Kitabı oku: «Loslassen lernen»
Loslassen lernen
Martine Batchelor
Übersetzung Ursula Richard
Über die Autorin
MARTINE BATCHELOR lebte zehn Jahre lang als voll ordinierte Nonne in einem Zen-Kloster.
Sie ist Autorin mehrerer Bücher und international eine renommierte Meditationslehrerin.
Mit ihrem Mann leitet sie weltweit Retreats. Sie leben gemeinsam in Südfrankreich und sind Schirmherren der Buddha-Stiftung.
www.martinebatchelor.org
Der Verlag Mittlerer Weg und die Buddha-Stiftung
Der Verlag Mittlerer Weg ist ein Projekt der Buddha-Stiftung.
Die gemeinnützige und unabhängige Buddha-Stiftung möchte Menschen die zentralen und ursprünglichen Einsichten des Buddhismus und deren praktische Anwendung im Leben in einer verständlichen Form zugänglich machen.
Das Fundament bildet dabei ein säkulares Verständnis des Buddhismus, das ohne kulturhistorisch entstandene Dogmen oder Glaubensinhalte auskommt.
Die Buddha-Stiftung fördert
den Aufbau eines säkular buddhistischen Netzwerks
den Dialog zwischen Buddhismus, Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Religionen sowie den Dialog zwischen den verschiedenen buddhistischen Traditionen
Angebote buddhistischer Meditation als Alltagspraxis, insbesondere als Methode zur Entwicklung von Einsicht, Achtsamkeit, Offenheit und zur Bewältigung von Stress im Alltag.
Dazu veranstaltet die Buddhastiftung Symposien, Diskussionen, Retreats, Kurse Meditationsabende und veröffentlicht Inhalte in gedruckter Form und in digitalen Medien.
Die Stiftungsarbeit erfolgt auf ehrenamtlicher Basis.
Die Stiftung ist komplett unabhängig, finanziert sich nur aus Spenden und ist keiner Organisation weder finanziell, organisatorisch oder inhaltlich verpflichtet. Spenden sind steuerlich absetzbar.
Loslassen lernen
Mit buddhistischer Achtsamkeit Gewohnheiten transformieren
Martine Batchelor
Übersetzung Ursula Richard
www.buddhastiftung.org
1. Auflage, 2021
© 2021 Alle Rechte vorbehalten.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Let go« bei Wisdom Publications, Boston, USA.
Dieser Titel erschien zuletzt 2016 im Knaur-Verlag
Vollständige deutsche Neuausgabe 2021
Verlag Mittlerer Weg
© 2021 Martine Batchelor
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2021Verlag Mittlerer Weg
Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Jochen Weber, Saskia Graf
Umschlaggestaltung: Claudia Tröscher, München
Umschlagabbildung: nn
ISBN 9783754158494
Verlag Mittlerer Weg, Heidelberg
www.buddhastiftung.org
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Muster
Meditation
Greifen und Festhalten
Geistige Gewohnheiten
In Emotionen verloren
Körpersignale
Die Sucht besiegen
Liebe
Mitgefühl
Ethik
Ein kreativer Pfad
Nachwort
Danksagung
Bibliographie
Anmerkungen
Einleitung
Loslassen, was uns festhält. Mit Achtsamkeit aus alten Mustern ausbrechen ist ein Buch über die Umwandlung zwanghafter Gewohnheiten und darüber, wie Meditation diesen Prozess der Veränderung unterstützen kann. Ich bin seit mehr als zwanzig Jahren Meditationslehrerin und habe in Kursen und Retreats Hunderte von Menschen getroffen, und die meisten von ihnen fühlten sich zur buddhistischen Meditationspraxis hingezogen, weil sie sich in irgendeiner Weise blockiert vorkamen oder an irgendeiner Art von Schmerz litten. Sie hofften, die Meditation werde ihnen zu mehr Stabilität und Klarheit verhelfen und sie befähigen, besser mit ihren Schwierigkeiten umzugehen. Betroffen war ich besonders darüber, wie viele Menschen unter bleibenden Verhaltensmustern litten, die ihr gesamtes geistiges, körperliches und emotionales Leben dominierten und denen gegenüber sie sich vollkommen machtlos fühlten. Es inspirierte mich sehr, wie Menschen sich verändert haben, die ihre Gewohnheitsmuster durch die Anwendung verschiedener buddhistischer Meditationsformen besser verstehen und wandeln konnten.
