Kitabı oku: «Der gläserne Horizont»

Yazı tipi:

Mary Anne Fields

Der gläserne Horizont

Eine Liebe in Irland

Imprint

Der gläserne Horizont — Eine Liebe in Irland

Mary Anne Fields

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2013 Mary Anne Fields

ISBN 978-3-8442- 5701-4

Lektorat: Erik Kinting / www.buchlektorat.net

Titelgestaltung: Erik Kinting

Auch als Book on Demand erhältlich: ISBN 978-1484982501

Inhalt

Imprint

Inhalt

Kapitel 1: Tanners Bookshop

Kapitel 2: Der Kuss

Kapitel 3: Carrigfadda

Kapitel 4: Neujahr

Kapitel 5: Mill Cove

Kapitel 6: Elfenzauber

Kapitel 7: Sarue Rose Cottage

Kapitel 8: Orkan

Kapitel 9: Die zerbrochene Mauer

Kapitel 10: Silberne Ritter

Kapitel 11: Geburtstage

Kapitel 12: Sprigging School

Kapitel 13: Lights over Long Strand

Kapitel 14: Willkommen zurück

Kapitel 15: Das Farmhaus

Kapitel 16: Der Auftrag

Kapitel 17: Das Versprechen

Kapitel 18: Vorbereitungen

Kapitel 19: Sandy

Kapitel 20: Das Fest

Kapitel 21: Goldene Segel im Wind

Kapitel 22: Das Pub

Kapitel 23: Das weite Land

Kapitel 24: Eoin

Kapitel 25: Dunkle Schatten

Kapitel 26: Unter dem eisernen Meer

Kapitel 27: Ein Stück Himmel

Kapitel 28: Erin go bragh

Kapitel 29: Feiertag in Dublin

Kapitel 30: Zerbrochenes Glas

Kapitel 31: Ausflug nach Cork

Kapitel 32: Die Otter

Kapitel 33: Der Angriff

Kapitel 34: Pilgrims Nest

Prolog

Für Christopher und Christa

Kapitel 1: Tanners Bookshop

‘Dass alles so gekommen ist … ‘ Nora O’Brian sah nachdenklich aus dem Fenster und runzelte die Stirn. Es regnete schon seit Tagen in monotoner Regelmäßigkeit, die Wolken hingen grau über dem Land. ’Wie sehr kann man ein Wesen lieben … ob das Glück ist?’ Sie erinnerte sich an die verheerende Hochwassernacht von vor zwei Jahren …

„Es regnet noch immer.“ Mike O’Hanlan, ein dunkelhaariger, junger Mann in Uniform, sah aus dem Fenster der kleinen Buchhandlung an der Pearsestreet. Sein schwerer Regenmantel mit dem Funkgerät hing lässig über seinen Schultern.

„Denkst du, diesmal wird das Wasser bis hierher kommen?“ Joy klang ängstlich. Sie nahm sich sehr zierlich und zerbrechlich neben dem groß gewachsenen Offizier aus.

Seit einer Woche regnete es unentwegt. Eine graue Wolkenwand nach der anderen hatte sich vom Atlantik her über das Land geschoben. Die Felder und Weiden draußen vor der Stadt waren schon längst überschwemmt und all die kleinen Rinnsale hatten sich in reißende Bäche verwandelt. Erst gestern war unten bei Castlefreke eine der Flussbrücken eingestürzt und hatte einen Wagen mit sich gerissen. Zum Glück kam niemand ums Leben.

„Kann sein.“ Er sah angespannt aus. „Die Wiesen über der Stadt können kein Wasser mehr fassen, und wenn die Tide heute Nacht steigt und den Fluss zurückdrängt … aber das muss ja nicht sein.“ Er schwieg und spähte wieder hinaus auf die Hauptstraße. „Mach dir keine Sorgen, Joy.“ Seine graublauen Augen musterten sie einen Moment voller liebevoller Anteilnahme. Er spielte für eine Sekunde mit dem Gedanken, seinen Arm um sie zu legen. „Wir sind ja auch noch da.“ Seine Stimme klang sanft.

Joy lächelte ihn tapfer an. „Ja … ja das seid ihr“, flüsterte sie.

Aber Mike hörte ihr schon nicht mehr zu. Draußen fuhren schwere Lastwagen mit blinkenden Lichtern durch die Straße.

