Kitabı oku: «Budschakenblut», sayfa 3
Olga betrat den Laden und war die einzige Kundin. Gespannt schaute sie den Buchhändler an. Der zwinkerte ihr zu und nickte mit dem Kopf. »Olga, deine Zeitschrift ist dabei, bei der Lieferung. Vielleicht brauchst du noch etwas anderes? Etwas aus der Galanterieabteilung?«
»Nein danke.«
»Vielleicht ein Tuch, oder einen Fächer? Oder etwas von den Putzwaren?«
»Danke, aber ich ...«
Der Verkäufer griff nach der Zeitschrift im Regal und reichte sie Olga, die sogleich bezahlte.
»Wenn alle Frauen hier so versessen auf die neue Mode sind, dann hat sich die Lieferung gelohnt«, rief er Olga hinterher, die bereits den Laden verlassen hatte.
Der Buchhändler ahnte nicht, dass dies seine einzige Bestellung gewesen war. Er blieb auf einem Stapel Zeitschriften sitzen, bis er sie Wochen später in seinem Ofen zu Hause verfeuerte.
Trotz der Kälte konnte Olga es nicht erwarten, die Zeitschrift erst anzuschauen, wenn sie zuhause war. Neugierig, was Deutschland in der Mode zu bieten hatte, setzte sie sich auf eine Bank am Markplatz, blätterte in der Zeitung und schaute auf die Schwarzweißbilder.
»Die moderne Frau trägt ihren Rock jetzt kürzer. Passend dazu höhere Absätze an den Schuhen. Die Auswahl an Formen und Farben sind vielfältiger. Bei den Strümpfen setzen sich hellere Farben durch. Schwarze Strümpfe dürfen in der untersten Schublade ihrer Kommode verschwinden. Meine Damen, Sie sehen, Strumpf und Schuh spielen eine wichtige Rolle in ihrem neuen Erscheinungsbild.«
Olga blätterte um.
»Hier ein ganz besonders ausgefallenes Modell des österreichischen Dirndls. Seinen Erfolg hatte es bereits im Jahre 1916. Die mutige Frau trägt die runde Büste etwas enger geschnürt und legt auch besonderen Wert auf die hohe Taille.
Der weite wadenlange Rock verhilft Ihnen dazu, an der guten Tradition festzuhalten und sich wie in besseren Zeiten zu fühlen. Denn, glauben Sie mir, meine Damen, die besseren Zeiten sind angebrochen.«
Olga blätterte ein paar Seiten weiter. Ihre Aufmerksamkeit wurde auf eine Fotografie gelenkt, die eine Frau mit kurzem Haarschnitt zeigte. Unter dem Foto stand:
»Die moderne Frau greift zur Schere: Wer in neuerer Zeit modisch mithalten möchte, schneidet sich die langen Haare ab. Vergessen Sie Ihre alten Zöpfe. Kurzhaarfrisuren setzen sich durch.«
Olga musste lächeln. Das würde sie Berta zeigen. Sie war zwar hier – wie sie oft zu Berta sagte – am Borschtsch der Welt, aber mal wieder ihrer Zeit voraus. Olga freute sich, war aber gleichzeitig enttäuscht. Wie wenig hatte ihr diese Modezeitschrift zu bieten. Die Mode aus Deutschland war für sie nichts Aufregendes. Die mitgelieferten Kleiderschnitte brauchte sie sowieso nicht. Sie fertigte selbst welche an.
Olga stand von der Bank auf und ging nach Hause.
Kaum hatte sie den Hof in der Bachstraße betreten, rannte ihr Berta entgegen. Sie fuchtelte mit einem kleinen Päckchen in der Hand in der Luft herum.
»Olga, für dich! Aus Paris!«
»Ach Berta«, Olga dachte daran, dass die Schwester sich mal wieder einen Scherz mit ihr erlaubte.
Als Berta ihr aber das Päckchen entgegen streckte, sah sie es mit eigenen Augen. Es war tatsächlich in Paris abgeschickt worden.
Sie kannte niemanden, der dort lebte. Vielleicht eine Verwechslung? Sie schaute nochmals darauf. Groß und deutlich war ihr Name zu lesen: Olga Illg.
3
»Warum müssen wir überhaupt nach Kiew fahren?« Friedrich warf einen Holzklotz in den Ofen und schaute zu seiner Mutter, die am Tisch saß und in ihre Stickarbeit vertieft war. »Jetzt fang nicht schon wieder an.«
»Ich versteh nicht, warum der alte Herr nicht nach Sarata kommt. Wenn er krank ist, können wir ihn hier am besten pflegen.«
»Der alte Herr ist immer noch dein Vater. Ich erwarte etwas mehr Respekt.« Lydia legte ihre Handarbeit auf den Tisch. »Dein Vater wünscht sich, dass wir kommen. Warum sollen wir ihm nicht den Gefallen tun? Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«
Friedrich zuckte mit den Schultern.