Die in diesem Buch beschriebenen Meditationen entstammen unterschiedlichen buddhistischen Traditionen: Die Achtsamkeitspraxis beschreibe ich als Mittel, den Geist auszurichten, um klarer zu sehen, was in jedem Augenblick geschieht. Sie wird durch die Zenpraxis der meditativen Frage ergänzt. Diese lässt uns tiefer verstehen, was an der Wurzel sich ständig wiederholender Verhaltensweisen liegt und was dieses Verhalten jeweils auslöst. Jedes Kapitel schließt mit einer Übung oder einer geleiteten Meditation ab. Dies gibt Ihnen ein Werkzeug an die Hand, mit negativen Gewohnheiten in einer neuen und kreativen Weise zu arbeiten.
Zu Beginn dieses Buches geht es darum, wie sich Verhaltensmuster durch Lernen und Wiederholung herausbilden. So kann zum Beispiel Angst, ein emotionales Muster, das wir alle kennen, sowohl positive als auch negative Wirkungen hervorrufen. Diese reichen von einem gesunden Überlebensmechanismus bis hin zu blinden Reaktionen, welche die Wirklichkeit der Situation, in der wir uns befinden, verzerren. Das führt mich zu der Frage: Welche Muster müssen wir ändern und welche nicht? Und wenn sie verändert werden sollen, wie können wir das bewerkstelligen? Meditation ist für mich ein positives und konstruktives Muster, das die Kraft hat, unsere schmerzvollen Gewohnheiten zu transformieren. Ein Schlüsselelement buddhistischer Meditation ist Konzentration. Sie hilft, den Geist zu beruhigen und die Macht blinder Reaktionen zu mindern. Ein anderes wesentliches Element ist das Fragen und Erkunden. Es erklärt uns unsere unterschiedlichen Erfahrungen und löst damit die Starre auf, die so oft aus zwanghaftem Verhalten resultiert. Zusammen praktiziert, verschmelzen Konzentration und Erforschung zu einem nichtwertenden Gewahrsein, das uns ermöglicht, in veränderter Weise auf uns und die Welt zu schauen.
Betrachten wir unsere Erfahrungen mit einem solchen Gewahrsein, können wir vielleicht entdecken, dass Greifen all unseren negativen Gewohnheiten zugrunde liegt. Ich zeige die Gefahren »positiven« Greifens auf - wenn wir etwas sehr stark wollen und begehren - und »negativen« Greifens - wenn wir voller Hass und Ablehnung sind. Indem wir uns auf das reduzieren, was wir begehren oder ablehnen, begrenzen beide Formen des Greifens unsere Möglichkeiten, kreativ und frei auf eine Situation zu antworten. Meditation lässt uns erfahren, wie Greifen geschieht, wenn unsere Sinne angeregt sind. Indem wir auf meditative Weise zuhören, können wir lernen, selbst unangenehme Geräusche auf eine ruhige und weite Weise zu hören. Schon das bloße Hören kann der Ausgangspunkt für negatives Greifen (»ich kann den Lärm nicht ertragen«) oder für die Freiheit vom Greifen (»ich kann mit diesem Lärm kreativ umgehen«) sein.
Geistige Gewohnheiten haben die Tendenz zur Wiederholung, sie machen uns flach und zweidimensional. In diesem Buch beleuchte ich einige dieser Gewohnheiten wie das Tagträumen oder Urteilen näher. Ich erforsche auch die inneren Sprachen, in denen wir uns unsere Erfahrungen selbst erzählen, und wie sie unsere Erfahrungen beeinflussen. Gewahrsein hilft zu erkennen, welch großen Einfluss gewohnte Denkmuster auf Gefühle haben. Solche Gewohnheiten prägen die Persönlichkeit und sperren in starre Verhaltensweisen ein. Durch meditatives Fragen können wir eine neue Beziehung zu unseren Gedanken herstellen und so beginnen, unsere Denkweise und dann allmählich auch unser Verhalten zu verändern. Ich beschreibe, wie Dr. Jeffrey Schwartz Meditation benutzt, um im Umgang mit Zwangsstörungen, Obsessive-Compulsive Disorder (OCD), neue Wege aufzuzeigen. Des Weiteren führe ich aus, dass es bei unseren geistigen Gewohnheiten drei Ebenen zu geben scheint, die ich »heftig«, »gewohnheitsmäßig« und »leicht« nenne - und ich stelle drei unterschiedliche Meditationstechniken vor, um mit diesen unterschiedlichen Ebenen von Verhaltensmustern umzugehen.