„Da kommen die Lkws mit den versprochenen Sandsäcken. Ich muss los.“ Ohne sich weiter um Joy zu kümmern, stürmte er davon.

Sie blieb allein zurück und sah sich in ihrem Laden um. ‘Ich bin hilflos … völlig hilflos … ‘

Sie hatte plötzlich Angst. Die Bücher! Hunderte von Büchern schimmerten in den Regalen, sahen fremd und unwirklich aus in dem matten Licht. Stets hatte Joy darauf geachtet, dass es gute Bücher waren, Bücher, die sie schätzte. Romane, Bildbände, Kindergeschichten. Alle waren sie da, sorgfältig sortiert nach Themen und Autoren. Die Kinderbücher in den unteren Regalen, damit die kleinen Leser auch das finden konnten, wonach sie suchten. Die Liebesromane für die romantischen Seelen rechts hinter der Eingangstür, die ein wenig Schutz vor neugierigen Augen bot. Do-it-yourself-Bücher und Sportgeschichten für die männliche Klientel. Tanners Bookshop — Joy liebte ihren Laden. Den dunkelgrünen Teppich mit dem orangefarbenen Blumenmuster, der dem Raum die Atmosphäre eines Wohnzimmers verlieh, die hohen Regale aus Nussbaumholz, die bis zur Decke reichten, über ihnen die kleinen Lampen aus goldglänzendem Messing, das große Schaufenster mit seinen schmalen Sprossen aus weiß lackiertem Holz, das sich über die ganze Seitenlänge des Ladens zog und jede Woche neu dekoriert wurde … An manchen Abenden hatte sie Dichterlesungen veranstaltet, die immer gut besucht waren. Es gab Tee, Kuchen und dazu Passagen aus den Büchern junger Autoren, die erst noch den Weg zu den Verlagen finden mussten. Mia war regelmäßig mit einer ihrer Kindergruppen zur Märchenstunde in die Buchhandlung gekommen, Mrs. O’Brian kam einmal die Woche mit ihrer Hobbyautorinnengruppe.

‘Wenn jetzt das Wasser kommt … ‘ Joy fühlte Tränen in sich aufsteigen.

Draußen wurden laute Kommandos gerufen und es herrschte hektisches Treiben. Soldaten begannen, die Ladenzeile entlang der Hauptstraße mit Sandsäcken abzusichern. Einen Moment dachte sie an Mike, der irgendwo da draußen mit seiner Einheit gegen die Fluten kämpfte.

Langsam wurde es dunkel. Den ganzen Tag über war es noch nicht richtig hell gewesen. Der Regen strömte ohne Unterlass. Plötzlich begann irgendwo eine Sirene zu heulen und wie auf ein Zeichen begann der Sturm wie eine wilde Furie über die nasse Stadt herzufallen. Schwere Böen, die weit draußen aus dem tobenden Meer aufgestiegen waren, rissen an den Ladenschildern, fegten die Hanging Baskets zu Boden und trieben die Regentropfen in ungestümem Chaos vor sich her.

Noch mehr Regen. Es war, als ob zwischen den Tropfen keine Luft mehr war, nur noch Wasser, Wasser. Wieder heulte eine Sirene und Joy wusste, dass die Tide begann, den Fluss zurück in die Stadt zu drängen. Jetzt war alles verloren. Und dann, ohne Vorwarnung, begann die Straße seltsam zu schimmern, schien sich zu bewegen. Das Wasser war da. Joy stieß einen Schrei aus.

Voller Panik begann sie die Bücher aus den unteren Regalen zu nehmen und auf dem Ausstellungstisch in der Mitte des Ladens zu stapeln. Die Bücher!

Von draußen war ein seltsames, unheimlich anschwellendes Rauschen zu hören, das in der ganzen Stadt widerhallte. Joy hob lauschend den Kopf. Das Wasser strömte unaufhörlich, drängte sich mit unbändiger Kraft in die schmale Hauptstraße. Der Sturm peitschte gegen ihr Auslagenfenster, bis das Glas zu klirren begann.

