Kitabı oku: «Zucchero»
Aus dem Italienischen von
Claudia Pfurtscheller
Impressum
Der Autor: Massimo Cotto
Deutsche Erstausgabe 2011
Titel der Originalausgabe:
„Incontri con il diavolo e l`aqua santa“ © 2007 by Massimo Cotto
ISBN: 978-8874242986
Coverfoto: © Morena Brengola/Kontributor by Getty Images
Coverdesign: bürosüd°, München
Layout und Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com
Übersetzung: Claudia Pfurtscheller
Lektorat und Korrektorat: Aulo Verlagsservice
© 2011 by Edition KOCH
Edition KOCH, ein Imprint der KOCH International GmbH,
A-6604 Höfen
ISBN 978-3-7081-0514-7
Auch als Paperback erhältlich: ISBN 978-3-7081-0513-0
Hinweis für den Leser:
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Vorwort
Zuccheros Reich
Kapitel 1
Truthähne und Rock ’n’ Roll
Kapitel 2
Das Leben ist die Kunst der Begegnung
Kapitel 3
Gesetzesbrecher, Polizisten und Stricher
Kapitel 4
Erinnerungen
Kapitel 5
In einer Träne und der Sonne entgegen
Kapitel 6
Ich brauche Liebe, Herrgott nochmal
Kapitel 7
Kettenkarussell
Kapitel 8
Das Lied des Soul
Kapitel 9
Nur eine gesunde und bewusste Lüsternheit
Zuccheros Karriere
Biografie Massimo Cotto
Danksagung
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Alte Hure, Fressmaschine, überdimensioniertes Etwas, Hurenbock – wie kann man das nur sagen?
Mülleimer, widerliche, ekelerregende Absteige.
Auf YouTube gibt es ein Video, das von einem örtlichen Fernsehsender gemacht wurde und auf dem ein bärtiger Zucchero – äußerlich ruhig und friedfertig, aber innerlich ein Vulkan – wie eine Furie auf eine Dame einschimpft, die, anstatt seinem Konzert zu lauschen, damit beschäftigt ist, zu essen und auf ihrem Handy herumzutippen. Wir befinden uns im edelsten, aber unauthentischsten Teil Sardiniens. Hotel Cala di Volpe, 850 geladene Gäste, die mehr als 1 000 Euro pro Person für Abendessen und Konzert bezahlt haben. Sugar ist rückfällig geworden, denn er kehrt fünf Jahre nach dem ersten Mal erneut an den Ort des Verbrechens zurück, wo er damals schon seine Darbietung mit Beleidigungen und Grimassen in Richtung der nicht mehr ganz jugendlichen Zuhörerschaft gewürzt hatte. Er kehrt nach einer »halben« Ewigkeit zurück, tut, als ob nichts gewesen wäre – und macht schließlich dort weiter, wo er einst aufgehört hat: »Cala di Volpe, möge Gott euch segnen und vergeben.« Und dann, gleich darauf: »Ich bin nur wegen des Geldes hier, denn ihr geht mir auf die Nerven.« Musik, Lieder, Blues, bewusste Lüsternheiten. Aber auch Unaufmerksamkeit. Wie kann das angehen bei Leuten, die mehr als zwei Millionen gute alte Lire ausgegeben haben?
Er, der wenig beachtete Zucchero, geht in die Luft: »Ich sehe jene Dame, die fortlaufend simst. Die mich nicht einmal ansieht, die unbeeindruckt mit ihrem Getippe fortfährt. Bis ich es an einem gewissen Punkt leid war und es ihr gesagt habe. Bitte, lass dieses Handy in Ruhe. Es war ein snobistisches Verhalten, wie soll ich es anders ausdrücken? Und sie hat mir als einzige Antwort den Stinkefinger gezeigt. Fuck you. An diesem Punkt bin auch ich wütend geworden und habe gesagt, was mir einfiel. Wenn Beppe Grillo es gesagt hätte, hätten wahrscheinlich alle gelacht. Stattdessen ist ihr Begleiter aufgesprungen und hat mit einer Zitrone oder mit einer Flasche geworfen, in der Aufregung erinnere ich mich nicht mehr genau an die Reihenfolge der geworfenen Gegenstände, und ich habe es ebenso gemacht.« Mit einer Bierflasche. Einer leeren, so scheint es.
