Kitabı oku: «Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden», sayfa 2
Bedauerliche Einzelfälle – oder steckt System dahinter?
Elena mit ihrem Wutanfall auf meinem roten Sofa und ihrer ohnmächtigen Mutter oder Phillip sind nicht die einzigen Kinder oder jungen Menschen, die augenscheinlich Probleme mit ihrer Entwicklung haben.
Da ist auch noch Josef, mein dreizehnjähriger Schulverweigerer, der mit seinen 140 Kilogramm schon eine riesige Menge an Kränkungen in die Waagschale zu werfen hat, die mit schuld an seinen sozialen Ängsten sind. Er ist aber nur einer aus einer beängstigend großen Gruppe von schwergewichtigen Kindern, für deren Behandlung man bereits Spezialambulanzen einrichten muss.
Sophie wiederum kennt nichts anderes, als die Fahndung nach weiteren Kalorien, die sie reduzieren kann. Sie lebt unter dem Terrorregime ihrer Badezimmerwaage und ist mit ihren zarten zwölf Jahren bereits Anorexie-Patientin. Frühere Generationen hätten in ihrem Alter dieses Wort noch nicht einmal buchstabieren können.
Markus verweigert als Achtjähriger nach wie vor jeglichen geregelten Toilettengang, den er stattdessen konsequent in die Hose abliefert. Er ist bereits mehrfach nach allen Regeln organmedizinischer und psychologischer Kunst vermessen und getestet worden, was jedoch nichts am bestehenden Sachverhalt geändert hat.
Lydia hat im letzten Jahr vor Aufnahme ihrer Therapie ihre Unterarme mit derart vielen Schnitten traktiert, dass sich nun ein Narbenmuster aus zarten weißen Linien wie eine überdimensionale tätowierte weiße Manschette auf der gemarterten Haut abzeichnet.
Gregor ist internetsüchtig und hat seiner Mutter schon mit vierzehn in einem Wutanfall die Papierschere durch den Oberarm gerammt, als sie die Internetverbindung zu kappen drohte. Nach Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht lebt er nun in einer symbiotischen Beziehung mit seinem Laptop.
Anna, Manuela und Kerstin wiederum haben in der dritten Klasse des Gymnasiums einen handfesten Prostitutionsbetrieb eingerichtet, mit dem sie sich ihr Shopping finanzieren. Aufgrund der guten Nachfrage und wegen der limitierten Pausenzeiten in der Schule haben sie das nun auch auf den Nachmittag ausgeweitet und praktischerweise gleich in eine der elterlichen Wohnungen verlegt, da sowieso niemand zu Hause ist. »Sex ist einfach etwas, auf das die Typen stehen und mit dem sich super Kohle machen lässt«, erklärt mir Manuela voller Überzeugung. Mich befallen angesichts ihrer unverrückbar anmutenden Selbstverständlichkeit und Sicherheit dunkle Zweifel, ob für dieses Kind Sexualität je etwas anderes sein wird als ein Konsumgut und somit eine Ware. Immerhin braucht sie nicht zu lügen, denn die nachschulische Nachmittagsbeschäftigung wird von ihrer berufstätigen alleinerziehenden Mutter stillschweigend geduldet. Sie sieht lieber weg, als Kämpfe mit ihrer frühreifen Tochter auszufechten, solange diese die Pille nimmt und zur Therapie kommt.
Neben dieser Gruppe von Kindern, die derart auffällig geworden sind, dass sie einer Behandlung zugeführt werden müssen – jenen Kindern also, die meiner langjährigen Einschätzung nach einfach ganz, ganz laut werden müssen, um auf ihre innere Not und Verwirrung hinzuweisen –, neben dieser sichtbaren Spitze des Eisbergs also gibt es eine weitere, noch viel größere und beständig wachsende Gruppe von Kindern, die gerade noch unterschwellig sind. Das heißt, sie fliegen gerade noch unter dem Radar offensichtlicher Auffälligkeit, sind aber in der einen oder anderen Form deutlich beeinträchtigt und geben Anlass zur Besorgnis, wenn man darüber nachdenkt, wie sie in Zukunft ein erwachsenes, selbstverwaltetes Leben führen und befriedigende respektvolle Beziehungen mit anderen Menschen eingehen sollen.