Der Moment, in dem ein angenehmes oder ein schmerzliches Gefühl sich in eine störende Emotion wandelt, ist der Punkt, an dem meditatives Gewahrsein am wirkungsvollsten ist. So kann zum Beispiel ein einfaches Gefühl von Traurigkeit leicht in einen dunklen und schmerzvollen emotionalen Zustand übergehen, in dem wir uns in einem »Ich-Arme/r«-Syndrom verlieren und davon überzeugt sind, ungeliebt und allein in der Welt dazustehen. Ich gehe auf häufig erfahrene, emotionale Gewohnheiten ein, die mit Wut, Depression, Langeweile, Einsamkeit und Angst verbunden sind. Weiter stelle ich eine Meditationspraxis über Gefühlstönungen (Wohlgefühl, Schmerz, Gleichgültigkeit) vor. Sie ist ein machtvolles Instrument, unsere Gefühle unmittelbarer zu erfahren, sie so zu akzeptieren, wie sie sind, und mit ihnen in einer Weise umzugehen, dass sie nicht zu störenden Emotionen werden. Ich beschreibe die Arbeit von John Teasdale, Mark Williams und Zindel Segal, die die Methode der Achtsamkeitsbasierten Kognitiven Therapie, Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT), entwickelt haben, um Rückfällen bei Depressionen vorzubeugen.
Zusätzlich zu unseren geistigen und emotionalen Gewohnheiten, entstehen auch Gewohnheiten körperlicher Art. Oft sind sie das Ergebnis einer ungesunden Beziehung zu unserem Körper; wir ignorieren oder verdrängen vielleicht wichtige Signale unseres Körpers, weil wir es gewohnt sind, uns in Gedanken zu verlieren oder von Gefühlen beherrscht zu sein. Ich stelle eine Praxis der Körper-Achtsamkeit vor, die einen besseren Zugang zu unseren Empfindungen ermöglicht. Ich gehe zudem auf die Arbeit von Dr. Jon Kabat-Zinn ein. Dessen innovative Methode, Achtsamkeitsmeditation zur Stressbewältigung zu verwenden, hat sich als außerordentlich wirkungsvoll erwiesen.
Als Nächstes untersuche ich die Frage, was wir tun können, wenn unsere geistigen, emotionalen und körperlichen Gewohnheiten so starr und machtvoll geworden sind, dass sie zu einem Suchtverhalten geworden sind. Meditation hat sich hier als wertvoller Ansatz erwiesen, um von der Sucht loszukommen. Sie vermittelt die wesentlichen Elemente von Stabilität und Spiritualität. Ich zeige, wie Menschen erfolgreich Meditation mit dem Zwölf-Schritte-Programm verbunden haben (siehe Kapitel 7), und stelle das buddhistische Konzept der Zehn Vollkommenheiten als Leitlinie vor, die Menschen bei der Heilung von der Abhängigkeit unterstützen kann.
Ungute Gewohnheiten können auch unser Potenzial für liebevolle Beziehungen zu anderen Menschen hemmen. Solche zerstörerischen Gewohnheiten können selbst Gefühle für unseren Partner, unsere Kinder, Familie oder Freundinnen und Freunde untergraben. Meditation kann uns befähigen, diese Muster klarer zu sehen, und uns damit zu der Einsicht und dem Mut verhelfen, sie zu verändern. Sie kann uns auch zeigen, dass Annehmen und Vertrauen die Wurzel der Liebe sind. Diese Praxis lässt uns mehr Selbstvertrauen entwickeln.
Das macht uns unabhängiger von anderen und verringert die Angst, die möglicherweise daran hindert, gesunde und vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. Meditation führt nicht dazu, dass wir unnahbarer und abgeklärter werden, sondern sie spielt auch eine wichtige Rolle im Bereich von Intimität und Sexualität.
