sind… Es war heute nur der Anfang.«
»Da sehen Sie mal. Soll ich öfter vorbeischauen?«
»Vielen Dank. Das ist nicht nötig. Ich komm‘ schon alleine klar«, erklärte Herr Steger so unvermittelt kühl und abweisend, dass Anja kurz überlegte, den Raum zu verlassen. Doch sie gab diesem Impuls nicht nach, sondern setzte sich ans Fenster und blickte hinaus.
Gestern noch hatte sie mit Mona darüber gesprochen, dass es Heimbewohner gibt, die sich aus scheinbar unerfindlichen Gründen unvermittelt zurückziehen.
»Nimm es nicht persönlich«, hatte Mona gesagt. »Die eigene Hilfsbedürftigkeit zu akzeptieren ist für viele wahnsinnig schwer. Zu ahnen, dass das eigene Selbstbild illusionär ist, macht viele traurig oder lässt sie verzweifeln. Wie oft habe ich diesen schmerzhaften Ernüchterungsprozess beobachtet. Es ist möglich, die Menschen, so gut es eben geht, mitfühlend zu begleiten. Nur, abnehmen können wir es ihnen nicht. Leider ist es oft ein Vorstadium einer tiefer gehenden Resignation.«
Nein, abnehmen können wir es ihnen nicht, wohl aber verständnisvoll begleiten. Monas Worte klangen in Anja nach.
»Na gut, wenn Sie schon mal da sind«, durchbrach Marco Steger Anjas Gedankenfluss, »dann könnten Sie mir ja neue Wäsche herunterreichen, beziehungsweise den Inhalt des obersten Regals weiter unten einordnen, ja?«
»Eine gute Idee, mache ich sofort«, sagte Anja, froh, etwas tun zu können.
»Und morgen erklären Sie mir die Sache mit dem Ankommen«, versuchte Anja, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen.
»Ankommen?«
»Ja, Sie haben an ihrem ersten Tag gesagt, dass Ankommen für Sie Aufbruch und Abenteuer bedeutet, oder so ähnlich. Das fand ich ungewöhnlich, aber an die genauen Worte erinnere ich mich nicht mehr.«
»Wozu auch? Es ist völlig irrelevant - das interessiert hier sowieso keinen.« Anja wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück.
»Wenn Sie meinen, dann auf Wiedersehen, Herr Steger. Ich hab noch ‘ne Menge zu tun.«
Irritiert verließ sie das Zimmer.
Männer
Nachdenklich blieb Marco Steger zurück. Irgendwas war schief gelaufen. Nur was? Anja war fort und er hatte Gelegenheit und Zeit, darüber nachzugrübeln. Viel Zeit.
Sein Albtraum kam nicht von ungefähr. Ein ganzes Jahr lang hatten sie sich vorbereitet: Sie, das waren Bernd, Andreas und er selbst. Kartenstudium und Training unter Anleitung erfahrener, umsichtiger Bergführer. Wagemutige Gipfelstürmer waren ihnen stets suspekt erschienen. Einzeln, in ihrer Dreiergruppe oder mit anderen Bergsteigern hatten sie auf vielen Bergtouren und Gipfelbesteigungen in Europa Erfahrungen gesammelt. Zusammen hatten sie den ›Antelao‹ und ›Gran Paradis‹ in den italienischen Alpen bezwungen, den ›Piz Kesch‹ in der Schweiz und in Frankreich die ›Barre des Ecrins‹ und den ›Mont Blanc‹, alles Gipfel über 3200m hoch. In der Zwischenzeit hatten sie zusätzlich gemeinsam ein Spaltenbergungstraining absolviert.