»Siehst du, du erinnerst dich nicht einmal mehr daran. So lange ist das her. In Kiew waren wir auch nur ein einziges Mal. Da warst du ...« Lydia überlegte, aber es wollte ihr nicht einfallen, wie alt ihr Sohn damals gewesen war. »Jedenfalls werde ich deinen Vater nicht bitten, in seinem Zustand hierher zu kommen. Darüber brauchen wir nicht mehr zu reden. Wir fahren.« Entschlossen stand Lydia vom Stuhl auf und stellte sich neben ihren Sohn.
Friedrich überragte seine Mutter um zwei Köpfe. Neben ihm wirkte Lydia wie ein zerbrechliches Püppchen. Der 20-jährige sah seinem Vater sehr ähnlich. Er besaß die gleichen forschenden dunkelbraunen Augen, eine ebenso länglich schmale Gesichtsform und einen kräftigen Haarwuchs. Friedrichs Körperbau war schlank und durchtrainiert. Sein ganzer Oberkörper war muskulös, was daran lag, dass er während des Krieges im Schotterwerk und beim Straßenbau mitarbeiten musste. Auch bei Lydia im Haus und auf dem Hof erledigte er alle anfallenden körperlichen Tätigkeiten.
Wenn Friedrich im Dorf unterwegs war, entgingen ihm nicht die bewundernden Blicke der jungen Mädchen. Auch bemerkte er, wenn eines der Mädchen allzu oft seine Wege kreuzte. Lydia blieb das nicht verborgen. Insgeheim sorgte sie sich aber ein wenig darüber, dass sich ihr Sohn den Blicken der Mädchen gegenüber gleichgültig verhielt.
Friedrich war genauso intelligent wie der alte Friedrich Köhler. Ebenso wie der Vater verfügte der Sohn über eine schnelle Auffassungsgabe. Er besuchte die Wernerschule im Ort. Vom Alter her war er eigentlich kein Schuljunge mehr, aber durch den Krieg hatten die jungen Männer in Sarata einiges versäumt. Wenn Friedrich so schnell weiterlernte, wie er angefangen hatte, würde er nicht nur einen hervorragenden Abschluss machen, sondern vielleicht auch früher zur Prüfung zugelassen werden.
In Kiew, wo der alte Köhler schon seit ewigen Zeiten lebte, arbeitete er an der dortigen Universität. Sein Leben gehörte einzig und allein der altindischen Literatursprache, dem Sanskrit und natürlich der Wissenschaft. Er hatte wenig Zeit zusammen mit seiner Familie verbracht und das Leben seiner Frau und vor allem das Leben seines Sohnes waren ihm fremd. Von den seltenen Aufenthalten des alten Köhlers in Sarata hatte der Sohn nur ein ungenaues Bild. Aber er erinnerte sich daran, als er noch klein war und der Vater seinen Besuch angekündigt hatte. Da sprang die Mutter schon Tage vorher freudig und aufgeregt durchs Haus, säuberte alles und backte Kuchen. War der Vater dann da, hatte die Mutter für den Kleinen kaum noch Zeit. Packte der alte Köhler seine Koffer wieder, hüpfte der Sohn aufgeregt vor Freude durchs Haus. Endlich hatte er die Mutter wieder für sich alleine.
Die Jahre vergingen und Lydia zeigte sich vor der Ankunft ihres Mannes immer weniger euphorisch. So gelassen wie sie dem Wiedersehen entgegen sah, so ruhig verabschiedete sie ihn auch wieder. Sie hatte sich daran gewöhnt, mit ihrem Sohn alleine zu leben und gut mit ihrer Situation zurechtzukommen.
Kam der Vater doch noch auf einen Kurzbesuch nach Hause, brachte er die alltäglichen Verrichtungen und den Tagesablauf von Mutter und Sohn durcheinander.
Auch der alte Köhler spürte die Entfremdung und war es leid, sich auf seine Familie einzustellen. So wurden die Abstände zwischen seinen Besuchen immer größer, bis sie ganz ausblieben. An der gegenseitigen Wertschätzung und der Liebe zwischen Mutter und Vater änderte das jedoch nichts. Fortan verwandelte sich ihr Miteinander in eine schriftliche Korrespondenz. Zuweilen schrieben sie sich wie Frischverliebte leidenschaftliche Briefe. Zwischen den Zeilen teilten sie sich alles mit. Sie wussten mehr voneinander, als manch verheiratetes Paar im Ort, dass sich täglich sah und nichts zu berichten wusste.