Da! Joys Augen weiteten sich entsetzt. Die Sandsäcke hielten dem Druck nicht mehr stand und das Wasser sickerte durch den Spalt unter der Eingangstür in die Buchhandlung. Langsam färbte sich das frische Grün des Teppichs schwarz. Sie fühlte, wie ihre Schuhe feucht wurden. Hilflos sah sie zu, wie das Wasser immer höher stieg. Tränen liefen über ihr Gesicht.

Wie aus einer Betäubung erwachend hörte sie, dass jemand laut an ihre Hintertür klopfte. Die Schläge gegen das Holz wurden zunehmend heftiger.

„Joy!“, rief eine tiefe Stimme, „Joy, mach auf!“

Sie watete durch den Laden und stieg die Treppen hinauf zum Lager. Dann öffnete sie die Tür. Draußen war es pechschwarz. Nur undeutlich konnte sie ein paar Gestalten in Regenmänteln erkennen. Ein bekanntes Gesicht erschien im Lichtkegel des Eingangs.

„Mike!“ sie weinte laut „Oh Mike, meine Bücher!“

„Deshalb bin ich hier.“ Er schob sie sanft zu Seite „Und nicht allein. Mach dir keine Sorgen mehr.“

Und da waren sie: die O’Brians; Mia mit ihrem Mann Frank und ein paar ihrer Stammkunden.

„Wir machen das schon Joy.“ Es war, als ob sein Blick sie für einen Moment umarmte. „Los, bildet eine Kette und dann her mit den Büchern, hier herauf. Die aus den unteren Regalen zuerst!“

Mikes Kommandos hallten durch den Laden. In Windeseile verteilten sich die Helfer und die Bücher wanderten von Hand zu Hand ins sichere Lager.

Mrs. O’Brian sah Joy aufmunternd an. „Wir lassen dich doch nicht hängen, Mädchen … “

Wie gut das tat. Am liebsten wäre Joy durch den Laden getanzt: ‘Hilfe ist da, es ist wie ein Wunder.’

Jeder gab sein Bestes, bückte sich, hob auf, stapelte, gab weiter … Nach einer Stunde waren die Bücher im sicheren Lager verstaut. Alles gerettet, nur die Sonderausgabe von Alice im Wunderland schwamm auf dem Wasser.

Draußen fauchte der Wind in der engen Straße, die Sirenen heulten durch die Nacht und der Regen strömte unaufhörlich weiter. Der Geruch nach Salzwasser und Seetang lag in der Luft. Sie standen jetzt alle knietief im Wasser. Die Helfer waren erschöpft, aber glücklich. Nicht auszudenken, wie viele Bücher die Nässe zerstört hätte!

„Wo ist Mike?“ Joy sah sich suchend um, konnte ihn aber nirgends entdecken.

„Er ist längst wieder bei seinen Leuten. Der hat noch eine lange Nacht vor sich.“ Mrs. O’Brian musterte Joy lächelnd. War das Mädchen enttäuscht? Mike hatte die Rettungsaktion möglich gemacht, würde dafür aber mit seinem kommandierenden Offizier Probleme bekommen. ‘Manchmal sind junge Leute schwer von Begriff’, dachte sie.

Dann brach es aus Joy heraus, die ganze Anspannung fiel von ihr ab: „Oh danke, danke, danke“ Sie konnte kaum sprechen „Was hätte ich nur ohne euch gemacht?“

„Lass gut sein, Mädchen. Wir überlassen dem verdammten Wasser doch nicht unseren Laden! Und jetzt kommt.“ Mrs. O’Brians Stimme klang resolut, dann stieg sie seelenruhig die Treppe zu Joys Wohnung über dem Laden hinauf.

Die anderen folgten ihr lebhaft plaudernd, zufrieden, wie nach einer gewonnenen Schlacht.

„Die Tide fällt in drei Stunden, bis dahin können wir hier nicht weg. Jemand Tee?“

„Und Whiskey!“, ließ sich Frank vernehmen.

Es wurde tatsächlich noch eine lange Nacht.

Kapitel 2: Der Kuss

„Er kommt nicht.“

Joy runzelte die Stirn und sortierte die letzten Bücher in die Regale ein. Sie begann an ihrem altmodischen Schreibtisch mit der Kassenabrechnung. Dieses Weihnachten hatte sie gut verdient. Es war die Jahre nie schlecht gelaufen mit ihrer kleinen Buchhandlung, aber dieses Mal übertraf das Ergebnis ihre Erwartungen. Eine rechte Freude wollte in ihr aber nicht aufkommen.