Ab jenem Moment bricht ein kleines Inferno los. Sugar beruhigt sich nicht und lässt Sätze los, die in ihrer Substanz zensurbedürftig, aber in ihrer Form, offen gesagt, unwiderstehlich sind: »Ihr reichen Frauen mittleren Alters, die ihr stinkt wie Heringe …«, »Ohrfeigt euch gegenseitig, wenn ihr nicht wisst, wie ihr euch vergnügen sollt …«, »Leckt mich am A …, ihr hässlichen Dummköpfe …«, »Geht mir nicht auf den Sack, bewegt euren Hintern …« und ein: »Ihr Reichen seid doch innerlich tot, und heute Abend habt ihr nur Scheiße gegessen …«, das wiederum die Küchenchefs erzürnt.
Eine Rauferei und dann wieder Musik, Maestro.
Am folgenden Tag findet sich alles in der Zeitung. Zucchero gibt Edmondo Berselli gegenüber zu, »ein wenig übertrieben zu haben«, aber er habe auch mildernde Umstände geltend zu machen: »Ich komme schließlich von der Straße, alle wissen das. Unter Freunden verwenden wir Schimpfwörter praktisch liebevoll: ›Komm her, du Stück Scheiße‹, ›Was treibst du da, Hurensohn?‹ Und es ist wirklich nicht schwer, nachzuvollziehen, dass es nicht das Schönste auf der Welt ist, mit Herzblut Musik zu machen und zu singen, während das Publikum isst. So war es für mich ganz natürlich, den Ton und den Rhythmus ein wenig zu verschärfen. ›Bewegt euren Hintern ein wenig und kommt tanzen.‹ Das ist mein Stil, ob es jemandem gefällt oder nicht. Meinen Fans gefällt es. Es wäre viel einfacher gewesen, die normale Show zu absolvieren: Guten Abend, meine Damen und Herren; Danke für den Applaus; Auf Wiedersehen im nächsten Sommer. Meine Aufgabe ist es, zu unterhalten, ich hätte es gerne, dass alle tanzen. In einem Hotel, neben einem Pool, mit Leuten, die vielleicht Rock nicht mögen oder nichts davon verstehen, ist dazu etwas mehr nötig als in einem Stadion oder einer Veranstaltungshalle. Ich arbeite mit Sarkasmus, mit Ironie: Ich bin nicht einer für den Nachtclub, bin kein Schnulzensänger, kein Schlagersänger, ich habe ein sanguinisches Temperament.«
Daran lässt sich nicht rütteln!
Wie immer polarisiert Zucchero Sugar Fornaciari. Wer ihn vorher bereits hasste, dem hat er einen weiteren Grund geliefert, das zu tun. (»Er hat über 180 000 Euro bekommen und ergeht sich dann in Beleidigungen?«, ist noch die zärtlichste Abrechnung mit ihm, die man in den Blogs lesen kann); wer in ihm jedoch eine Persönlichkeit mit Blues in der Seele, der Einstellung eines Rockers und dem Sound eines Popmusikers sah, hat mit viel Vergnügen beobachtet, wie er in die Rolle des Rächers schlüpfte und Sachen sagte, die viele hätten sagen wollen (»Wer von uns hat sich noch nie gewünscht, jene unerträglichen Reichen, die sich in Selbstdarstellung ergehen und für gottgleich halten, ein ›Leck mich am A …‹ entgegenzuschleudern?«, war dann etwa zu lesen).
Alles wie gehabt, wie auch immer man es sehen möchte. Auf jeden Fall immer gegen den Strom – manchmal auch gegen den gesunden Menschenverstand. Oder, um den Titel eines wunderschönen und unterschätzten Films von Stefano Leali zu zitieren: Im Segelboot gegen den Wind.
Massimo Cotto
Zum »Haus der Musik« gehören ein riesiger Kamin, eine Bühne, wo man für die Freunde und mit ihnen Musik machen kann, eine granatrote Vespa, Flipper und Kicker. Das Leuchtschild »In Blues We Trust« verrät das herrschende Glaubensbekenntnis. Die Musikbox mit ihrer Musik von einst ist unübersehbar: Elvis, Equipe, die Stones, Camaleonti, Nomadi, die Byrds, Ray Charles und der Léo Ferré von »La solitudine«, jener von Unruhe und inneren Stürmen heimgesuchte Ferré. Die Wendeltreppe führt in den zweiten Stock, in das Zimmer der Sünde und des Sex. Als ich das letzte Mal hier war, lag auf dem Nachttisch eine pornographische Zeitschrift aus dem ehemaligen Jugoslawien: »Erotica«. Anno 1989.