Lydia band immer zehn Briefe mit einer roten Schnur zusammen und bewahrte sie unter ihrem Bett in einer Holzkiste auf.
Friedrich Köhler plagte Zeit seines Lebens ein Lungenleiden. Je älter er wurde, desto träger wurde seine Lungentätigkeit und seine Asthmaanfälle nahmen zu. Als er seiner Frau diesmal schrieb und um einen Besuch bat, ahnte er bereits den nahen Tod.
Lydia und Friedrich dachten bei ihrer Reise nach Kiew an eine schlimme Erkältung des Vaters, die sich dank Lydias Pflege während ihres Besuches bestimmt schnell beheben ließ.
Als die beiden in Kiew eintrafen, lag der alte Köhler nicht mehr in seinem Bett, sondern in einem Sarg aus Tannenholz. Seine russischen Kollegen hatten bereits alle Vorbereitungen getroffen und richteten ihm eine prunkvolle Beerdigung aus. Jeder der Professoren hielt eine Rede und würdigte die wissenschaftlichen Verdienste des Toten. Lydia konnte den Worten der Gelehrten kaum folgen, Friedrich dagegen verstand die russische Sprache ausgezeichnet. Mutter und Sohn waren damit einverstanden, den Toten dort ruhen zu lassen, wo er gelebt hatte. So wurde Friedrich Köhler die große Ehre zuteil, als einziger Professor auf dem Gelände der Universität seine letzte Ruhestätte zu finden. Der Leichnam wurde unter alten Kastanienbäumen gegenüber dem Eingang des Universitätsgebäudes begraben.
Anschließend begab man sich in den großen Saal der Universität zum Leichenschmaus. Das Mahl zum Gedenken an den Toten bot eine Vielfalt an Köstlichkeiten der russischen Küche. Auf den Tischen standen Schüsseln voll mit russischer Krautsuppe, dem Borschtsch. Daneben auf Tellern gestapelte Hefepfannkuchen, Schafskäse mit Oliven, Krautwickel mit Hackfleisch und Reis gefüllt, Kaviar, Hackgemüse aus Auberginen und Paprika, gefüllte Zucchini und Kürbisse und verschiedene Fleischpasteten. Zwischen den einzelnen Speisen standen reichlich Piroschki, die gefüllten Brötchen und Moskowski, die bekannte Moskauer Wurst.
Zuerst wussten Lydia und Friedrich gar nicht, für was sie sich entscheiden sollten. Lydia ließ sich einen Teller Borschtsch reichen und aß zwei Piroschki dazu. Friedrich dagegen aß außer von den Gemüsespeisen von allem zu viel.
Das Dessert wurde aufgetragen: Süßspeisen aus gepressten Haselnüssen oder Sesam mit Honig, eingemachtes Obst und Teigtaschen gefüllt mit Beeren oder Quark. Man reichte Erfrischungsgetränke und in silbern glänzenden Samowaren zubereiteten russischen Tee, den tschai.
Während der Mahlzeiten drehten sich die Gespräche um den verstorbenen Friedrich Köhler. Doch kaum waren die letzten Anwesenden mit dem Essen fertig, spülten alle die wehmütigen Worte und Gedanken an den Toten mit reichlich Wodka hinunter. Machorka, ein starker russischer Tabak machte die Runde.
So ging dieses traurige Zusammentreffen in ein fröhliches Abschiednehmen über.
»Die Russen verstehen es, schnell wieder ins wahre Leben zurückzukehren«, flüsterte Friedrich seiner Mutter ins Ohr. Er lehnte sich satt auf seinem Stuhl zurück und ließ sich noch einen Schnaps und eine Zigarette reichen.
Doch der russische Tabak und der Alkohol bekamen dem 20-jährigen nicht. Wenig später rannte er die Treppen im Universitätsgebäude hinauf, in die Wohnung seines verstorbenen Vaters. Der alte Köhler war der einzige Professor, der in der Universität gewohnt hatte. Hier hatte er sich einen Vorlesungssaal zu einer Wohnung umbauen lassen, mit der Begründung, zu jeder Tages- und Nachtzeit der Wissenschaft dienen zu können.
Nachdem sich Friedrich der köstlichen Speisen in seinem Magen wieder entledigt hatte, warf er sich aufs Bett und schlief sogleich ein.