„Er kommt nicht. Offiziere ohne Familie haben es zu Weihnachten schwer, Urlaub zu bekommen. Das war schon immer so.“ Mrs. O’Brian war am Vormittag im Laden vorbeigekommen, um sie für den Weihnachtsabend einzuladen: „Du kommst zu uns Mädchen. Wer feiert das Fest denn allein?“ Viele Überredungskünste waren nicht nötig und schon war Mrs. O’Brian mit ihren Taschen und Einkaufstüten hinaus in die Straße verschwunden.

Joy machte sich wieder an die Abrechnung. Dass Mike am Abend nicht kam, enttäuschte sie. Oft hatten sie sich in letzter Zeit nicht gesehen. Irgendwie schien er immer in Eile zu sein, wie auf der Flucht. Aber wovor? Sie seufzte. Für seine Hilfe beim Hochwasser im Juni hatte er kurz seinen Posten verlassen, und dafür ein wildes Donnerwetter bei seinem kommandierenden Offizier erlebt. Jetzt war zwar alles überstanden, aber seiner Karriere hatte die Aktion sicher geschadet. Ob es daran lag? Sie bündelte die Rechnungen sorgfältig und legte sie in die Ladenkasse.

’Schluss für heute!’ Sie würde in ihrer kleinen Wohnung über dem Laden noch eine Tasse Tee trinken und dann mit dem Wagen zu Mrs. O’Brian fahren. Vielleicht konnte sie noch ein wenig behilflich sein.

Ein fröhliches Gesicht erschien plötzlich am Ladenfenster.

„Trish! Was machst du denn hier?“

Trish ein elfjähriges Mädchen mit wildem blondem Wuschelkopf, war die Enkelin von Mrs. O’Brian. „Grandma sagt, ich soll Sie abholen!“ Ihr Anorak reichte fast bis zum Kinn. Die Ohrenschützer ihrer Wollmütze verloren sich im Haarschopf. „Sie meinte, ein Spaziergang über die Wiesen würde ihnen gut tun.“ Das Mädchen strahlte sie an. „Und da hat sie mich ganz allein geschickt. Sie sagt, ich kann das!“

Joy musste lachen „Ja, ich denke du bist jetzt schon erwachsen genug dafür. Aber sind das nicht zwei Meilen?“

„Ja, so was, glaube ich. Nicht weit.“

Von ’weit‚ hatte Joy eine andere Vorstellung, aber sie machte gute Mine, holte ihren warmen Mantel, Mütze, Schal und schloss den Laden ab.

„Los geht’s.“

Die beiden folgten der schmalen Hauptstraße durch den Ort. Alle Läden hatten sich festlich herausgeputzt. Überall hingen Lichterketten und bunte Sterne in den Auslagen. Die Hanging Baskets des Sommers hatte man mit Efeu und Ilex gefüllt. Die Straßenlaternen waren schon hell. Ein Geruch nach Torffeuer lag in der Luft. Joy blieb einen Moment verträumt stehen. Sie liebte den kleinen Ort.

„Nicht trödeln, sonst wird es dunkel, bis wir bei Grandma sind“. Trish hatte recht.

„Ja wir sollten uns ein wenig beeilen.“

Schnell hatten sie die letzten Häuser hinter sich gelassen und kamen hinaus auf die freie Landstraße. Die Luft war frostig. Nahm einem fast den Atem. Joy zog ihren Schal über Mund und Nase.

„Frierst du?“ Trish warf ihr einen neugierigen Blick zu „Mir macht das nichts aus. Du musst öfter mal aus deinem Laden raus, dann wird dir nicht so schnell kalt. Grandma sagt das auch.“

Man redete über sie? „Ach, Trish … du weißt doch: Ich bin ein Bücherwurm und verdiene damit mein Geld.“

„Hm … trotzdem.“

Sie bogen in einen Feldweg ein. Der Boden war hart gefroren und das Eis knisterte leise unter ihren Schritten. Bäume und Hecken, die im Sommer mit ihrem überreichen Laub geglänzt hatten, ragten kahl und dunkel gegen den Himmel. Ein kalter Wind erhob sich.