Keiner von ihnen hatte die wahnwitzige Ambition, in die Klasse der Weltberühmtheiten wie Reinhold Mesmer oder Ralf Dujmovits aufzusteigen. Aber die 8000m wurden zu einer magischen Zahl und die Idee zum Projekt: Einmal im Leben wollten sie gemeinsam einen Achttausender besteigen. Es war nicht die Gefahr, die sie suchten, sondern der Wunsch nach der eigenen persönlichen Grenzerfahrung. Soweit hatte Konsens bestanden und ihnen das Gefühl gegenseitiger Verbundenheit gegeben. Darüber, was diese Grenzerfahrung für den Einzelnen jeweils konkret bedeutete, hatten sie nicht gesprochen.
Marco blickte auf die Uhr an der Wand. Obwohl es erst 11:00 Uhr war, fühlte er sich müde und erschöpft. Warum sollte er nicht vor dem Mittagessen ein wenig ruhen? Er hievte sich vom Rollstuhl ins Bett und rollte sich mit einem erleichterten Seufzer auf die Seite. Es war beruhigend zu wissen, dass Albträume ihn tagsüber nie heimsuchten.
Später, bei Tisch setzte sich ein ihm bislang unbekannter Herr zu ihm.
»Guten Appetit, mein Name ist Hummer, Frederik Hummer.«
»Danke gleichfalls, Marco Steger.«
»Sind Sie schon lange hier?«
»Keinesfalls, erst eine Woche. Noch habe ich mich nicht an den Gedanken gewöhnt, hier jetzt für immer zu bleiben.«
»Wer sagt denn, dass dies hier eine Endstation für Sie ist. Es gibt so viele Alten… Pardon, Seniorenheime, Residenzen, Pflegeeinrichtungen und wie sie heutzutage heißen. Da reicht ein Menschenleben nicht aus, die alle auszuprobieren.«
»Sie probieren die aus?«
»Ja, ich habe bereits vor zehn Jahren damit angefangen. Gleich nach meiner Pensionierung. Ich plane nämlich einen Michelin über Altenwohnheime.«
»Ein zweiter ›Ihr da oben… wir da unten‹1?«
»Nicht ganz, ich mach‘ das ja nicht inkognito. Ich erzähle offen, dass ich gerne zur Probe wohnen möchte. Wenn ein Haus daraufhin abwinkt, dann weiß ich, dass da etwas im Argen liegt. So reduziert sich die Zahl schon von allein.«
»Wie lange bleiben Sie in der Regel in einer Einrichtung?«
»Das ist höchst unterschiedlich. Manchmal fliehe ich schon nach einer Woche. Neulich hat mich eine Pflegekraft ‚Pantoffelheld‘ genannt, dann aber keifend das Zimmer verlassen, als ich mit ‚Pippi Langstrumpf‘ dagegen gehalten habe. In solchen Fällen ahnt man, was auf einen zukommt, wenn man sich nicht mehr selbst versorgen kann.«
»Das ist ja spannend.«
»Ja, und manchmal bleibe ich länger als geplant. Wenn zum Beispiel viel Sonnenschein ins Zimmer kommt. Damit meine ich nicht nur die Lage und Helligkeit der Räume, sondern - im übertragenen Sinne - das Pflegepersonal. Sie verstehen schon.«
»Ich verstehe Sie sehr gut«, pflichtete ihm Marco Steger bei.
»Aber letztendlich bin ich auf der Suche. Ich war von jeher ein Reisender, nur die Form des Reisens hat sich halt geändert.«
»Ich bin früher ebenfalls viel gereist, war freischaffender Reisejournalist, was mir gestattete Leidenschaft, Hobby und Broterwerb erfolgreich miteinander zu verbinden, bis…. Aber essen Sie, ihr Essen wird kalt«, unterbrach Herr Steger sich selber.
»Ihrs auch«, sagte Herr Hummer augenzwinkernd. » Guten Appetit! Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«
»89 und Sie?«
»75«
Marco Steger war sich nicht sicher, ob er sich über den neuen Bewohner freuen sollte. Ein wenig ärgerte er sich darüber, dass er nicht selber auf die Idee des Heimsurfens gekommen war. Und dennoch, interessant war der Mann auf jeden Fall.