Kaum war Friedrichs Stuhl neben Lydia frei geworden, setzte sich ein korpulenter, glatzköpfiger Russe mit einem Glas Wodka in der Hand zu ihr. Ungefragt goss er Lydia noch einen Schnaps ein. Dann hob er sein Glas, grinste sie an und zeigte auf sich: »Leonid.« Lydia wollte nicht unfreundlich sein, hob ebenfalls ihr Glas: »Lydia.«
Kaum hatte sie ihren Namen ausgesprochen, öffnete sich die Türe des Saals und eine Gruppe Musiker spazierte herein.
Sie stellten sich in eine Ecke des Raumes und packten ihre Instrumente aus. Für alle anderen im Saal schien an der Situation nichts besonderes. Und bevor sich Lydia noch mehr wundern konnte, setzte die Musik ein zum Kosakentanz im 2/4 Takt. Schon erhoben sich die Ersten von ihren Plätzen und tanzten den Kasatschok.
Lydia schaute erstaunt zu. Plötzlich griff Leonid nach ihrer Hand. Bevor Lydia den Mund aufmachen konnte, zog Leonid sie hinter sich her zu den Tanzenden.
Die starke Hand des Mannes und der Wodka erstickten Lydias Ablehnung bereits im Anflug. Einen Moment überlegte sie, wann sie das letzte Mal getanzt hatte. Es musste an ihrer Hochzeit gewesen sein.
Sie staunte, wie manche der Gelehrten ihre Füße zu den Seiten schwangen und weite Sprünge machten, als wären sie echte Akrobaten.
Leonid ließ Lydias Hand los und zeigte ihr, wie sie sich bewegen konnte. Anfangs scheute sie sich davor, ihren Körper kreisen zu lassen und sich der Musik hinzugeben. Ihr Partner war aufmerksam genug, um zu erkennen, dass diese Frau womöglich schnell wieder an ihren Platz zurückkehren würde. Deshalb fasste er erneut nach ihrer Hand und ließ sie nicht wieder los. Je länger er ihre zarte Hand mit der seinen umschloss, desto sicherer gab sich Lydia dem Rhythmus hin.
Leonid war ein geduldiger Lehrer und Lydia zeigte sich bald schon als begabte Schülerin. Unermüdlich hüpften sie neben den anderen Tänzern. Leonids Kondition war Lydia unbegreiflich. Sein Bauch schwabbelte auf und nieder während er in der Hocke seine Füße abwechselnd vor sich hin und her warf. Lydia hatte sich schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt.
Leonid zog sie an sich und umschlang sie mit seinen festen Armen. Es kam ihr vor, als würde sie von einem kräftigen Bären gehalten, der sie beschützen wollte.
Was tue ich hier? Kaum bin ich Witwe, schon amüsiere ich mich, ging es ihr durch den Kopf.
Aber dieses Gefühl von Sicherheit und Wärme zog sie an. Einen Moment dachte sie, nie wieder in ihrem Leben so eine Geborgenheit spüren zu können. Lag es am Wodka, oder an diesem Mann, dass sie am liebsten in seinen Armen sterben würde? Sie drückte sich fester an seinen Körper. Es störte sie nicht, dass die Ärmel ihres Kleides auf ihrer Haut klebten. Sein nassgeschwitztes Hemd machte ihr ebenfalls nichts aus. Sie atmete seinen Duft ein. Er roch erdig-süßlich, nach Kirschen, vermischt mit seinem Schweiß. Sie mochte diesen Geruch. Leicht, jugendlich und begehrenswert fühlte sie sich. Plötzlich wusste sie, dass es genau das war, was sie in all den Jahren vermisst hatte. Dieses einzigartige und unbeschreibliche Gefühl nach Geborgenheit und Körperwärme. Einen Augenblick überlegte sie, wann ihr Mann sie das letzte Mal im Arm gehalten hatte. Sie seufzte und schloss die Augen. Leonid streichelte mit einer Hand in kreisenden Bewegungen ihren Rücken. Mit der anderen hielt er sie an sich gepresst, als wolle er sie nie wieder loslassen.
»Lass mich dieses Gefühl nie vergessen«, murmelte Lydia leise vor sich hin. Aber wie konnte sie sich so hingeben, wo sie doch gerade eben erst Witwe geworden war? Sie sollte sich schämen und diesen Mann von sich stoßen. Aber sie konnte nicht anders und legte ihren Kopf an seine Schulter, um ihm noch näher zu sein.