„Da hinten. Siehst du das Licht? Da müssen wir hin.“ Beide schritten jetzt tüchtig aus. Die Bewegung tat Joy gut. Mrs. O’Brian hatte recht gehabt: So ein Spaziergang über die Winterfelder war herrlich.

Trish plauderte munter weiter über die Schule, ihre Katze, die im Herbst gleich zehn Junge bekommen hatte, über ihren Onkel, der jetzt in Neuseeland lebte, über ihre zwei Brüder, die immer Ärger machten, über Grandma und ihre Eltern, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Sie konnte sich kaum an sie erinnern, war erst drei Jahre alt gewesen, als es passierte. Und da war dann Onkel Mike.

Joys Herz begann unruhig zu pochen. Sie sah Trish sorglos vor sich herlaufen.

„Weiß du, er kommt dieses Jahr nicht zu Weihnachten, sagen sie. Kann nicht … wegen seiner Arbeit oder so. Das ist schade. Ich mag ihn. Er kümmert sich um uns. Wir sind seine Familie, sagt Grandma. Hat die richtige Frau noch nicht gefunden, aber wer will schon einen Soldaten, der nie zu Hause ist. Da würde die Frau aber sehr einsam sein.“

Joy fühlte einen seltsamen Stich.

Trish war stehen geblieben und sah Joy fragend an. „Du würdest das auch nicht wollen. Wer schon?!“ Dann sprang sie wieder davon.

„Und da ist das Tor zu unserem Garten. Wir sind da!“ Stolz klang aus ihrer Stimme. Es war geschafft.

Das Haus war hell erleuchtet und ein großer Weihnachtskranz aus Efeu, Ilex und glitzernden Kugeln hieß die Besucher willkommen.

Trish stieß die Tür auf. „Wir sind da-haaaaaa … “

Ein Duft nach Zimt und Äpfeln, der sich mit dem Geruch von gebratenem Truthahn mischte, empfing sie. Die kleine Eingangshalle war weihnachtlich geschmückt mit Misteln und Ilex. Dazwischen hingen die Basteleien der Kinder und bunte Glaskugeln. Es war herrlich warm nach dem langen Fußmarsch.

… und wenn einer wusste, wie man Weihnachten richtig feiert unter allen Lebenden, dann war es Mr. Scrooge … Die Zeile aus der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens kam ihr in den Sinn.

Mrs. O’Brian kam ihnen lächelnd entgegen. Sie trug eine blaue Schürze und hatte offensichtlich gerade mit Mehl hantiert. Die Hände waren bis zum Ellenbogen weiß. „Wie schön, dass sie da sind, Joy. Hat meine Kleine das nicht ganz hervorragend gemacht?!“

Trish strahlte.

„Ja sie ist fast schon erwachsen.“ Ein Schatten flog kurz über Mrs. O’Brians Gesicht. Nur eine Sekunde, dann war er wieder verschwunden. „So — also herein mit euch. Geht ins Wohnzimmer, da ist es am wärmsten. Holz ist im Korb. Bei mir dauert es noch ein Weilchen.“ Und sie verschwand in Richtung Küche.

Inzwischen waren zwei strohblonde Jungen erschienen. Sie mussten jünger sein als ihre Schwester. Beide musterten Joy neugierig. „Bist du die Frau mit den Büchern?“

Ja, das war sie. Ob die Jungs sehr viel Ähnlichkeit mit ihrer Mutter hatten?

„Und ich hab sie hergebracht. Ganz allein. Den ganzen weiten Weg vom Ort herauf.“ Trish sah sehr erwachsen aus.

Ihre Brüder grinsten. „Na, schwer ist das ja nicht. Das kann doch jedes Baby.“

Trish wurde wütend. „Ihr … Zombies!! … “

In diesem Moment kam Doc O’Brian ins Zimmer. „Na, ihr kleinen Streithähne.“ Er sah amüsiert auf die Kinderschar, „Das sind Cieran und Connor. Und sie müssen Joy sein? Freut mich sehr.“ Er streckte ihr die Hand entgegen.

Doc O’Brian war ein untersetzter Mann mit dunklen Haaren und freundlichem Gesicht. Lachfalten hatten sich im Laufe der Zeit um seine Augen gebildet. Joy mochte ihn auf Anhieb.