Eine altgediente Pädagogin aus einer unserer Ausbildungsgruppen zur Erziehungsberaterin hat das einmal sehr prägnant zusammengefasst: »Als ich vor rund dreißig Jahren in den Schuldienst eintrat und als klassenführende Pädagogin zu arbeiten begann, hatten wir drei bis vier in irgendeiner Weise schwierige Kinder pro Klasse. Heute habe ich eine gute Klasse, wenn drei bis vier Kinder keine Auffälligkeiten zeigen oder gerade extremen Stress wegen der Probleme der Eltern haben.«
Da sind Bernadette, Markus, Sophia, Max, Flora, Paul, Anna, Robert, Kathrin, Sebastian, Maria-Martina und wie sie alle heißen, die einfach nicht mitmachen, ihre Hefte nicht aufschlagen, wenn sie sollen, nicht bereit sind, in den Garten zu gehen, wenn alle anderen es tun, sich tobend in der Garderobe wälzen, wenn sie ihre Jacke oder ihr Turngewand anziehen sollen. Allesamt überblasen sie die schrille Melodie obstinater, unüberwindbarer Verweigerung mit ihrem Verhalten und produzieren alltägliche Verzweiflung für ihre Umgebung.
Sie alle – und noch sehr viele mehr – tun ihre Rebellion kund, sorgen bei ihren Betreuerinnen, Pädagogen und auch bei ihrer Familie für Kopfschütteln und Ratlosigkeit. Sie legen allesamt ein Verhalten an den Tag, das gravierende Mängel im altersadäquaten Selbstmanagement und der Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen, zeigt.
Sabine wird wahrscheinlich auch heute, während ich dies schreibe, wieder an ihrem Kakaofläschchen nuckeln, wenn sie zu Bett geht. Eine Szene, die angesichts der Tatsache, dass sie bereits elf Jahre alt ist und schon menstruiert, seltsam anmutet.
Robert braucht zwar kein Fläschchen mehr zum Einschlafen, aber der Zehnjährige beharrt darauf, zwischen seinen Eltern im Ehebett zu schlafen und prügelt jeden Ansatz eines Versuchs, ihn von einem altersadäquaten eigenen Schlafplatz zu überzeugen, im wahrsten Sinn des Wortes sofort aus seinen verängstigten, behutsamen Akademikereltern heraus.
Die neunjährige Sandra ist da vergleichsweise unproblematisch und akzeptiert sogar ihr eigenes Bett, solange ihr allabendlich die mütterliche Brust zur Verfügung steht.
All diese Kinder werden von ihren Eltern zwar als mühsam erlebt, aber eifrig als »normal« bezeichnet. Was allerdings an dem eigentlichen Problem vorbeigeht, dass diese Kinder durch die soziale Entwicklungsverzögerung bis hin zur Infantilisierungsfixierung in der Entwicklung ihres Potenzials vehement eingeschränkt sind. Die eigentliche Botschaft dieser Kinder ist die Verweigerung. Und hier könnte Schlimmes auf uns zukommen, wenn wir uns in zehn bis fünfzehn Jahren hauptsächlich in einer Gesellschaft bewegen und bewähren müssen, in der junge Erwachsene nichts anderes sind als großgewachsene Vierjährige, die ihre emotionale Steuerung noch nicht ausreichend im Griff haben. Die Zukunft der Tyrannenkinder könnte für uns Eltern noch weit schlimmer aussehen als die Gegenwart!