War sie verrückt geworden? Kaum lag der alte Köhler unter der Erde, ließ sie sich von einem Fremden anfassen. Es war wie ein Traum. Vielleicht träumte sie wirklich und würde gleich aufwachen, über alles lachen oder sich ärgern darüber, dass es nur ein Traum gewesen war. Doch es konnte kein Traum sein, ihre Haut zitterte bei jeder Berührung, sein Geruch betäubte ihre Sinne. Nie wieder wollte sie die Augen öffnen. Sie hörte seinen Atem an ihrem Ohr und wusste, würden ihre Füße versagen, er hielt sie fest. Sie spürte ein paar Tränen, die zwischen ihren geschlossenen Lidern einen Weg über ihre Wangen suchten, sich an seiner Schulter im Hemd verfingen, wo sie augenblicklich antrockneten.
Lydia bemerkte, dass sie sich nicht mehr bewegte. Wie lange schon standen sie bewegungslos auf der Tanzfläche?
Weder sie noch Leonid hörten, dass die Musiker nicht mehr spielten.
Umschlungen standen die beiden im Saal. Lydia mit geschlossenen Augen, ihren Kopf an seine Schulter geschmiegt. Leonid mit geneigtem Haupt auf ihrem Haar.
Ihre Atmung hatte einen gemeinsamen Rhythmus gefunden. Lydia spürte sein Herz schlagen und fühlte immer noch die sanften Bewegungen seiner Hand auf ihrem Rücken. Leonid küsste ihre Haare.
Die Musiker packten ihre Instrumente ein. Es wurde laut im Saal.
Lydia öffnete ihre Augen und hob ihren Kopf. Da standen sie und alle Augen im Saal waren auf die Beiden gerichtet. Lydia spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss.
Sie schob sich weg von Leonid. Ihre Wangen leuchteten wie reife Tomaten, als sie zu ihrem Stuhl lief, nach ihrer Tasche griff und aus dem Saal rannte. Leonid schaute ihr erstaunt nach, dann lief er hinter Lydia her. Im Treppenhaus nahm er zwei Stufen auf einmal, als er die Treppe hinter ihr hinaufrannte. Oben holte er sie ein und griff nach ihrer Hand. Ohne sich umzudrehen, zog sie ihn hinter sich her, bis an die Türe der Wohnung ihres verstorbenen Mannes. Sie drehte sich um. Er umschlang sie mit seinen Armen und drückte ihren Körper an seinen. Dann nahm er ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie. Lydia weinte.
Einen Tag später reisten Lydia und Friedrich ab. Ein paar Kollegen des alten Köhler brachten die beiden zum Bahnhof. Sie überreichten Lydia eine Holzkiste. Darin lagen alte Knochen. Es waren die Knochen, die der alte Köhler lange vor dem Krieg aus Sarata nach Kiew mitgebracht hatte. Lydia erinnerte sich daran, dass ihr Mann früher einmal Ausgrabungen an den Kanonenhügeln gemacht hatte. So nannten die Bessaraber die kegelförmigen Hügel auf den Anhöhen um Sarata. Das kam daher, dass die ersten Einwanderer diese Hügel für Erdaufschüttungen in Kriegen hielten und sie als praktisch zum Ausspähen der Feinde ansahen. Sie dachten damals, wenn Kanonen darauf stünden, wäre der Feind von oben herunter besser zu treffen.
Der alte Köhler hatte das alles nicht geglaubt. Er hatte Männer aus der Gemeinde dazu überredet, die Anhöhen aufzugraben. Was er gefunden hatte, waren Gräber. Die Kanonenhügel waren nichts anderes als Hügelgräber. Als Köhler die ersten Knochen ausgebuddelt hatte, veranstaltete der Schulz in Sarata ein großes Fest. Zur Erforschung hatte der alte Köhler ein paar Knochen mit nach Kiew genommen.
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Jetzt standen Lydia und Friedrich auf dem Bahnsteig neben ihrem Koffer und einer alten Holzkiste voll menschlicher Überreste. Als sich die Russen von der Witwe und dem Sohn verabschiedet hatten, sah Lydia einen Mann auf sie zurennen. Sie erkannte Leonid, der außer Atem ihren Namen rief und ihr zuwinkte.
»Was will der denn?«, wunderte sich Friedrich.
Lydia sagte nichts. Leonid sprang auf sie zu und keuchte: »Lydia!« Er nahm ihre Hände in seine.