Denn unser aller Leben hat eine soziale Dimension. Wir sind allein und gleichzeitig unausweichlich mit anderen Menschen verbunden.
Von daher ist die Frage, wie wir andere Menschen behandeln, von äußerster Wichtigkeit. Ist unser Verhalten von tiefsitzenden egozentrischen Gewohnheiten getrieben? Wie können wir von einer vorwiegend ichbezogenen Beziehung zur Welt zu einer Sichtweise gelangen, die sich zunehmend auf andere ausrichtet? Indem wir uns auf unsere fundamentale Gleichheit besinnen, können wir eine emphatische Identifikation mit anderen spüren, die wir dann in mitfühlendes Handeln auf allen Ebenen transformieren können. Meditation und mitfühlende Ethik führen dazu, auf neue, unbekannte Situationen in kreativer, fürsorglicher Weise zu reagieren, statt blind aus unseren Gewohnheiten heraus zu handeln.
Schließlich untersuche ich, wie wir Meditation in unserem geschäftigen und hektischen Leben praktizieren können. Ich glaube daran, dass wir die negative Kraft unserer unguten Gewohnheiten aufzulösen vermögen, sie transformieren können und dabei unser Potenzial für ein weises, mitfühlendes, kreatives Leben hervorbringen können. Im Zen-Buddhismus werden die »zehn Ochsenbilder«, die Stadien des meditativen Weges, mit der Suche eines Hirten nach dem widerspenstigen Ochsen des Geistes und dessen Zähmung verglichen. Ich interpretiere diese Bilder aus der Perspektive des Verstehens und Zähmens unserer eigenen destruktiven Muster. Auch wenn diese Bilder aus dem alten China stammen, sind sie auch heute noch Wegweiser für eine radikal neue Weise, unser Leben in der heutigen Zeit zu leben.
Muster
Wiederholung und Anpassungsfähigkeit
Einmal habe ich in einem Stück Bernstein eine vier Millionen Jahre alte Ameise entdeckt. Sie sah genauso aus wie jede Ameise in meinem Garten heutzutage. Statt sich an veränderte Umweltbedingungen anpassen zu müssen, sind Ameisen in ihrer äußeren Erscheinung über Millionen Jahre hinweg weitgehend gleich geblieben. Ameisen sind sowohl extrem unverwüstlich als auch anpassungsfähig, und sie konnten von daher für so lange Zeit in fast der gleichen Form überleben.
Alles Lebendige hat sich durch Reproduktion entwickelt. Die Entstehung und die Wandlung des Lebens sind durch konstante Muster in Verbindung mit gelegentlichen Mutationen möglich geworden. Gäbe es keine stabilen, wiederkehrenden Muster und Strukturen, könnte kein Geschöpf in einer konsistenten Form bestehen. Doch gäbe es nur Wiederholung und keine Variationsmöglichkeiten, dann wäre der lebendige Organismus unfähig, sich an Veränderungen anzupassen. Wiederkehrende Muster und Strukturen sichern Stabilität, während zufällige Mutationen die Möglichkeit der Anpassung an neue Umstände ermöglichen.
Wiederholung und Anpassungsfähigkeit sind für das Bestehen und die Entwicklung des Lebens gleichermaßen essenziell.
Robert Wright vertritt in seinem Buch Nonzero: The Logic of Human Destiny die Ansicht, dass sich Kulturen durch die Verbreitung von Informationen und den Ausbau des Handels entwickelt haben. Diese Kooperation beruhte natürlich auch auf Eigennutz. Wright sagt weiter, dass autoritäre Regierungssysteme Wandel oft verhindern wollen. Die Unterdrückung von Wandel aber führt zu Stagnation oder rückläufiger Entwicklung, die letztendlich nur durch Zusammenbruch und Chaos aufgehoben werden können. Ähnlich ist es, wenn wir in starren Verhaltensmustern feststecken und jeglicher Veränderung widerstehen, dann werden auch wir stagnieren oder uns zurückentwickeln.
Doch wir haben die Wahl. Wollen wir Veränderung als Folge eines chaotischen Zusammenbruchs, oder wollen wir verantwortlich und kreativ mit dem Fluss und Wandel unseres eigenen Lebens verbunden sein?
