Kitabı oku: «Ungebremst durch Kermanschah», sayfa 2
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Ein bisschen Regen und ich fahre meine gesamten Routen vollbesetzt hin und zurück. Mir reicht es schon. Ich habe vier durchnässte Fahrgäste, mit denen ein Kältehauch ins Wageninnere gezogen ist. Zwei Männer und ein kleiner Junge sitzen hinten, eine alte Frau vorn. Sie hält eine Tüte Orangen in der Hand. Ich fahre die Scheiben auf ihrer Seite hoch und muss daran denken, dass das Schicksal mich immer wieder mit alten Frauen zusammenführt. Meine Fahrgäste sind zu fünfzig Prozent ältere Frauen. Wohin ich auch steuere, überall tauchen alte Frauen mit hennagefärbten Haaren auf. Zwischen Taxis und Privatwagen bahne ich mir den Weg zum Fahrtziel. Einer der Männer hört nicht auf zu quasseln, in breitestem Kermanschaher Dialekt.
“Tanzen im Wasser? Bei Imam Ali, diese Ausländer kommen auf Sachen, da staunst du Bauklötze. Sieben, acht junge Frauen haben im Wasser so getanzt wie unsere Frauen es nicht mal auf dem Erdboden fertigbringen…“
Der Mann neben ihm hingegen schweigt. Nur seine Augen sind aktiv. Sobald ich den Kopf hebe, richten sie sich auf mich, wie die eines Raubvogels.
“Und vor einigen Abenden haben sie gezeigt, wie eine Frau mit einem Krokodil gekämpft hat. Das sind Frauen, unsere Frauen dagegen...“
Ich werfe einen Blick auf den schlammigen See, der durch den Regen in der Senke der Silu-
Kreuzung entstanden ist. Mein Rücken sticht wieder. Mahbube sagt, das kommt vom Sitzen hinter dem Steuer und vom Schlafen im Bett statt auf dem Boden. Ich gebe Gas und sehe aus den Augenwinkeln, dass die alte Frau mich ein um das andere Mal anguckt, die Henkel ihrer Plastiktüte von den Fingern löst und dann wieder herumwickelt. Wo mag sie der Schuh drücken?
Ich frage: “Mutter, ist dir kalt, soll ich die Heizung aufdrehen?“
Sie schlägt den Tschador zurück.
“Nein, Kindchen, Gott sei Dank ist es warm.“
Sie trägt ein bräunlich verfärbtes Stirnband. Plötzlich platzt sie heraus: “Einmal bin ich wo eingestiegen. Als wir in Rashidi ankamen, hab‘ ich gesagt: ‚Ich hab’ kein Fahrgeld.‘ Er hat geantwortet: ‚Dann hast du eben keins.‘ ’Was machst du nun mit mir?’ Da hat er gesagt ‚Bleib sitzen, ich zeig’ dir, was ich mache.‘ Und dann hat er mich dahin zurückgebracht, wo ich eingestiegen war.“
In der Taxikabine ist es einen Moment lang still. Während mein Blick über die nassen Buchsbäume des Platzes und den aufgeweichten Rasen gleitet, höre ich den Schweigsamen sagen: “Überall gibt es Menschen ohne Ehre im Leib, Großmütterchen.“
Als ob sie nur mit mir spräche, setzt sich die Alte schräg hin und starrt mich an.
“Meine Tochter, ich hab’ auch jetzt kein Fahrgeld. Falls du mich von Rashidi wieder zurückbringen willst, spar’ dir die Mühe, ich steige gleich hier aus.“
Der Schweigsame kichert.
“Ist sie etwa dein Laufbursche, Großmutter?“
Der Geschwätzige lacht. Der Junge, der bis dahin aus dem Fenster geguckt hat, dreht sich um und lacht ebenfalls. Ein langgezogenes Hupen, von dem nicht klar ist, welchem Fahrer es gelten soll, zerrt mir an den Nerven. Die Alte sagt: “Alles, was ich zusammenkratzen konnte, habe ich für das Fahrgeld von Dizelabad bis hier ausgegeben.“
Der Mann grinst wieder.