Friedrich schaute verblüfft zu. Er traute seinen Augen nicht, als er sah, wie der Mann seine Mutter an sich drückte und ihr nicht nur einen herzhaften Kuss auf den Mund gab. Dann schaute Leonid Lydia lange in die Augen und reichte ihr einen Briefumschlag. Er sah Friedrich an und verabschiedete sich mit den Worten: »Dein Vater sagte einmal zu mir, seine Frau würde wie eine griechische Göttin aussehen. Er hatte nicht ganz Recht damit.« Leonid blickte zu Lydia und sprach weiter: »Sie sieht nicht nur so aus. Deine Mutter ist eine Göttin.« Leonid lächelte Lydia an, die nichts verstanden hatte. Dann drehte er sich um und ging davon.
Die Rückreise war sehr unangenehm für Lydia. Zuerst musste sie sich anhören, dass ihr Sohn diesen Russen für betrunken und nicht ganz richtig im Kopf hielt. Als nächstes starb Friedrich fast vor Neugier, was wohl in dem Brief stand, den seine Mutter bekommen hatte. Da Lydia nicht im Stande war, Leonids russische Zeilen zu lesen, griff sie auf die Hilfe ihres Sohnes zurück. Sehr schnell bemerkte sie, dass dies ein Fehler war. Friedrich lachte über Leonids Worte und ereiferte sich über dieses Dickerchen, wie er Leonid nannte. Wütend riss ihm seine Mutter den Brief aus der Hand.
Ihre Augen funkelten Friedrich böse an und sie verbot ihm jedes weitere Wort während der Fahrt. Als der Zug in Sarata ankam, ärgerte sie sich immer noch darüber, dass sie so unvorsichtig gewesen war, Friedrich den Brief zu zeigen. Warum hatte sie nicht gewartet damit und Olga gebeten, ihr alles vorzulesen?
Lydia wäre nicht in den Sinn gekommen, dass sie von Kiew als Witwe mit einem Totenschein und einer Kiste voller Knochen zurückkommen würde. Aber dass sie nach Sarata zurückkehrte, Kasatschok tanzen konnte und noch den schriftlichen Heiratsantrag eines russischen Professors in der Tasche hatte, das wäre ihr nicht mal im Traum eingefallen.
Nach den vielen Ereignissen in der kurzen Zeit blieb Lydia keine Zeit auszuruhen, nachzudenken und zu trauern. Als die Gemeinde erfuhr, was geschehen war, rief der Schulz die Bürger zusammen und organisierte eine Trauerfeier zu Ehren des Verstorbenen. In der Kirche hielt der Pastor Alois Fischer eine seiner ausschweifenden Reden, bei der so mancher Zuhörer demonstrativ seine Uhr aus der Hosentasche zog. Viele der Bäuerinnen waren in Gedanken bei den Arbeiten, die es an diesem Tag noch zu verrichten gab und fragten sich, wie sie das noch alles schaffen konnten.
Es dauerte noch eine Weile bis der Pfarrer mit seiner Trauerrede zum Ende kam. Als es dann soweit war und die Menschen aus der Kirche gingen, erfuhren sie, dass sich der Schulz noch etwas ganz besonderes ausgedacht hatte. Er ließ die Gemeinde zu dem Kanonenhügel wandern, auf dem der alte Köhler gegraben hatte. Das war man schließlich dem Wissenschaftler schuldig, fand Karl Eberle. Geduldig wartete der Schulz, bis auch die Langsamsten auf dem Hügelgrab eintrafen. Er stellte sich in die Mitte und schaute zum Himmel hinauf. Seine Mitbürger wussten nicht, was das zu bedeuten hatte und taten es ihm gleich. Über ihnen hingen dunkle Wolken, die sich jeden Moment entladen konnten. Karl Eberle senkte seinen Kopf wieder und blickte zu Lydia.
»So. Wir sind heute hier, weil Friedrich Köhler ...« Unter den Menschen setzte ein Gemurmel ein, da die ersten Regentropfen vom Himmel fielen.
Der Schulz erkannte, dass er rasch handeln musste, sonst würde er am Ende alleine mit der Witwe und dem Waisen auf dem Kanonenhügel stehen. »Liebe Mitbürger, ich mache es kurz: ich ernenne den Verstorbenen Friedrich Köhler zum Ehrenbürger von Sarata.«
Er winkte dem Schreiber zu, der mit einer Tafel, an einem Holzpflock befestigt, zu ihm kam. Die anfänglich vereinzelten Regentropfen mehrten sich.
»Ich wiederhole: zum Ehrenbürger Saratas. Deshalb bekommt unser Friedrich Köhler eine Gedenktafel hier an dieser Stelle.« Eberle zeigte vor sich auf den Boden. Das Gemurmel der Menschen wurde lauter, um die Geräusche des beginnenden Regens zu übertönen. Auch der Schulz wurde lauter: »Ich betone: Gedenktafel.« Der jetzt heftige Schauer über den Zuhörern, führte dazu, dass die Ersten den Heimweg antraten.