Wir haben also ein ernstes Problem mit der Generation, die da gerade heranwächst und die leistungsstark sein und üppig ins Steuer- und Pensionssystem einzahlen muss, wenn der ohnehin schon schwankende Karren nicht vollends an die Wand gefahren werden soll. Daher ist beherztes Nachforschen statt systematischem Wegschauen angesagt!
All diese Kinder, die heftig auffallenden Tyrannenkinder genauso wie jene, die sich an der Grenze zur Auffälligkeit bewegen, sind allerdings weder böse noch wahnsinnig und, um es für alle Ewiggestrigen explizit auszuformulieren, auch kein schlechteres Kindermaterial als frühere Generationen. Die allerwenigsten dieser Kinder sind tatsächlich manifest psychisch krank und nur ein paar vereinzelte bewegen sich durch ihre biographische Überforderung am Rande dazu. Aber verrückt, irgendwie »heraus gerückt« aus einem normalen, unbeeinträchtigten Kinderleben wirken sie mit ihren Verhaltensoriginalitäten, Eigenheiten, Wutanfällen und ihrer Tyrannei nahezu alle. Sie brauchen Hilfe, und zwar unmittelbar, rasch und auf grundsätzlicher Ebene!
Der Hausverstand würde den allermeisten Kindern hier attestieren, dass sie einfach spinnen und damit die feine Grenze zwischen einem »schlimmen« und einem »spinnenden« Kind ziehen. Das »schlimme« Kind setzt aus Übermut, Wut oder einer anderen Stimmung heraus eine Aktion, die ihm durchwegs als Regelverstoß bewusst ist. Das »spinnende« Kind setzt seine Aktionen aus einem eigenen inneren Bezugssystem heraus, das weder seiner altersadäquaten Entwicklung entspricht, noch soziale Grenzen ausreichend zu erkennen und respektieren vermag.
Doch wieso »spinnen« heute so viele Kinder? Und das ausgerechnet in unserer saturierten und sich nach allen Seiten hin offen und liberal gebenden Konsum- und Technologiegesellschaft, die so viel Mühe und medialen Einsatz darauf verwendet hat, »alte Erziehungswerte« als schädlich zu entlarven oder als nutzlosen Ballast abzuwerfen? So viel Plackerei und Arbeit wie in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten geleistet wurde, um das kollektive Unbewusste samt seinen Grundüberzeugungen und Glaubensgrundsätzen umzukrempeln, passiert sonst nur in Revolutionszeiten. Als Ergebnis stehen wir nun einer immer größer werdenden Gruppe gestörter Kinder und Jugendlicher gegenüber, deren Zukunft als Erwachsene Anlass zu ernsthafter Besorgnis gibt.
Was dürfen wir von einem Siebzehnjährigen erwarten, der sich grober Sachbeschädigung und Körperverletzung schuldig macht, ohne dabei das geringste Unrechtsbewusstsein zu haben? Können wir uns vorstellen, dass Sabine mit ihrem Nuckelfläschchen in zehn oder fünfzehn Jahren die Verantwortung für ein eigenes Kind übernimmt? Wie wird das Arbeits- und Beziehungsleben all dieser tyrannischen Prinzen und Prinzessinnen aussehen, wenn ihnen der Hofstaat ihrer sie bewundernden Familie abhandenkommt?
Eine oberflächliche Betrachtungsweise oder Schuldzuweisungen an die üblichen Verdächtigen sind hier jedoch gänzlich fehl am Platz. Dafür ist das, was sich da im Unterbau unserer Gesellschaft gerade abspielt, zu grundsätzlich und zu folgenschwer.