“War es schön in Dizelabad, Großmutter?“
“Von wegen. Geht man etwa zum Gefängnis, wenn man etwas Schönes sucht?“
“Sicher ist dein Sohn dort?“
“Nein, Kindchen, meine schutzlose Tochter ist jetzt seit sechs Monaten dort, ohne Gerichtsurteil.“
“Geht es um die Familienehre?“
“Ja, um die Ehre, Kindchen... um die Ehre…“ Sie starrt auf die Scheibe.
“Gott hat meine Tochter als geborene Elektrikerin geschaffen. Dermaßen interessiert sie sich dafür. Das einzige, was sie nicht reparieren konnte, waren Mobiltelefone. Also hat sie eine Weile bei jemandem als Lehrling gelernt, bis sie auch darin Meisterin war. Seit letztem Jahr hat sie in einem Mobiltelefon-Serviceladen, unten in der Emad-Passage gearbeitet. Sie hat gut verdient. Unser Leben wurde allmählich besser…“
Sie seufzt und steckt die Orangentüte unter ihren Tschador.
“Der Besitzer wusste, dass meine Tochter niemanden hat außer mir und hat sich schon die Lippen geleckt, der Lump. Als er sie angrapschen wollte, hat meine Tochter die Ladentür eingeschlagen und mit einem Glassplitter seine Schulter aufgeritzt.“
Der Geschwätzige schüttelt den Kopf.
„Emad-Passage? Dass dort alle Sorten Männer herumlungern, weiß doch jeder. Wenn deine Tochter Verstand gehabt hätte, hätte sie gewusst, dass es besser ist, ohne Geld zuhause zu sitzen, als sich einem Haufen Männer in die Arme zu werfen…“
Ein Minibus voller Soldaten überholt uns und bespritzt meinen Wagen über und über mit Wasser und Schlamm. Wir sind in Rashidi. Der Schweigsame sagt: “Vielen Dank, hier steigen wir aus.“
Ich halte am Straßenrand. Sie steigen aus. Der Geschwätzige und der Junge entfernen sich. Der Schweigsame streckt seine Hand mit einem Fünftausender am Gesicht der Alten vorbei in meine Richtung. Als ich das Geld nehme, spüre ich darunter die Glätte eines Papiers. Ich werfe das Geld auf das Armaturenbrett, zerreiße vor seinen Augen die Visitenkarte und werfe sie aus dem Fenster. Er wird abwechselnd rot und blass und geht, sobald ich ihm das Wechselgeld gegeben habe. Die Alte hat anscheinend nur darauf gewartet, dass die anderen gehen, und zeigt mir ihre Orangentüte: “Die hatte ich ihr mitgebracht. Aber drinnen durfte ich sie ihr nicht geben.“
Sie holt eine Orange heraus und legt sie auf das Armaturenbrett.
“Nimm du sie, Kindchen…“
Sie steigt aus und ich weiß nicht, ob ich sie anschauen soll oder die Schlange der fliegenden Verkäufer, die Plastiktüten auf dem Kopf tragen und vor Kälte zittern. Hier herrscht reger Betrieb. Ins Stocken geratener Betrieb. Von Uhrenbatterien über Rasierklingen, Schneidemesser, Schälmesser, und Nylonstrümpfe wird alles feilgeboten. Die Waren sind mit Plastiktüten abgedeckt. Doch niemand außer der alten Frau wirft einen Blick darauf.