„Ich bin der hiesige Landarzt, wenn ich nicht gerade einen Streit zwischen unseren Wilden schlichte.“

Trish drehte sich hoheitsvoll um und lief davon in die Küche.

„Ja, es geht oft ziemlich laut her bei uns.“ Sie sah ihm an, dass er das genoss. Er zwinkerte den Jungs zu. Irgendwie schien ein geheimer Pakt zwischen ihnen zu bestehen. Die Jungen grinsten wieder und folgten ihrer Schwester in die Küche.

Mittlerweile war es draußen ganz dunkel geworden. Die Nacht kam früh in den Dezembertagen. Joy setzte sich an den offenen Kamin und Doc O’Brian versorgte sie mit heißem Tee. Draußen klopfte es wieder und wieder an die Haustür. Noch mehr Gäste kamen und ließen sich im Wohnzimmer nieder. Manche kannte Joy vom Sehen her, machen waren Kunden in ihrem Geschäft, manche hatten ihr in der schrecklichen Juninacht geholfen, die Bücher vor dem Wasser zu retten.

‘Ob er nicht doch noch kommt? … vielleicht? … ’ sie wünschte es sich mehr, als sie es sich eingestand.

Es dauerte aber nicht lange und sie fühlte sich heimisch unter all den fröhlich plaudernden Menschen. Die Kinder wechselten aufgeregt vom Wohnzimmer in die Küche und wieder zurück.

Endlich kam die Nachricht: „Der Truthahn ist fertig!“, und Trish kommandierte: „Alle ins Esszimmer!“ Ein munteres Gedränge entstand, bis alle an ihren Plätzen saßen.

Mrs. O’Brian erschien mit hochroten Wangen. Die blaue Schürze und das Mehl von den Händen waren verschwunden: „Ihr Lieben! Ihr wisst, ich bin kein Freund großer Worte … Ich freue mich, dass ihr da seid, und der Truthahn hält hoffentlich, was er versprochen hat. Greift tüchtig zu und lasst es euch schmecken!“

„Aber zuerst einen Toast, einen Toast auf die Köchin!“, rief Doc O’Brian. Die Gläser wurden erhoben und alle stießen an.

„Auf die Köchin!“

Mrs. O’Brian war gerührt. Dann begann das Festmahl. ‘Kann ein Märchen Wirklichkeit werden? … Alles ist genauso wie in der Weihnachtsgeschichte.’ Joy musste wieder an Charles Dickens denken. Der Truthahn, der Rosenkohl, die Kartoffeln, die Pasteten, der Nachtisch aus geflammtem Eis, die kandierten Früchte und Schokoladencookies …

Am Ende, als alle schon satt waren, kam als Krönung der Plumpudding — mit Brandy übergossen und mit Ilex verziert. Ein lautes „Ohhhh!“ war zu hören, als Doc O’Brian den Brandy entzündete. Und dann wurde der Pudding doch angeschnitten und war im Nu völlig verschwunden.

Nur zufriedene Gesichter. Sogar die Kinder waren versöhnt und gaben Ruhe. Munter plätscherten die Gespräche über den Tisch.

„Es ist wirklich schade, dass Mike nicht da ist.“ Zustimmendes Murmeln war zu hören.

Ja, sie hätte ihn gerne dabeigehabt, vermisste ihn. Joy wurde plötzlich bewusst, wie sehr. Er fehlte ihr.

Nach dem Essen gingen alle wieder zurück ins Wohnzimmer und gesellten sich um den Kamin. Die Kinder wurden müde und Mrs. O’Brian brachte sie zu Bett.

„Was für ein aufregender Tag. Da schlafen die bestimmt gut und das tägliche Scharmützel entfällt.“

Joy lachte und pflichtete Doc O’Brian bei.

Das Gemurmel der Stimmen, die Wärme und die Behaglichkeit am Kamin machten sie schläfrig. Sie kuschelte sich in ihren Lehnstuhl und überließ sich der Müdigkeit. Das Geplauder wurde leiser und leiser, verstummte ganz.

Plötzlich hörte sie, wie jemand mit lauter Fröhlichkeit begrüßt wurde. Sie fuhr auf. Und da stand er vor ihr und beugte sich zu ihr hinunter. Sie spürte seinen Kuss auf ihren Lippen. Ganz leicht, fast unmerklich.

„Fröhliche Weihnachten, Joy!“

Er war da.

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