Nüchtern betrachtet, ist eine Gesellschaft mit ihren Regulativen und ihrem jeweiligen Selbstverständnis, ihrer Realitätskonzeption und damit ihrer Einschätzung dessen, was »angemessen« und »normal« ist, nichts anderes als ein Konzern, in dem Generationen produziert werden. Die Elterngeneration »produziert« die Folgegeneration und bereitet diese durch ihre Erziehung auf die Anforderungen des Erwachsenenlebens vor. Natürlich gibt es in jeder Produktion auch sogenannte »Mängelexemplare«, die für den geplanten Endzweck des Produkts – in diesem Fall Teil der neuen Zukunftsgesellschaft zu werden – weniger brauchbar sind. Wie so ein »Mängelexemplar« definiert wird, dafür gibt es Toleranzgrenzen. Und zwar sowohl dafür, wie stark von der erwünschten Norm abgewichen werden darf – also ab wann das Produktionsstück als zu »fehlerhaft« oder »nicht ausreichend konform« etikettiert wird – als auch für die Quantität – also wie viele Stücke aus einer gewissen Menge abweichend sein dürfen. Solange sich das Ganze im Toleranzbereich bewegt, bleiben alle ruhig. Ein gewisses Ausmaß an Verweigerern, Spinnern, ja sogar Soziopathen oder völlig Unproduktiven hält eine Gesellschaft im Allgemeinen aus. Die »Mängelexemplare« werden mal als Materialschwäche, mal als Versagen der mit der Bearbeitung betrauten Personen oder der bearbeitenden Maschine, also der Gesellschaft, gesehen.
Überschreiten die »Mängelexemplare« jedoch eine gewisse Anzahl, gerät die Produktion in Aufruhr und die Suche nach den Ursachen beginnt, da ansonsten die gesamte Produktionsanlage bedroht ist. Eine Produktion, die ihren Auftrag nicht erfüllen kann, rationalisiert sich logischerweise selbst weg. Das gilt bei der Herstellung von Tupperware oder Autoteilen genauso wie in Staat und Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die nicht mehr genügend »fitte« Nachkommen hervorbringen kann, sondern bloß eine Generation, die lautstark »Verweigerung!« schreit, könnte es also an den Kragen gehen …
Wir reden hier wohlgemerkt von unserer Gesellschaft. Mit ihrer Verweigerung präsentiert die nächste Generation uns die Rechnung. Es wird also Zeit für einen Aufruhr.
Was heißt hier »fit for life«?
Wir haben einen Auftrag in Bezug auf unsere Kinder. Und auf den sollten wir uns bei aller Selbstinszenierung, eigener Bedürftigkeit nach Anerkennung und allem »modern sein Wollen« auch tunlichst besinnen. Er ist ziemlich simpel und wenn man selbst genügend erwachsen ist, auch durchwegs erfüllbar. Das Ganze basiert auf einem einfachen und grundsätzlich unauflöslichen Vertrag, der in dem Moment in Kraft tritt, in dem wir Kinder in die Welt setzen. Wir sind für sie verantwortlich und müssen sie »fit for life« machen. Wir müssen sie durch ihre Kindheit und Jugend begleiten, bis wir sie im jungen Erwachsenenalter endlich in die Unabhängigkeit entlassen können.
Das heißt, wir als Eltern, aber auch als Gesellschaft, sozialisieren das Kind durch die Vermittlung von Normen, Werten, situativen Verhaltensweisen oder Regeln und bringen ihm einen Verhaltenskodex bei, der es ihm ermöglicht, sich in die Gemeinschaft zu integrieren. Das alles unter Berücksichtigung der speziellen Talente des Kindes und seiner Individualität. Wir sprechen hier also von der Basis, dem gesellschaftlichen Alphabet, mit dem das Kind lernt, im Laufe der Zeit das Buch seines eigenen Lebens zu schreiben.
Das Ganze nannte sich früher, als man sich noch weniger darum bemühen musste, möglichst frühzeitig die beste Freundin oder der beste Freund seines Kindes zu werden, um als aufgeschlossene Mutter oder als aufgeschlossener Vater zu gelten, Erziehungsauftrag. Heute klingt das irgendwie sperrig, fast schon anrüchig, auf jeden Fall mühevoll, zäh und weniger cool, als sich den Minirock der vierzehnjährigen Tochter anzuziehen oder den Sprachstil des pubertierenden Sohnes zu übernehmen. Aber die Neuigkeit lautet: Man kommt aus diesem Vertrag nicht heraus!