Es regnet auf die kahlen Bäume, den Straßenbelag und die Wagenfenster. Das schabende Geräusch der Scheibenwischer macht schläfrig. Die Orange auf dem Armaturenbrett rollt von einer Seite auf die andere. Mein Blick gleitet wie an den vergangenen Tagen von den schneebedeckten Bergen am Horizont zu den Fußgängern und ich mustere hie und da die Männer, die auf dem Nachhauseweg sind. Nach Fahrgästen sucht man doch nicht auf dem Bürgersteig. Was soll das also? Was ficht mich an, an diesen verdammten Mittagen, an denen ich in der Luft hänge und in meinem inneren Ohr das Klappern der Löffel und Gabeln von den Tafeln glücklicher Familien widerhallt? Oder eine Männerstimme, die mich beim Vornamen ruft: “Shohre, komm Mittag essen…“ Ich bin also süchtig danach, mit einem Mann zusammen zu essen? Oder nach den Händen dieses Mannes, die nach dem Essen ins Wasser und den Schaum des Spülbeckens sinken und zusammen mit einem Paar Frauenhänden das Geschirr abwaschen? Ich krame in meinem Gedächtnis nach einem solchen Bild von Hamed. Es gibt keins. Und wenn es eins gab, dann nicht für mich. Er hatte seiner Cousine geholfen, bei ihr zuhause die Haken der Übergardinen in die Ringe zu hängen und ich hatte gesehen, wie sich ihre Hände immer wieder berührten. Er hatte für unsere unverheiratete Nachbarin Computerprogramme installiert, und sie hatte ihn danach zu einem Glas hausgemachte Limonade eingeladen. Wir beide dagegen hatten nie unsere Hände zusammengelegt, um Geschirr abzuwaschen. Woher hatte ich also das Bild von eingeschäumten Händen? Aus den Serien des Satellitenfernsehens bei mir zuhause, die Mahbube sich ansieht, um die Zeit totzuschlagen. Arme Mahbube, was fängt sie nur an, ganz allein, mit diesem Bilderhaufen?
Einige Meter vor mir hebt ein Mann im Anzug, etwa Mitte Dreißig, die Hand. Im Nu bin ich hellwach. Er ist hochgewachsen. Seine Brust- und Nackenmuskeln zeichnen sich ab. Und das am Ende eines Vormittags. Ich trete auf die Bremse. Nur großzügige Fahrgäste heben die Hand. Diejenigen, die ihr Fahrtziel rufen, machen manchmal einen
Aufstand wegen hundert Ein-Toman-Scheinen. Dann musst du entweder auf dein Recht verzichten oder du musst das Taxometer einschalten. Der Mann klappt seinen Regenschirm zusammen und steigt hinten ein. Der Duft seines Rasierwassers und die Kälte von draußen verbreiten sich im Wageninneren.
“Einzelfahrt zum Zweiundzwanzigsten Bahman.“
Zwischen dem Viertel Zweiundzwanzigster Bahman und Shahnaz, wo ich wohne, liegt eine ganze Erdumdrehung. Dort sind die Wohnstraßen breit, baumbestanden und es gibt viele Parkplätze. Hier dagegen sind die sie eng und voller aufgeplatzter Müllsäcke und langlebiger Katzen. Ich lebe im fünften Stock eines Wohnblocks, der mitten zwischen vierzig Jahre alten Häusern steht. Fünfzig-, Siebzig-Quadratmeter-Wohnungen und... Man weiß nicht, wie viele Häuser sie zusammengeflickt haben, um unseren Wohnblock zu bauen. Ich drehe das Radio auf. „... Vielleicht möchte jemand, der die Abgeschiedenheit freiwillig gewählt hat, gar nicht aus ihren Fesseln befreit werden. So definiert sich die Freiheit immer in Bezug auf etwas oder eine Situation...“ Der Mann ist über die Zeitschriften in seiner Hand gebeugt. Auf seinen Füßen liegt eine, eine Sportzeitschrift, soviel ich sehen kann. Mit einer Hand blättert er, mit der anderen kratzt er seinen Professorenbart. Ich mag Professorenbärte. Sie verleihen ihrem Träger Würde und einen Anstrich von Bildung. Hamed pflegte zu sagen: Ein Professorenbart steht Dicken mit Doppelkinn.