Neurowissenschaftler sagen, dass kreative Problemlösungsstrategien mit der rechten Gehirnhälfte verknüpft sind, während Routinehandlungen mit der linken verknüpft sind. Sowohl Neues als auch Bekanntes sind für unser Lernen essenziell. Lernen beginnt da, wo wir Lösungen für unbekannte Situationen finden; dadurch entstehen Verhaltensmuster, mit denen wir, sobald wir ähnlichen Situationen wiederholt ausgesetzt sind, reagieren. Als Menschen bewegen wir uns ständig zwischen neuem und routiniertem Verhalten. Ein Kind wächst und entwickelt sich dadurch, dass es Verhaltensmuster ausbildet und lernt, wie man isst, läuft, liest oder schreibt. Muster prägen unser Leben. Einige, wie essen, sind für unser Überleben unabdingbar. Andere, wie Auto fahren, sind erlernte Aktivitäten, die unser Leben vereinfachen. Beides sind Fähigkeiten, die wir besitzen oder erworben haben. Doch sie können sich auch in eine jeweils positive oder negative Richtung entwickeln: Sie können bedachtsam essen oder voller Gier. Sie können ein verantwortlicher Autofahrer sein oder eine Gefahr für die anderen Verkehrsteilnehmer darstellen. Welche Verhaltensmuster wollen Sie pflegen? Ist Ihnen bewusst, wie Muster negative Wirkungen nach sich ziehen können? Und wollen Sie etwas dagegen tun?
Angst vor der Dunkelheit
Ich hatte immer schreckliche Angst im Dunkeln. Als ich als buddhistische Nonne in Korea lebte, waren die Lebensumstände sehr einfach, und die Toiletten befanden sich außerhalb des Gebäudes. Ich hatte große Angst davor, nachts rauszumüssen, weil ich die Vorstellung hatte, ein Mann mit einem Messer würde sich von hinten anschleichen und mich angreifen. Eines Winters beschlossen meine Mit-Nonnen und ich, fünf Nächte lang zu meditieren und nicht zu schlafen. Ich war sehr beunruhigt. Wie sollte ich es schaffen, nachts zur Toilette zu gehen? Ich ging also zu meinem Zen-Meister Kusan Sunim und bat ihn um Rat. Er sagte mir, dass ich immer dann, wenn die Angst hochkäme, zum Kern meiner Meditation zurückkehren sollte, und das ist im koreanischen Zen die Frage: »Was ist das?«
Ich dachte, die Frage des Zen-Meisters würde wie eine Art Talisman funktionieren und mich von daher vor jeder Gefahr beschützen. Es funktionierte gut. Meine Angst schwand, wenn ich hinaus zur Toilette ging, und ich überstand diese Nachtsitzungen. Einige Zeit später dämmerte es mir, dass es sich dabei überhaupt nicht um einen Zaubertrick gehandelt hatte. Mein Lehrer hatte mir die Aufmerksamkeit für den gegenwärtigen Augenblick als Geschenk gemacht. Sobald ich auf dem Weg zur Toilette zu meiner Frage »Was ist das?« zurückkehrte, fühlte ich keine Angst mehr, sondern spürte, wie meine Füße den Boden berührten, und realisierte, dass ich mich tief in den Bergen in einem großen koreanischen Kloster befand. Wer sollte überhaupt wissen, dass ich da war, geschweige denn mich mitten in der Nacht angreifen wollen?
Solche Gefühlsmuster haben uns oft im Griff, und wir verstärken sie dann durch vertraute Gedankenmuster. Es ist ganz natürlich, im Dunkeln Angst zu haben. Es ist ein guter Überlebensmechanismus und eine wertvolle Anpassungsstrategie. Weil wir im Dunkeln nicht gut sehen können, ist unser autonomes Nervensystem aktiviert, und wir sind bereit, beim leisesten Anzeichen von Gefahr zu fliehen. Auch heute noch ist dieser Mechanismus für eine Frau, die sich allein in einem ihr unbekannten Stadtteil bewegt, wichtig. Doch im ländlichen Korea war ich des Nachts viel sicherer als am Tage, wenn sich alle möglichen Menschen auf dem Klostergelände aufhielten. Einige Verhaltensmuster sind instinktive Reaktionen, die eigentlich nicht länger sinnvoll sind. Doch wenn Sie uns im Griff haben, erleben wir die Angst und den Stress, die sie auslösen.