Im Prinzip ist es ganz einfach: Eltern müssen kraft ihres Erfahrungsvorsprungs Führungs- und Orientierungskompetenz beweisen, also einfach Eltern sein, damit Kinder einfach Kinder sein und ihren Eltern (nach)folgen können. Das ist so simpel und hat sich über so viele Jahrtausende bis ins 21. Jahrhundert bewährt, dass man es als selbstverständliches Grundgesetz bezeichnen könnte. Die Alten geben die Regeln vor, tragen die Verantwortung für die Jungen, bringen ihnen alle Tricks und Kniffe bei und vermitteln ihnen, worauf es ankommt. Die Jungen hören zu, machen, da unsere Spezies bekanntlich höchst imitationsfreudig ist, alles nach und wachsen an der immer länger werdenden Leine der Alten immer mehr in eine schrittweise erprobte und damit auf einem soliden, selbstbewussten Fundament stehende junge erwachsene Existenz hinein. In der können sie dann von mir aus auch gerne alles umkrempeln, neu erfinden und frisch bewerten – sie sind dann ja erwachsen, sprich, mit planerischem und vorausschauendem Denken ausgerüstet und dadurch fähig, die Verantwortung für die Konsequenzen ihres Tuns zu tragen.
Bis hierher gibt es nahezu niemanden, der auch nur im Entferntesten etwas mit Kindern zu tun hat, der diese Überlegungen nicht nachvollziehen könnte. Trotzdem ist es wichtig, sich diese schlichte, allgemein verständliche Grundübereinkunft explizit vor Augen zu führen. Denn erst der Blick auf das Grundsätzliche führt zu der Einsicht, dass auch eine minimale Abweichung der Kompassnadel vom Kurs, wenn man sie lange Zeit toleriert, letztendlich zu einer ganz anderen Reiseroute und einem anderen Ziel als dem ursprünglich geplanten führt.
Obwohl so eindeutig feststeht, wie die Beziehung zwischen Eltern und Kindern beziehungsweise zwischen der Gesellschaft und der nächsten Generation aussehen soll – Eltern und Gesellschaft tragen die Verantwortung für das gedeihliche Aufwachsen der Kinder, die Kinder wiederum überlassen sich vertrauensvoll der Führung ihrer Eltern, und die liebevolle Verbundenheit, die auf unzähligen gemeinsamen Erlebnissen gründet, ist der Klebstoff für diesen nicht immer friktionsfreien Prozess –, liegt gerade hier das Problem. Denn unsere moderne Gesellschaft gibt zu diesem grundsätzlichen Auftrag nur ein Lippenbekenntnis ab und ignoriert ihn im Alltagsleben vollständig. Moderne Eltern führen ihre Kinder nicht mehr, sondern wollen Kumpel sein. Wer anderer Ansicht ist, gilt rasch als rückschrittlich oder autoritär.
Die Kinder ihrerseits rebellieren und sind ebenfalls nicht bereit, ihren Teil des Vertrags einzuhalten. Mit anderen Worten: Sie verweigern die Gefolgschaft und entwickeln stattdessen zum Teil recht obskur anmutende Wirklichkeitskonstruktionen, die für sie selber alles andere als förderlich sind.
Sabine konnte zum Beispiel nicht auf die Sportwoche ihrer Klasse mitfahren, weil es für sie einfach unvorstellbar war, ohne Kakaofläschchen einzuschlafen. Phillipps Biografie wird durch die Aktion mit dem Range Rover seiner Mutter eine nicht unerhebliche Delle abbekommen. Markus bewegt sich mit seiner konsequenten Hosenscheißerei geradewegs auf den sonderpädagogischen Schulzweig zu, in dem er dann vielleicht Georg treffen wird, der sich zu einer echten Struwwelpeter-Existenz entschlossen hat. Es gelingt dem mittlerweile Zehnjährigen seit drei Jahren, Kamm und Haarbürste seiner verzweifelten Mutter auszuweichen. Auch eine Haarwäsche kommt für ihn nicht infrage, weicht er Wasser und Seife doch grundsätzlich aus. Mit entsprechenden olfaktorischen Konsequenzen.