Einmal kam ich zu seinem Laden. Sorgsam ausrasierter Bart, glänzendes Haar und große, braune Augen mit langen Wimpern, die Schatten auf seine Wangen warfen, so stand er inmitten von Frauen. Jede wollte etwas. Jede hatte eine Frage. Eine sagte: “Herr Hamed, ich habe meinem Friseur das Haselnussbraun gegeben. Er hat gesagt, dass mir die Farbe nicht steht, ich soll sie nicht nehmen!“
Hamed verpackte eine Eau de Cologne-Schachtel und antwortete „Nimm sie nur, falls sie dir nicht steht, geht das auf mich…“
Eine andere fragte: “Herr Hamed, haben sie etwas gegen Schuppen?“
Hamed schloss den Deckel des Rouges auf der Vitrine.
“Da habe ich etwas. Das ist super. Im Regal hinter Ihnen…“ Wieder eine andere erkundigte sich: „Habt ihr nur diese Nagellack-Farben?“
„Aber nein. Geh mal in die Hocke. Im untersten Fach sind alle Farben, die es gibt.“
Rechts neben mir bückte sich eine Frau und nahm die Schachtel mit den Schminkstiften aus dem Regal.
Ich sagte: “Entschuldigen Sie, mein Herr. Ich möchte eine Feuchtigkeitscreme für die Hände.“
„Im Regal... Ach, was machst du denn hier?“
Ich fühlte, dass ich ihn mit meinen schwarzen Händen, dem zerknitterten Mantel und den unordentlichen Haaren, die unter dem Schlupfkopftuch hervorlugten, in Verlegenheit brachte. Weil das Lächeln von seinen Lippen wich. Die Frau, die die Schachteln herauszog, drehte sich um und sah mich an, und ich erkannte sie an ihren Kontaktlinsen. Ich wiederholte: „Ich möchte eine Creme.“
Hamed erwiderte: “Ich hab’ zu tun. In der Vitrine. Nimm sie dir selbst.“
Er hätte sagen können: “Geh nach Hause, ich bringe sie dir heute Abend mit“ oder “Warum hast du heute morgen nichts gesagt?“ oder... Außer dem ersten Satz, der ihm entschlüpft war, zeigte er keinerlei Anzeichen von Bekanntschaft. Ich fühlte, dass seine Hände leicht zitterten. Ich fühlte die glänzenden dunkelblauen Linsen auf mir ruhen. Ich fühlte...
Ich drehe das Radio auf. „Die Freiheitsliebe hat ihre Wurzeln in den Veränderungen, die das europäische Denken in den letzten Jahrhunderten durchgemacht hat. In der Enzyklopädie...“
Am Naft-Platz, neben dem Zeitungskiosk ruft eine Frau mit einem Mädchen an der Hand unter dem prasselnden Rege „Garage?“
Ich fahre an ihnen vorbei. Der Mann sagt: “Halten Sie ruhig. Bringen Sie zuerst die Dame ans Ziel.“
Nichts lieber als das. Ich trete auf die Bremse. Die Frau zieht das Mädchen an der Hand und öffnet die Hintertür. Der Mann rückt nicht wie andere Fahrgäste zur Seite, um nur ja nicht nass zu werden, sondern nimmt das Mädchen bei der Hand und hilft ihr, schneller einzusteigen. Ich sehe sie durch den Rückspiegel an. Als ob sie einem aufgewühlten Fluss entstiegen wären. Ich drehe die Heizung auf. Als wir weiterfahren, holt der Mann aus seiner Tasche in Goldpapier gewickelte Schokolade und gibt sie dem Kind.
“Chocolate wärmt. Iss, Kleine.“
Das Mädchen grapscht nach der Schokolade. Seine Mutter sagt: “Danke, Bruder.“
Man hört das Schokoladenpapier rascheln. Im Gesicht des Mannes spiegelt sich Zufriedenheit und in dem des Mädchen Hochgenuss vom Biss in die Schokolade. An der Ershad-Kreuzung sehe ich mich um. Keine Spur von Fariba, wo mag sie jetzt sein? Was macht sie wohl?
Am Azadi-Platz steigt die Frau aus. Ich nehme die Orange vom Armaturenbrett und halte sie dem Mädchen hin. Sie fällt mir aus der Hand unter den Rücksitz. Der Mann bückt sich und findet sie.