Das »Haus des Felsens« ist ein steinernes Wunder mit einem Holzofen, der sich mit leckeren Speisen füllt, wenn es an der Zeit ist. Es sind neun Häuser, wenn mein Gedächtnis mich nicht im Stich lässt. Nichts ist, wie es zu sein scheint, in diesem Winkel der Toskana. Es gibt auch einen Bus, der zu einem kleinen Apartment ausgebaut ist, und einige Ställe. Das Herrenhaus ist eine alte Mühle, die vorsichtig abgerissen und mit Bedacht wieder aufgebaut wurde; eine antike Glocke thront auf dem Dach. Alte Backtröge, antike Grammophone finden sich. Gegenstände des bäuerlichen Lebens, keinerlei traurige neureiche Prahlerei. An der Wand Knoblauchzöpfe (»aber nicht, um den Teufel fernzuhalten, der ist hier immer willkommen«). Unter dem Fenster eine kleine Videothek mit wenigen Neuheiten, aber vielen Klassikern: Apocalypse Now, Profumo di donna, Cotton Club, TuttoBenigni – und dann Scorsese, Polanski und La Monella von Tinto Brass. Man hört das Rauschen des Wassers, das von der Mühle emporgeschaufelt wird.
Von der Veranda aus sieht man einen der drei Seen, die von Forellen, Aalen und Katzenfischen bevölkert werden. Eine Holzbrücke führt zu einem steinernen Pfad, der sich zu weiteren Gebäuden hin öffnet, wie dem Pili Pili, der originalgetreu nachgebauten Holzhütte, deren Namen von den kenianischen Pavillons stammt, wo vorab die Songs angehört werden und viel Lachen zu hören ist, zwischen erheiternden Imitationen des »Großmoguls« und Anekdoten aus einem reichen Leben.
Von hier aus, mein Herr, wird das Tal beherrscht. Zuccheros Tal. Hier, zwischen Louisiana und Lunigiana, zeigt sich in seiner ganzen Herrlichkeit das bäuerliche Reich von Adelmo Fornaciari. Lunisiana Soul, Provinz Pontremoli, Region Toskana, Freistaat der Black Music. Fünfzehn Hektar Olivenhaine, Obstbäume, Schafe, Hühner, Gerste, Hafer, Roggen, Kühe, Esel und Bauern. Wurzeln und Lieder.
Hier entsteht die Idee für ein Buch, das von Zuccheros Blues, der in der Tiefe seiner Augen zu sehen ist, erzählt – während Marianna Focaccia und Kastanienkuchen zubereitet (denn hier wird nur das verzehrt, was innerhalb der Grenzen der Lunisiana produziert wurde: Öl, Käse, Butter, Brot, Salami und, natürlich, Wein), während Blu zum millionsten Male Der König der Löwen anschaut, das englische Kindermädchen Beth dies mit eigenen Augen überwacht, Marina Testori die Fotos für die Journalisten auswählt und Zucchero die Rückkehr seiner Francesca erwartet. Ein Buch, das zugleich Bericht und Zusammenfassung unserer Begegnungen über fast zwanzig Jahre hinweg sein soll. Das Ziel ist keine Biografie, sondern die Verwirklichung des Wunsches, all jene Worte, die in Schubladen verborgen liegen oder sie selten für einen Morgenspaziergang verlassen haben, Luft schnappen zu lassen. Ein Buch ohne vermittelnde Eingriffe, die über den Umfang einer Frage hinausgehen, keine Rekonstruktion wie für eine Heiligenlegende, sondern vergleichbar der Figur eines Dorfpfarrers, der seine zahlreichen Paradoxien und Widersprüche nicht auf dem Altar des Erfolges geopfert hat.
Die Stärke des Adelmo Zucchero Fornaciari, tüchtiger Pfarrer der Kirche des emilianischen Blues, liegt im Erzählen von Parabeln, bei denen – ähnlich dem plötzlichen Auftauchen der Sonne – der Rhythmus des Blues der Melodie Platz macht; sie liegt darin, dass er seine tausend Ideen auch dann tauft, wenn niemand an sie glaubt, und darin, wie er das Publikum mit dem Schweiß der Bühne anstatt mit Weihwasser segnet.