Wer verändert sich?
Mein Neffe und meine Großmutter kamen nicht gut miteinander zurecht. Einmal mussten beide für vier Wochen allein im Haus meiner Mutter zubringen, und ich wurde gerufen, um als Friedensstifterin zu wirken. Als ich kam, war der Krieg bereits erklärt, und beide sprachen nicht mehr miteinander. Da meine Großmutter 85 war und mein Neffe 24, dachte ich, dass mein Neffe leichter einlenken könnte als meine Großmutter. Ich nahm ihn beiseite und fragte ihn, was ihn denn so an ihr aufrege. Er sagte, er habe Schwierigkeiten mit der Art und Weise, wie sie die Dinge tue, und selbst wenn sie über etwas sprächen, wären sie nie einer Meinung.
Ich fragte ihn, ob er glaube, es sei realistisch, von unserer Großmutter zu erwarten, sie würde sich ihm zuliebe ändern. Er dachte eine Weile darüber nach und stimmte dann zu, dass Großmutter zu alt und festgefahren sei, um sich zu ändern. Er akzeptierte, dass er nichts anderes tun könne, als sich an sie anzupassen und sich anders zu verhalten. Ein Waffenstillstand wurde erklärt und ein Frieden hergestellt, der für die Dauer von drei Wochen auch zu halten versprach. Und ich konnte leichten Herzens wieder abreisen. Ein paar Monate später hörte ich zufällig, wie mein Neffe meiner Mutter, die gerade Probleme mit der Großmutter hatte, erklärte, dass sie wirklich nicht von ihrer Mutter erwarten könne, ihr Verhalten zu ändern, und dass sie stattdessen selbst flexibler sein solle.
Wenn Menschen übereinstimmende Muster haben, dann neigen sie zu einem harmonischen Miteinander. Sind die Muster nicht kompatibel, kommt es leicht zu Spannung und Streit. Vor allem aus diesem Grund entwickeln sich soziale und kulturelle Strukturen. Im Allgemeinen mögen Menschen es nicht, wenn ihre Muster zerstört werden. Sie haben es lieber, wenn die Dinge in gewohnter Weise vor sich gehen. Damit fühlen sie sich wohl. Doch führt das auch zu der Art von Stagnation und Starre, gegen die jüngere Generationen rebellieren, um ihre eigene Identität zu finden. Trotzdem wird selbst ein rebellischer Teenager einige tradierte elterliche Verhaltensmuster übernehmen, während er auf der anderen Seite neue Gewohnheiten und neue Wege, mit Dingen umzugehen, entwickelt. Mit der Zeit existiert Altes und Neues nebeneinander und bereichert sich sogar. Stabilität und Wandel sind für das Wachstum und die Entwicklung eines Menschen und einer Gesellschaft gleichermaßen notwendig. Und so findet man beim Hinterfragen der eigenen Verhaltensmuster einige, die vollkommen zweckmäßig sind, und andere, die man radikal ändern sollte.
Ich beobachte oft die schmerzvollen Auswirkungen, die durch die negativen Muster eines Menschen verursacht werden, und wünsche ihm so sehr, dass er sieht, was er tut - und sich dann ändert. Der Schmerz, den Menschen sich selbst und anderen bereiten, ist so offenkundig, dass man sich wundert, warum sie dieselben Dinge immer wieder sagen oder tun. Eingefleischte Verhaltensmuster sind nicht so einfach zu überwinden, ungeachtet dessen, wie wohltuend es für den Betreffenden wäre, sein Verhalten zu ändern. Das erste Problem, dem wir uns stellen müssen, ist, dass es sehr schwierig sein kann, eigene Gewohnheiten klar zu erkennen. Einige mögen uns bewusst sein, während wir blind für andere sind, bis uns jemand darauf stößt.