Diese Kinder und auch all die anderen, die für mich nach zahlreichen Fallanalysen wirken, als würden sie verwirrt und viel zu früh auf einer Lebensautobahn herumirren, die sie schwer überfordert, und die allesamt mit Recht in Form von Verhaltensauffälligkeiten, Spinnereien oder verrücktem Gehabe laut nach Orientierung schreien, nehmen eine ganze Menge in Kauf. Wir sollten ihre Botschaft endlich kapieren! Auch wenn es unangenehm ist. Auch wenn es unsere Egos kränkt. Auch wenn unser Heiligenschein als berufstätige Karrierefrau und Mutter, die meint, alles unter einen Hut bringen zu können, verblasst. Auch wenn wir unsere Behauptung, dass wir im Unterschied zum eigenen Erzeuger ja ein echter Vater für unsere Kinder sind, ehrlich hinterfragen und auf den Prüfstand stellen müssen. Auch wenn wir uns fragen müssen, welche Botschaften wir unseren Kindern in dieser bequemen, hauptsächlich auf Konsumerlebnisse und Umsatz ausgerichteten Gesellschaft tagtäglich vermitteln.
Und auch wenn das alles unbequeme Stunden verspricht, so müssen wir die Botschaft trotzdem verstehen. Das schulden wir all diesen Kindern mit ihren gemarterten Seelen, die verwirrt und angstvoll nicht nur durch psychotherapeutische Sprechzimmer (oder auch nur durch ihre Klassenzimmer und Kindergartengruppen), sondern auch durch ein Universum treiben, das sie nicht verstehen und dabei ihre Kräfte aufzehren. Entwicklungsverzögert, sozial unangepasst bis schlecht integrierbar, leistungsverweigernd, wehleidig, permanent auf der Suche nach Reizen, konsumorientiert, aggressiv, depressiv und im schlimmsten Fall autodestruktiv und vor allem weit davon entfernt, ihr Potenzial zu entwickeln.
Wir schulden diesen Kindern eine genaue und unbarmherzig schonungslose Aufdeckung, was hier gesellschaftlich eigentlich schiefläuft. Auch wenn es uns danach peinlich sein sollte, unserem Spiegelbild mit seinem falschen Erfolgsgrinsen zu begegnen. Denn genau das tun unsere Kinder – sie halten uns einen Spiegel vor Augen. Dabei schreien sie, so laut sie können. Sie haben recht damit. Denn wir lassen sie jetzt, in ihren Kindertagen, im Stich. Die Rechnung dafür werden sie uns präsentieren, wenn sie erwachsen sind und sich von uns abwenden.
Und jetzt überprüfen Sie ganz schnell noch einmal, ob Sie weiter lesen wollen oder den Impuls empfinden, diesen Text einfach zuzuschlagen.
Willkommen in der schönen neuen bunten Welt
Jetzt macht sich angesichts der Anschuldigungen, die ich gegen bemühte Eltern und rastlose Gesellschaftspolitik erhebe, wohl gerade Empörung breit. Die Gegenbeweise liegen doch auf der Hand! Noch nie haben wir uns so bewusst für ein Kind entschieden, noch nie wurde so viel über Kinder geschrieben und gelesen, noch nie so viel in Kinder investiert, denn dass Kinder eine teure Angelegenheit sind, weiß heute jeder. Dennoch lassen wir sie als Gesellschaft substanziell im Stich und weigern uns als Eltern, unseren Erziehungsauftrag zu erfüllen. Der unterschiedlich ausfallende Protest der Kinder, der sich in diversen Auffälligkeiten niederschlägt, ist erst der Anfang. Denn irgendwann werden sie ja doch erwachsen oder zumindest ausgewachsen sein.