Auf diese Weise wird es ihm, der immer erklärt hat, wenig davon zu besitzen, mit geradezu biblischer Geduld gelingen, sein selbstgestecktes Ziel zu erreichen: auf dem ausländischen Markt zu triumphieren und ihn mit großen Schritten zu erobern. Er ist auf dem besten Wege. Gemeint sind damit nicht nur die lateinamerikanischen Länder, sondern vor allem auch die angloamerikanische Achse. »Ich möchte versuchen, meinen bäuerlichen Blues an die Afro-Amerikaner heranzutragen. Ich weiß, ich bin stur. Aber ich bin sicher, dass ich es schaffen werde. Es wird seine Zeit brauchen. Ich habe Jahre dafür gebraucht, in Italien Erfolg zu haben, ganz zu schweigen von Amerika. Aber ich warte. Und wenn ich es geschafft habe, werde ich zufrieden nach Hause zurückkehren, mich an den kleinen See setzen und über die nächste Wette, die es zu gewinnen gilt, nachdenken. Im vergangenen Jahr habe ich es zum zweiten Mal in Amerika in die Hitlisten geschafft, zum ersten Mal alleine, denn davor war es zusammen mit Paul Young, mit ›Senza una donna‹. Klar, dass ich es dieses Mal mehr genossen habe. Ich würde es gerne auch mit einem Titel in italienischer Sprache schaffen. Die Leute der Plattenfirmen sagten mir immer, dass ich keine Chance hätte, wenn ich nicht englisch singe. Unsinn. Durch Bearbeitungen und Übersetzungen verliert man immer etwas an Originalität, Schönheit und Poesie. Um verstanden und geschätzt zu werden, muss ich darauf achten, Worte zu wählen, die auch Klang sind. Und Traum.«
Während ich seine Worte transkribiere, denke ich an die Begegnungen mit ihm zurück. Die erste fand in Modena statt, in den alten Studios von Umbi Maggi. Es war 1987, das Jahr von Blue’s, das eher eine Sammlung der größten Hits ist als ein normales Album, weil jedes Lied ein sensationeller Erfolg war: »Con le mani«, »Pippo«, »Senza una donna«, »Non ti sopporto più«, »Dune mosse«, »Hai scelto me«, »Solo una sana e consapevole libidine …«, »Bambino io bambino tu«, »Hey man«. Zwei Jahre darauf sollte Oro incenso & birra folgen, ein weiteres Meisterwerk, eine weitere Anthologie von Evergreens: »Overdose (d’amore)«, »Madre dolcissima«, »Iruben me«, »Il mare impetuoso al tramonto«, »Diavolo in me«, »Diamante«, »A wonderful world«, »Libera l’amore«. Einzigartige Jahre, die Jahre vor der Großen Depression und der Flucht ins gelobte Land des Blues. Nicht, dass der Zucchero nach Miserere weniger intensiv wäre. Er ist nur anders, ein Auf und Ab von Launen und Größe, Experimenten und Klassizität.
Mit Zucchero bin ich durch einen Teil Europas gereist. Ich war mit ihm in London und wurde Zeuge des Triumphs in der Royal Albert Hall, wo jeder Künstler ihm Zuneigung entgegebrachte und nicht nur professionellen Einsatz. In Rotterdam, auf einem Festival, wo alle auf Sugar warteten und auf die anderen pfiffen, Sternchen des Britpop, die nicht glauben konnten, dass die Holländer auf einen weißen Italiener warteten, der einen Zug mit Schwarz machte, um die Hitparaden schachmatt zu setzen. Im Reservoir in Paris, einer kleinen heidnischen Krypta, versteckt hinter der Bastille, umgeben von einem Wirrwarr von Gassen (das Lokal nebenan heißt nicht zufällig Cashba), wo Zucchero stundenlang den Ritus des Blues zelebrierte, bis irgendein Journalist ihn darauf hinwies, dass man, um zwei Uhr morgens, doch durchaus einen Happen essen gehen könnte. Und dann Dublin, Glasgow und Wien, in der Münchner Olympiahalle und in der Alten Oper von Frankfurt. Aber ich weiß nicht, warum – oder vielleicht weiß ich es sehr wohl –, die einzigen Momente jedenfalls, in denen Zucchero sich der Welt nicht als doppelt verglastes Fenster geöffnet hat, waren jene, in denen der Schauplatz seine Emilia war.