Blind für Gewohnheiten
Als junge Nonne in Korea gehörte es zu meinen Aufgaben, mich um die westlichen Besucher zu kümmern, die gelegentlich unser Kloster aufsuchten, und ihre Fragen zum Buddhismus zu beantworten. Unglücklicherweise war es für mich immer schwierig, mich an die vielen Begrifflichkeiten und Lehrsätze zu erinnern, auf die der Buddhismus oft so stolz ist. Eines Nachmittags versuchte ich die Vier Edlen Wahrheiten zu erklären (und mich an sie zu erinnern!) - die Grundlage der buddhistischen Lehre. Ich war erleichtert, als mir wenigstens die ersten beiden einfielen: die Wahrheit des Leidens und, als dessen Ursprung, die des Begehrens. Doch ich konnte nicht die dritte nennen, obwohl sie mir auf der Zunge lag. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie ein Mönch einen Eimer voller Kaki-Früchte davontrug, die ich am Nachmittag gepflückt hatte. Ich sprang auf, lief zu ihm hin, riss ihm den Eimer aus der Hand und machte ihm unmissverständlich klar, wem die Kaki-Früchte gehörten. Als ich zu unseren Gästen zurückkehrte, fielen mir die letzten beiden edlen Wahrheiten ein: Es kann ein Ende des Begehrens geben, und es gilt den Edlen Achtfachen Pfad zu kultivieren.
Nachdem die Besucher gegangen waren, fragte mich eine Nonne, die in der Nähe gesessen und die ganze Situation beobachtet hatte, ob ich etwas Seltsames bemerkt hätte. »Seltsames?«, sagte ich.
»Ja, in deinem Verhalten«, erwiderte sie.
»In meinem Verhalten?«
»Ja, du wurdest so wütend, als du bemerkt hast, dass der Mönch deinen Eimer mit den Kaki-Früchten davongetragen hat, während du gerade dabei warst, die Vier Edlen Wahrheiten zu erklären. Das war seltsam.«
Erst als sie das so sagte, wurde mir bewusst, was ich getan hatte. Ich hatte gedankenlos und blind auf den »Dieb« »meiner« Kaki-Früchte reagiert.
Ein Verhaltensmuster kann uns so zur Gewohnheit werden, dass wir kaum noch bemerken, zu was es uns treibt. Man fühlt automatisch, denkt automatisch und handelt automatisch. Gefühle, Gedanken und körperliche Empfindungen sind so miteinander verwoben, dass nur schwer zu erkennen ist, welches das automatische Verhalten ausgelöst hat. In solchen Momenten wissen wir vielleicht nur, dass wir uns im Klammergriff eines Verhaltensmusters befinden, das für uns und andere schmerzvolle Folgen hat. Wir verstärken diese Muster oftmals durch unser sich wiederholendes Denken und Fühlen und kommen dadurch zu der Überzeugung, dass wir keine Wahl haben, als so zu sein, wie wir sind. Wie oft denken oder sagen wir, um uns für irgendetwas, das wir getan haben, zu rechtfertigen: »So bin ich einfach. Da kann ich nichts dran machen.« Doch sind wir wirklich so in unseren Gewohnheiten gefangen, wie wir glauben?
Wenn etwas Unerwartetes geschieht, was tun wir dann? Oft sind wir in dem uns vertrauten Drehbuch gefangen und identifizieren uns damit, aber das muss nicht so sein. Kleine Veränderungen können einen interessanten und entscheidenden Unterschied machen.
Vor kurzem verbrachte ich einige Stunden damit, ein Manuskript zu korrigieren, und dann löschte ich versehentlich alle Korrekturen, weil ich einen Befehl meines Computerprogramms falsch verstanden hatte. Das Wort »dumm« kam mir sofort in den Sinn. Doch obwohl ich etwas Dummes getan hatte, hieß das nicht, dass ich mich mit der inneren Stimme in meinem Kopf identifizieren musste, die mir sagte, welch dumme Person ich sei. Solche Dinge passieren aufgrund verschiedener Bedingungen und Ursachen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt Zusammentreffen. Doch es wäre falsch, sich mit auch nur einem dieser Umstände zu identifizieren. Es ist leicht und vielleicht auch verführerisch, sich zu sagen: »Ich bin wirklich dumm.« Doch sobald wir uns mit so etwas wie Dummheit identifizieren, fixieren wir uns auf eine enge und unvollständige Wahrnehmung unserer selbst.