“Hier, Honey. Hau rein und genieß ein bisschen Vitamin C.“ Bevor ich einerseits das „Honey“ und andererseits das „Hau rein“ verdaut habe, lacht das Mädchen schon und zeigt dem Mann ihre Zahnlücke. Der Mann lächelt zurück. Unwillkürlich muss auch ich lächeln. Nicht in Richtung des Mädchens, sondern des Mannes, der in meiner Phantasie zum smarten Supermann wird, der mich im Spiegel anlacht. Und ich weiß nicht, warum ich in genau diesem Moment fühle, dass ich mich vor gut aussehenden Männern fürchte. Vielleicht, weil auch Hamed gut aussah und sehr auf sich hielt, und weil ich allmählich herausfand, wie schnell ihn Gleichförmigkeit langweilte. Eines Morgens hatte ich das Gefühl, ich wäre soeben aus einem tausendjährigen Schlaf erwacht, an einem fremden Ort. Der Duft von Hameds Nivea-After-Shave war neu für mich. Die Möbel kamen mir bedrückend fremd vor. Auch die frohe Farbe von Hameds T-Shirt und seine cremefarbene Slash-Hose waren mir fremd. Ich fühlte, dass ich weder ihn kannte, noch diese Wohnung. Ich starrte ihn an. Ich dachte, er müsse fragen, warum ich ihn so ansähe. Aber das tat er nicht, sondern verabschiedete sich und ging, ohne auf meine Antwort zu warten. Während er auf dem Weg zum Laden war, starrte ich einige Minuten im bedrückenden Schweigen der Wohnung auf einen Punkt und fragte mich, warum Hamed mir Abend für Abend um Punkt zehn Uhr eigenhändig meine Antibabypille brachte und sie mich schlucken ließ? Warum bedurfte es zum Einschalten seines Handys tausender Kniffe und PIN-Codes wie bei den Schließfächern der Zentralbank? Warum sah er ständig auf die Uhr, wenn er zuhause war, wann es Schlafenszeit war oder Zeit, in den Laden zu gehen? Warum wurde ich nicht Taxifahrerin, sondern vergeudete mein Talent mit dem Kochen zementartiger Ghorme Sabzi oder dem Scheuern von Flecken auf dem Gasherd?
Wir umrunden den Platz. Im Wagen mischt sich eine angenehme Wärme mit dem Rasierwasserduft des Mannes. Ich trete aufs Gas, um ihn so schnell wie möglich ans Ziel zu bringen. Ich lasse die Abzweigung des Zweiundzwanzigsten Bahman hinter mir. Fahre durch eine Pfütze. Wasser spritzt auf die Scheiben. Der Mann hebt den Kopf.
“Halten Sie vor dem Internet-Café.“
Ich zeige ihm die Uhr auf dem Armaturenbrett.
“Bruder, es ist zwei Uhr nachmittags. Jetzt ist nirgendwo geöffnet.“
“O.K. Dann fahren Sie langsam. Und schnallen Sie sich an.“
Und wieder vertieft er sich in seine Zeitschriften. In meinem Hirn haben sich zwei Drähte kurzgeschlossen. Wenn der Typ wüsste, was der Befehlston eines Mannes bei mir verursacht, hätte er sich sicher auf die Zunge gebissen und mich mit dem positiven Bild von ihm weiterfahren lassen. Vereinzelt hatte ich zwar schon ängstliche Fahrgäste, die wollten, dass ich langsam fahre. Aber als Verkehrspolizist hat sich bis jetzt noch keiner aufgespielt.
Ich schalte das Radio aus und richte mich im Sitz auf. Ich habe ihn im Rückspiegel. Ich warte, dass er aufblickt, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich vielleicht nur eine an den Absender zurückgesendete Frau und Taxifahrerin sein mag und die Hand vor diesem und jenem aufhalte, aber - mit den Worten meiner Mutter: “Jeder ist Meister seines eigenen Faches.“
Doch er hebt kein einziges Mal den Kopf, bis wir am Ziel sind, und unsere Blicke treffen sich nicht. Vor einer Gasse mit einem geschlossenen Supermarkt an der Ecke sagt er: “Danke.“
Ich ziehe die Handbremse, um anzuhalten. Wenn er Bescheid weiß, ist ihm klar, was das bedeutet. Eine Geste der Einschüchterung. Ungerührt steigt er mit einem Armvoll Zeitschriften aus. Bei diesem Auftreten war nicht mehr von ihm zu erwarten.