Der Schulz sah ein, dass es aussichtslos war, die Menschen im Regen stehen zu lassen. »Wir danken euch«, er nickte Lydia zu »ich wiederhole: wir danken euch allen, dass ihr gekommen seid und Friedrich Köhler die letzte Ehre erwiesen habt. So.« Kaum sprach der Schulz die letzten Worte, standen nur noch er, mit der Tafel in der Hand, sein Schreiber, der Sohn des Verstorbenen, die Witwe und die Kiste mit den Knochen auf dem Hügel. Der Schulz drückte dem Schreiber die Tafel in die Hand und verabschiedete sich.
»Aber Schulz, was ist jetzt damit?« Friedrich zeigte auf die Kiste. Man wollte die Kiste mit den Knochen bei der Gedenkfeier neben der Tafel vergraben.
Eberle überlegte kurz, dann meinte er: »Ich glaube dein Vater hätte gewollt, dass ihr sie behaltet.« Zu Lydia gewandt sagte er: »Es ist dein Erbe. Bewahre es als Andenken auf.«
Lydia wusste nichts darauf zu sagen.
»Aber Schulz, die Gedenktafel. Die müssen wir noch anbringen«, mischte sich der Schreiber ein.
»Du hast doch den Hammer mitgebracht. Ramm sie in den Boden und dann geh nach Hause. Ich muss aufs Gebietsamt.« Der Schulz lief los und ließ die anderen Drei stehen.
Nicht über den Regen, der sich auf ihre Häupter ergoss, fluchte Friedrich auf dem Heimweg, sondern darüber, dass er die Knochen umsonst auf den Hügel geschleppt hatte. Zu Hause angekommen, entschied sich Lydia dazu, die Kiste neben die andere Kiste mit den Briefen ihres verstorbenen Mannes unters Bett zu stellen.
Lydia war so erschöpft, dass sie 24 Stunden am Stück durchschlief. Als sie aufwachte, holte sie die Kiste mit den Briefen ihres verstorbenen Mannes unter dem Bett hervor. Tausende Seiten breitete sie vor sich aus. Sie legte sich ins Bett zurück und begann zu lesen. Sie versank in den Zeilen und verlor jedes Gefühl für die Zeit. Ab und zu klopfte Friedrich und brachte ihr einen Tee, einen Teller Suppe oder ein belegtes Brot. Je länger sie las, desto mehr störten sie die Unterbrechungen durch den Sohn. Sie gab ihm auf Fragen nur noch kurze oder gar keine Antworten und verbot ihm, ständig mit Essen oder anderen Ablenkungen vor ihrer Türe zu stehen.
Sie weinte, stöhnte, hin und wieder schrie sie und Friedrich sorgte sich. War es zu lange ruhig, schlich er sich zur Türe und öffnete sie lautlos einen Spalt. Lydia lag in ihren Kissen, war kurz eingeschlafen, ein Blatt Papier zwischen den Fingern. Er legte ihr ein Stück Kuchen, das Berta gebacken hatte, auf einen Teller und stellte es mit einer Tasse Tee auf den Nachttisch.
Die Stunden die dann folgten, waren für Friedrich die schlimmsten. Lydia stieß verzweifelte Schreie aus und begann im nächsten Moment hysterisch zu lachen. Friedrich hörte sich das eine Weile an, dann hielt er es nicht mehr aus. Entschlossen schritt er in die Kammer der Mutter und stellte sich vor sie. Entsetzt blickte er Lydia an. Durch die vergossenen Tränen hatten sich hervorstehende Falten unter ihren Augen gebildet. Ihre Haare hingen glanzlos, völlig durcheinander vom Kopf herunter. Da Lydia in den vergangenen Tagen kaum Nahrung zu sich genommen hatte, traten ihre Wangenknochen deutlicher hervor, ihr Gesicht sah ausgezehrt und ihr Körper entkräftet aus. Sie lachte ihren Sohn an. Friedrich packte sie an den Schultern und schüttelte sie. Sie lachte heftiger, er wurde ratloser und besorgter. Dann ließ er sie los, setzte sich zu ihr aufs Bett und weinte. Das war für Lydia der Auslöser, der sie in die Wirklichkeit zurückholte. Sie wollte nach Friedrichs Hand greifen. Doch bevor sie ihn anfassen konnte, stand er auf und lief weg. Lydia rief ihm nach, aber er hörte ihr nicht mehr zu. Friedrich rannte aus dem Haus, in dem Glauben, seine Mutter wäre irregeworden. Er wusste sich keinen anderen Rat, als zu seinem Kameraden Karl zu laufen.