Von Angst gepackt
»Da ist Angst in meinem Kopf« beschreibt eine Erfahrung. »Ich bin ängstlich« ist der Beginn einer Identifikation mit dieser Erfahrung. »Ich bin ein ängstlicher Mensch« verfestigt die Erfahrung. Zu anderen Zeitpunkten benutzen wir diese Sätze dann vielleicht, um eine ähnliche Erfahrung zu beschreiben. Doch jede erfasst eine für sich allein stehende Wahrnehmung, die wir von uns haben und die uns unterschiedlich empfinden lässt. Je öfter wir solche Sätze wiederholen, desto mehr verdrängen wir diese Wahrnehmung und dieses Gefühl.
»Wovor habe ich Angst?«, »Woher kommt die Angst?«, »Wer hat Angst?«. Solange wir uns diese Fragen stellen, erhalten wir uns die Möglichkeit, den Ursprung und die Bedingungen der Angst anzuschauen. Das wiederum lässt uns die Dinge anders wahrnehmen und die Identifikation und Erstarrung damit zu reduzieren. Es wird leichter möglich, mit uns selbst auszukommen, wenn wir weniger starre Ansichten darüber besitzen, wer wir sind. Denn sobald wir davon überzeugt sind, dass wir von Natur aus ein ängstlicher Mensch sind, stecken wir fest. Dann können uns die harmlosesten Dinge ängstigen. Es kommt uns dann so vor, als wäre Angst der natürliche Zustand.
Alle paar Jahre gehe ich nach Südafrika, um Meditation zu lehren. Durch die Bilder und Berichte in den Medien könnte man leicht meinen, dass dies ein sehr gefährliches Land sei. Und tatsächlich ist Südafrika das auch für einige Menschen an einigen Orten. Doch auf all meinen Reisen, die mich durch das ganze Land führten, war ich kein einziges Mal in Gefahr. Dennoch hatte ich in Südafrika große Angst. Warum?
Nach einer Weile erkannte ich, dass das, was mich in Angst versetzte, nicht die Gegenwart irgendeiner realen Gefahr war, sondern die Angst anderer Leute. Wann immer ich mit Südafrikanern zusammen war, die nervös und ängstlich waren, wurde auch ich nervös und ängstlich. Es war ein ansteckendes Gefühl. Doch war ich mit starken, optimistischen Leuten zusammen, die auch gegen die Apartheid gekämpft hatten, dann hatte ich überhaupt keine Angst. Seitdem strebe ich nach einer Furchtlosigkeit, die ich auch an andere weitergeben kann. Welch größeres Geschenk ist möglich, als sich und anderen geistigen Frieden zu geben?
Südafrika ist ein ausgezeichneter Ort, um zu lernen, mit Angst umzugehen. Solange ich keine auffälligen oder teuren Dinge trage oder mit mir herumschleppe und solange ich mich angemessen kleide, kann ich sicher sein, alles Nötige gemäß meinen Überlebensinstinkten getan zu haben. Dann kann ich das Leben genießen, wie es gerade kommt. Bei meinen Besuchen sozialer Projekte in den Townships oder meinen Treffen mit Menschen in ihren kleinen, rauchigen Hütten habe ich viel gelernt und erfahren. Ich treffe sie als Menschen, die ihr eigenes Leben führen, die leiden und sich freuen, so wie ich. Ich habe kein bedrohliches, eindimensionales Bild mehr von ihnen im Kopf. Sie sind einfach Menschen wie ich selbst, die versuchen, ein erfülltes Leben inmitten schwieriger Umstände zu führen.
Manchmal unterrichte ich auch Meditation in einem Männergefängnis in der Nähe von Kapstadt. Die meisten der Insassen, mit denen ich meditiere, sind Mörder oder haben andere Gewaltverbrechen verübt. Aber sie haben meditieren gelernt und praktizieren das sehr fleißig. Die Meditation hilft ihnen, ihre destruktiven Verhaltensmuster klarer zu erkennen und zu verstehen, warum sie da sind, wo sie jetzt sind. Viele von ihnen sehen die Zeit im Gefängnis als Gelegenheit zur persönlichen Veränderung. Sie sind vielleicht im Gefängnis eingesperrt, aber sie müssen nicht das Gefühl zu haben, auch geistig eingesperrt zu sein.