“Wie viel macht das?“
Mein Blick fällt auf die Scheine in seiner Hand. Er hat sie schon vorbereitet. Innerhalb einer tausendstel Sekunde schätze ich die Anzahl ab. Schließlich schreibe ich auf einen imaginären Strafzettel: „Wegen Einmischung in die Angelegenheiten eines verdienstvollen Fahrers fünf Toman Strafgebühr.“
“Zehn Toman.“
Ich warte darauf, dass er protestiert. Er tut es nicht. Durch die Scheibe reicht er mir mit zwei Fingern einen Zehn-Toman-Schein. Seine Finger sind weiß und behaart. Wie Hameds Finger. Ich muss daran denken, heute Abend meine Hände in Whitex zu legen. Ich nehme den Schein. Als er sich zum Gehen wendet, deutet er auf den Gurt.
“Sie haben den Gurt vergessen.“
Er schlendert davon. Ich steige halb aus und klatsche mit der flachen Hand auf das nasse Wagendach.
“Hey Bruder…“
Er dreht sich um. Grüne Augen unter dichten Augenbrauen verleihen ihm das Aussehen eines Wolfes.
“Bist du etwa dafür angestellt, dass du hier herumkommandierst?“
“Verehrte Dame, muss man dafür angestellt sein, um auf etwas aufmerksam zu machen?“
“Es ist nicht nötig, dass du auf was auch immer aufmerksam machst.“
„O.K….O.K. Sorry. Es war falsch, dass ich mir Sorgen um eine Mitbürgerin gemacht habe.“
Er schüttelt verächtlich den Kopf und geht. Als ob ich gleich wie eine Schreckschraube aussähe, nur weil ich nicht super-weiblich bin, wie Frauen eigentlich sein müssen. In den letzten Jahren schüttelte auch Hamed auf diese Art den Kopf. Wenn er zuhause war, fühlte ich mich wie eine Küchenschabe, die klammheimlich aus der Kloschüssel gekrochen ist und das Haus und Leben eines Mannes besudelt hat, der und dessen Familie „Klasse“ höher schätzen als Brot im Kasten. Einmal hörte er bei Tisch zu essen auf und sah mich an. Er fragte:
“Ist jemand hinter dir her?“
Ich antwortete: “Nein. Wieso?“
“Warum nimmst du dann so große Bissen?“
Das Essen blieb mir im Halse stecken. Ich hatte das Gefühl, dass ich gleich an meinem Bissen ersticken würde. Ich schlug mit dem Löffel auf den Tisch: “Du tust so, als ob wir uns erst seit heute kennen würden. Ich weiß genau, wo dich der Schuh drückt. Meine großen Bissen sind es nicht. Das sind nur Vorwände…“
Den nächsten Bissen nahm ich noch größer, und er fing kopfschüttelnd wieder an zu essen.