Ich erinnere mich an einen unglaublichen Abend auf der Antica Corte von Gattatico, wenige Meter von Sant’Ilario d’Enza und wenige Kilometer vom Haus der Brüder Cervi entfernt. Der Geruch der Ställe, die frisch gedüngten Felder, die winterliche Kälte, die nur teilweise durch Glühwein und das Kaminfeuer vertrieben wurde, das Feuer auf der Tenne, wo die Kastanien aus Marola geröstet wurden. Zucchero, der im Che Guevara-T-Shirt auf den Heuboden stieg und unter den Balken und den halbrunden Ziegeln des Daches zu singen begann.
Oder die Geburtstagsfeiern am Damm des Po, in Canato, auf dem Anwesen von Umbi, ursprünglich ein Kloster aus dem 16. Jahrhundert (derselbe Ort, an dem er 2001 auch Shake der internationalen Presse vorstellen würde und ein riesiger Funky Gallo an der Staatsstraße 16 den Weg dorthin wies), mit unglaublichen, cholesterinreichen Darbietungen bis um zwei Uhr nachts, wobei Zuccheros Mutter die Gäste empfing und sich die Tische im Freien unter tausenden rustikalen Köstlichkeiten bogen (»nach alten Rezepten zubereitet, nicht der Unsinn von heute«), die einem Film von Pupi Avati entsprungen zu sein schienen. Und die Hausdamen, die einem quasi bis zum Auto hinterherliefen: »Versuch noch ein wenig vom Culatello …«
Oder der letzte, unglaubliche, venezianische Wahnsinn. Der Palazzo Ca’ Vendramin Calergi mit Blick auf die Lagune, ein prächtiger Ort, um die italienische und internationale Presse zu empfangen und Fly vorzustellen. Zucchero betritt spätabends die Bühne, um eine Handvoll neuer Lieder zu singen, verliert aber bald die Lust. Nach einer entzückend zerlumpten und stark alkoholisierten Darbietung von »Diamante« sagt er: »Jetzt ist es genug, machen wir etwas anderes.« Und er stürzt sich fast eine Stunde lang in Coverversionen, von »Everybody’s talking« bis zu »You are so beautiful«, von »Ho difeso il mio amore« von den Nomadi bis zu »Occhi di ragazza« in der Originalversion. Blues und Amerika, Folk und Canzone. Eine Einstellung voller Rock ’n’ Roll. Wer sonst hätte das gemacht?
Oder die endlosen Abende in Pontremoli, wohin man sich besser nicht alleine begibt, denn die von den Nachbarn errichtete Schutzmauer ist äußerst stabil: »Ruhige und höfliche Leute. Sie bringen mir die Speisen, die sie zubereiten, Wein, Pilze, Gemüsekuchen. Sie sind phantastische Leibwächter. Wenn sie jemand anspricht und fragt, wo Zucchero wohnt, antworten sie: ›Und wer ist Zucchero?‹«
Hier, an diesen Plätzen, and denen man sich lebendig fühlt, wenn man die Hände in die Erde gräbt, ist Zucchero er selbst: ein geplagter und innerlich gespaltener Mensch, problematisch und widersprüchlich, aber ein Mensch und nicht nur ein Rockstar. Hier ist seine Schüchternheit zart und wird nicht zur Maske, die die Kommunikation mit der Außenwelt erschwert. Warum Zucchero bei jemandem unbeliebt sein könnte, ist leicht zu verstehen. Die Welt der Musik ist von Künstlern bevölkert, die von Heuchelei gegenüber ihrem Kreis von Mitarbeitern leben und einem nur ihre Schokoladenseite anbieten, wobei sie den Managern oder den Pressebeauftragten die Rolle des Wolfshundes zuteilen, der knurrt, Angst einjagt und, schlimmstenfalls, beißt. Bei Zucchero ist das nicht so. Zucchero ist immer Mensch und Tier, Knurren und Streicheln. Ein Tag mit ihm kann eine schöne Erfahrung sein oder eine, die man lieber vermeidet, wenn er ungerechtfertigt provoziert wird (vor allem während der Monate der Songproduktion und der Fertigstellung eines neuen Albums). Aber wenigstens ist er wahrhaftig und kein Surrogat, gebrannter Schnaps und kein Fruchtsaft.