Um zu verstehen, wie es dazu gekommen ist, müssen wir die Uhr ein paar Jahre zurückdrehen und die Entwicklungen Revue passieren lassen.
Vor gar nicht allzu langer Zeit war die Welt noch sehr eindeutig und simpel gegliedert. Es gab die Guten auf der einen und die Bösen auf der anderen Seite. Das war bequem und vermittelte ein Gefühl von Sicherheit, Überblick, Kontrolle und natürlich Zugehörigkeit – Zugehörigkeit zu den Guten versteht sich, denn egal auf welcher Seite man stand, man gehörte immer zu den Guten! Wichtig war nur, dass es zwei Seiten gab, denn darauf gründete das ganze Spiel. Und natürlich darauf, dass man es möglichst schwer machte, die andere Seite kennenzulernen und sie als gefährlich verkaufte. Man zitterte vor den anderen, pflegte seine Abgrenzung und fühlte sich in der eigenen Haut wohl und bestätigt. Auf diese Weise gelingt es solchen Systemen besonders identitätsspendend zu werden. Und es tut ausnehmend wohl, wenn man weiß, wer man ist und dieses Wissen nicht erst Stück für Stück mühselig erwerben muss, wie es heute im Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten und vor allem der unterschiedlichsten Wertvorstellungen der Fall ist.
Für mich bedeutete das in meiner Jugend, dass alle Bösen hinter dem Eisernen Vorhang saßen, während ein imaginäres kollektives »Wir« im Westen a priori die Guten verkörperte. Das führte dazu, dass eine Reise nach Budapest einem Abenteuer glich, das von Kommilitonen bewundert und durch stundenlange Grenzkontrollen durch finster dreinblickende Beamte behindert wurde. Es zwang einen auch, einen Blick auf Stacheldrahtverhaue, Hundepatrouillen, Maschinengewehre und Wachtürme samt grellen Scheinwerfern zu werfen, was wohlige Gänsehaut verursachte und die Idylle der eigenen Lebensart im wenige Kilometer entfernten Wien bestätigte. Bukarest fühlte sich von seiner Erreichbarkeit her an, als würde es auf den Osterinseln liegen, und die Berliner Mauer allein war schon die Verkörperung der schwarzen Macht.
Es herrschte ein Gleichgewicht des Schreckens, aber immerhin ein Gleichgewicht. Das war schon einmal etwas, auf dem man aufbauen und in dem man einen sicheren Rahmen und einen Platz finden konnte. Von dem aus konnte man unter den klaren Wertevoraussetzungen dieser Gesellschaft schaffen oder auch raffen wie man wollte. Wie heißt es doch so schön: Gib mir einen festen Punkt und ich hebe die Welt aus den Angeln!
Dann kam die Wende und mit ihr der Sieg unseres Teiles der Welt und damit unserer Werte. Da wir für uns die Rolle der »Guten« beanspruchen konnten und uns Demokratie, Wohlstand, Kapital und Konsum auf die Fahnen geheftet hatten, war das natürlich besonders fein. Die Gründe für den Zusammenbruch der Sowjetunion als Protagonisten der »bösen anderen« lassen wir hier beiseite, auch wenn sie in ihrer Tiefendynamik jenseits von Politik höchst spannend sind.
Doch wir wollen uns hier zügig auf die Misere unserer Kinder konzentrieren, die wir verkauft, instrumentalisiert, betrogen haben und in der sensiblen Zeit des Aufwachsens und der Orientierungssuche einfach im Stich lassen. Wir wollen uns anschauen, wie die Antwort aussehen wird, die sie uns bald geben werden. Dafür müssen wir uns vorher aber im Tiefengebälk unseres psychologischen Kellers mit den Auswirkungen unseres Sieges und damit mit den gesellschaftlichen Überzeugungen auseinandersetzen, die sich in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten entwickelt haben.
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