Der Regen rinnt mir wie Tränen über das Gesicht. Und über zwei Haarsträhnen, die aus meinem Schlupfkopftuch herausgucken. Ich sehe dem Mann nach. Er entfernt sich, und ich versäume die Gelegenheit, ihm seine Verachtung heimzuzahlen. Er geht fort, und ich bleibe stehen und werde nass. Ich hebe das Gesicht zum Himmel. Dicke Regentropfen fallen mir auf Wangen, Lippen und Wimpern. Wie lange ist es her, dass ich im Regen gelaufen bin? Wie viele Jahre? Wie viele Jahrhunderte? Das letzte Mal war vielleicht mit Babak, als wir im Regen nach Taqe Bostan liefen. Er fühlte sich erwachsen. Dabei war er noch nicht einmal fünfzehn, aber schon groß für sein Alter. Mit einem Benehmen wie ein dreißigjähriger Mann. Er sagte: “Zieh einen Tschador über, ich will dich ausführen.“
Ich erwiderte: “Ich komme mit, aber in Hosen und Hemdbluse. Wenn du mich so mitnimmst, gut, wenn nicht, mach was du willst…“
Er meinte: “Mädchen, dort treiben sich Proleten herum, willst du, dass Blut fließt?“ Ich musterte ihn von oben bis unten und fing an zu lachen. Er wurde verlegen. Und sagte dann: “Zieh ein Kopftuch an, damit ich dich ausführe…“
Der Mann verschwindet in der Gasse. Ich kehre zum Wagen zurück, setze mich und lausche dem Prasseln des Regens auf das Dach und dem Quietschen der Scheibenwischer. Ich werfe einen Blick auf die Gurthalterung. Wollte er den Macho spielen oder war er wirklich um mich besorgt? Wie kann es sein, dass Menschen, die einander nicht kennen, umeinander besorgt sind? Wie kommt es, dass alle meine Bemühungen, Hamed zu vergessen, immer wieder scheitern und sogar das Kopfschütteln eines Fahrgastes mich an ihn erinnert? Vielleicht verleihen ihm gerade diese Bemühungen, mich nicht an ihn zu erinnern, solche Macht? Dass er ständig durch meine Gedanken geistert, um mich daran zu erinnern, dass er mich wie eine Kakerlake, die aus dem Abtritt kriecht, zertreten hat. Vielleicht hat er sich für das Missverständnis am Tag der Brautwerbung gerächt. Damals hatte ich allen Bemühungen meiner Mutter zum Trotz keinen Tschador angezogen, sondern den Tee in Hemdbluse und Hose serviert. Mein Vater musterte mich beim Eintreten von Kopf bis Fuß, ob etwa, wenn auch nur der kleinste Millimeter, nackte Haut sichtbar wäre. Als er sah, dass alles vollständig bedeckt war, fuhr er fort, seine Banane zu schälen. Hamed lächelte. Seine Mutter sagte: “Wie entzückend, komm, setz dich neben mich, Fräulein Braut…“ Und sein Vater meinte: “Was für ein großartiges Mädchen…“ Am nächsten Morgen um sieben, als ich zum Volleyball-Training wollte, sah ich, dass der Sheykh-Hadi-Platz, die Moschee und die Bäume unseres Viertels schneebedeckt waren. Ich wartete auf ein Taxi, als Babak in einem grünen Fiat vor mir hielt. Er kurbelte die Scheibe herunter und sagte: “Steig ein.“
Ich fragte ihn: “Was soll das?“
Er antwortete: “Das wirst du gleich erfahren. Steig ein.“
Ich dachte: “Wenn ich nicht einsteige, ziehe ich den Kürzeren.“ Bisher hatte ich ihm gegenüber nie den Kürzeren gezogen. Ich stieg also ein.