Karl Rossmann wurde bereits als Halbwaise geboren, seine Mutter starb bei der Geburt. Der Vater gab den Jungen in die Obhut der Großmutter. Der Kleine war noch nicht einmal sieben Jahre alt, da zog sein Vater in den Russisch-Japanischen Krieg. Aus der Mandschurei kehrte er nicht wieder zurück. Im Kugelhagel von Mukden ließ er sein Leben. Karl wurde im Alter von sieben Jahren zum Vollwaisen.
Seine Großmutter, Amalie Müller, zog den Jungen auf. Sie versuchte den Enkel mit der Fürsorge und Liebe einer Mutter und der strengen Hand eines Vaters aufzuziehen, so wie auch sie selbst aufgewachsen war.
Amalie Müller praktizierte in ihrer Wohnstube als Heilerin der Zahnmedizin. Auch ohne Zahnschmerzen, bei allen Krankheiten suchten die Menschen ihre Beratung. Nicht wenige weigerten sich zu den Ärzten oder ins Krankenhaus zu gehen, weil sie der alten Müller mehr vertrauten. Andere kamen zu ihr, wenn die Weißkittel keinen Rat wussten. Bei Amalie gab es für alles ein Mittelchen. Sie war zwar nicht besonders beliebt, weil sie oft eine lockere und böse Zunge hatte. Als Heilpraktikerin aber war sie über Sarata hinaus anerkannt und geschätzt. Egal wegen welcher Leiden sie aufgesucht wurde, ihre Medizin hatte noch niemandem geschadet. Sie wurde von den Leuten nur die Blütenmüllerin genannt, da sie ihre Arznei fast nur aus Pflanzenblüten zubereitete.
Von klein auf sah ihr Karl dabei zu. Er lernte, dass gegen jedes Leiden ein Kraut gewachsen war.
Er wusste früh, dass Johanniskraut auch Wundkraut, Hexenkraut oder Blutkraut genannt wurde und Baldrian auch unter Stinkwurz und Katzenkraut oder Dreifuß bekannt war. Karl lernte, dass die Heilkräuter neben ätherischen Ölen auch Bitter- und Gerbstoffe, Spuren von Vitaminen, Mineralstoffen und anderen Substanzen enthielten. Amalie nahm den Jungen mit, wenn sie am Flussufer Pflanzen suchte und er lernte von ihr, wie man daraus Tee, Saft und Tropfen zubereitete. Auch die Wirkung der verschiedenen Heilkräuter kannte er von klein auf. So wusste er, dass bei manchen Pflanzen und Blüten eine lange regelmäßige Einnahme der Tropfen nötig war um nach Wochen eine Linderung der Leiden zu erlangen.
Bei Amalie duftete es stets nach einem besonderen Aroma. Durch Wasserdampfdestillation rochen ätherische Öle aus allen Winkeln ihres Hauses. Übertraten Ratsuchende die Schwelle zu ihrem Reich, fühlten sie sich gleich wohler.
Der kleine Karl Rossmann wurde in der Volksschule für zurückgeblieben gehalten. Er tat sich mit dem Lesen und Schreiben sehr schwer und um sich nicht zu blamieren, beteiligte er sich nicht am Unterricht und sprach fast nichts. Manchmal blieb er mit seiner Schultasche an einem Tisch hängen oder stolperte über Gegenstände, die ihm im Weg waren. Seine Großmutter war die Einzige, die den Grund dafür erkannte. Sie verordnete dem Schuljungen eine Kur mit Möhrensaft. Karl wurde von Tag zu Tag gelber im Gesicht, aber seinen Augen verschaffte es keine Linderung. Amalie versuchte es mit Kamillentröpfchen, die sie ihm täglich in die Augen tropfte. Damit erreichte sie, dass Karls Augen wie bei einem Albino aussahen und anschwollen. Sie versuchte es noch mit allerlei anderen Heilkräutern, doch ohne Erfolg. Nach einigen Wochen packte sie den Jungen und fuhr mit ihm nach Kischinew zu einem Spezialisten für Augenleiden. Der Arzt verordnete dem Buben eine Brille mit zwei Zentimeter starken Gläsern. Als der Junge, ausgestattet mit seiner dicken Hornbrille, wieder die Schule betrat, ging es mit seinen Leistungen steil aufwärts.
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