Babak fuhr von der schneebedeckten Straße auf die Stadtautobahn Richtung Sarab, wobei ihm ständig die Reifen durchdrehten. Dort bog er in eine Seitenstraße ein und stellte vor einem schneebedeckten Garten den Motor ab. Aufgeschreckt flogen Krähen von den Zweigen der kahlen Bäume. Eine kam näher und blieb wenige Meter entfernt sitzen. Babak sagte: “Genau hier kann ich den Lebensunterhalt für dich verdienen, Shohre.“
Die Krähe pickte in den Schnee. Ich spottete: “Tu das. Du bist ja Meister im Lebensunterhalt-Verdienen.“ Er erwiderte: “Gut, wenn du weißt, dass ich kein Erbarmen kenne, wenn mir jemand in die Quere kommt.“
Ich höhnte: “Schade, Babak. Sonst müsstest du mich jetzt nicht anflehen.“
Babak gab zurück: “Bei Gott, ich flehe niemanden an. Was mir gehört, gehört mir.“
Ich fragte: “Wo hast du deinen Benzinkanister gelassen? Das ist doch deine Art, die Dinge anzugehen.“
Er entgegnete: “Verzapf keinen Blödsinn. Wer ist dieser Esel, der es gewagt hat, um deine Hand anzuhalten?“
Ich sagte: “Der Bruder von Mahtab. Meiner Klassenkameradin.“
Er fragte: „Wer hat erlaubt, dass sie den Fuss in euer Haus setzen?“
“Papa.“
Er darauf: “Keiner hätte dich zwingen können, wenn du nicht gewollt hättest.“
Er hatte recht. Im Gegensatz zu Mutter, die sich fast umbrachte, damit ich Babaks Frau wurde, stand Vater auf meiner Seite. Als ich sagte, ich würde Babak nicht heiraten, starrte er auf seine Zigarettenspitze und meinte: “Es ist dein Leben. Du musst darüber entscheiden…“
Die Krähe flog auf, drehte eine Kurve und setzte sich auf die Motorhaube. Sie richtete ihre roten Augen auf mich.
Ich provozierte: “Wer sagt denn, dass ich nicht wollte?“ Babak mahnte: „Spiel keine Spielchen mit mir, Shohre. Heute noch rufst du an und sagst, dass du ihn nicht heiratest.“
Ich gab zurück: “Zufällig denke ich aber, dass er ein guter Junge ist.“
Hamed wirkte gut. Das heißt, als ich seine Sorgfalt in der Auswahl der Blumensträuße, die frohen Farben seines Anzuges sowie sein Rasierwasser bemerkte und seine Familie sah, sagte ich mir, sein einziger Vorzug außer dem guten Aussehen sei, dass er Babak nicht ähnele.
Babak drohte: “Wenn ich diesen Laffen nicht kurz und klein schlage, bin ich nicht der Sohn meines Vaters…“
Ich schalte und biege ab in Richtung nach Hause. Wäre der Onkel nicht gewesen, hätte Babak sicher Wort gehalten und Hamed umgebracht. Das tat er zwar nicht, aber er beauftragte einige Handlanger damit, Hamed grün und blau zu prügeln, Hamed, der ein Pflaster aufklebte, wenn er auch nur einen Pickel hatte. Er begriff nie, warum er in den ersten Monaten seines Lebens mit mir ständig von Gesocks und Gesindel überfallen wurde...
Es ist weit bis nach Hause. Von einem Ende der Stadt zum anderen zu fahren ist ermüdend. Zeit, die verbotene CD aus der Mittelkonsole zu holen. Zeit des Ausflippens. Zeit, in eine andere Stimmung zu kommen. Mutter sagt: “Hör auf mit dieser Tändelei. Wann willst du endlich Vernunft und Anstand annehmen?“
Die Scheibe dreht sich um hundertachtzig Grad. Die ohrenbetäubende Stimme eines Luren dröhnt durch den Wagen.
“Unbeständig ist deine Liebe... Die Geschichte mit dir ein unvollendetes Buch…“
Nur die Musik steigert sich in meinen Ohren. Der Text hat nach so vielen Malen seinen Reiz verloren. Die Zellen meines Körpers verbinden sich mit der Musik. Meine Liebes- und Verliebtheits-Stimmung verfliegt wie Benzingeruch. Meine Hirn-Heizung kühlt sich ab. An der Einmündung zu unserer Gasse drehe ich die Stereolautsprecher aus. Ich halte vor der Brücke und steige aus, um die Parkhaustür zu öffnen. Es ist kalt in der Gasse. Unsere Flur-Nachbarin, Frau Makki, kommt mit ihrem Pride angefahren. Sie grüßt mit einem Kopfnicken. Sie wirkt müde. Eine gebildete Frau. Sie hat einen Mann und zwei Söhne. Sie stellt den Wagen seitlich ab und wartet. Als ich wieder einsteige, sehe ich eine schwarze Umhängetasche auf dem Wagenboden. Ich hebe sie auf und fahre Elizabeth ins Parkhaus.
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