In diesem Buch steckt allein Zucchero und Zucchero ganz allein. Er spricht von Träumen und Albträumen, Furcht, Liebe, Schmerz und Erinnerungen, Freunden, Feinden, Anekdoten, Depressionen, Liedern, Büchern, Wurzeln, Musik, Unsicherheiten, Ängsten, Freuden, Lachen, Werten, Launen und Lärmen.
Gute Reise. Gegen den Wind.
Massimo Cotto
MASSIMO COTTO: Fly ist ein Album, das in den Farben der Emilia Romagna leuchtet und klingt wie eine Hammondorgel.
ZUCCHERO »SUGAR« FORNACIARI: Gäbe es Urheberrechte auf Wurzeln, wären meine Wurzeln außerordentlich reich.
Ich wollte dieses Album eigentlich Cioca bec nennen. Als ich ein kleiner Junge war, gab es bei uns zu Hause nie viel zu essen. Es herrschte große Harmonie, aber wir hatten wenig Geld. Wir waren arm. Ständig fragte ich meinen Vater: »Was gibt es zu essen?«, und er antwortete: »Cioca bec.« So sagt man im Dialekt von Reggio Emilia zu einem Schnabel, der laut klappert, weil nichts darin ist; er ist leer. Ich aber habe das nicht verstanden und dachte: »Wann gibt er mir nun endlich dieses cioca bec?« Er gab es mir jedoch nie.
Nun, und die Hammondorgel, sie ist heute mein Altar. Und sie hat mein neues Album gerettet, indem sie ihm eine Richtung gegeben hat. Wie immer, so ist es mir auch dieses Mal schwergefallen, wieder ins Schreiben hineinzufinden. Ich fragte mich: »Und was mache ich jetzt, wovon erzähle ich – nach 13 Alben?« Es gäbe natürlich immer viel zu erzählen, aber der schwierigste Schritt ist der allererste. Aus Prinzip vermeide ich stets, mich zu wiederholen, mein vorhergehendes Werk zu kopieren. Ich habe mich in meine Erinnerungen, meine Plazenta, geflüchtet. Mein Herz schlägt für die Po-Ebene; dort suche ich Trost. So erinnerte ich mich an jene Orgel, die ich in der Kirche spielte, als ich klein war; als ich Messdiener wurde, nur weil ich dann die Möglichkeit hatte, mich an die Orgel zu setzen und meine Hände über ihre Tasten gleiten zu lassen. Gleich darauf kam mir die Hammondorgel in den Sinn, die bis in die achtziger Jahre absoluter Hauptbestandteil erfolgreicher Musik war und die dann, als sich Dance und Disco durchsetzten, in Vergessenheit geraten ist. Und sie fehlte mir. Ich dachte über die verschiedensten Möglichkeiten ihres Einsatzes nach, zum Beispiel bei Procol Harum und Vanilla Fudge in den siebziger Jahren, als Progressive »in« war. Ich dachte auch an den Kontrapunkt von Bach.
Die Gefahr bestand darin, ein altmodisches Album zu machen. Ich wollte kein »A whiter shade of pale« aufnehmen, ich wollte nur dessen Atmosphäre. Um diese Gefahr zu verringern, arbeitete ich mit jungen und älteren Musikern zusammen, mit Rocklegenden und sehr talentierten, aber unbekannteren Musikern: So sind da Brian Auger und Jim Keltner, Kenny Aronoff und Pino Palladino, Amir Thompson von den Roots und Randy Jackson, Michael Landau und Waddy Watchel zu hören. Ein wunderschönes Durcheinander also.
Du hast »A salty dog« von Procol Harum neu aufgenommen.
Ja, aber es ist eher ein neues Lied, das zur Original-Musik geschrieben wurde, als ein Cover. Der Text dazu stammt von mir und Panella, und der Titel lautet »Nel così blu«. Es gibt tausend Songs, die ich gerne geschrieben hätte, aber wenn ich mich für zwei entscheiden müsste, würde ich »A salty dog« und »Everybody’s got to learn sometimes« auswählen. Auch »Imagine« zählt dazu, aber sein Stil unterscheidet sich zu sehr von meinem. Die ersten beiden jedoch hätte ich schreiben können, nur hat dafür bereits jemand anderes vor mir gesorgt.
Warum hast du das Album in Venedig vorgestellt?
Ich finde, Venedig ist die ideale Stadt, um jene Harmonie zwischen der Schöpfung und dem menschlichen Wesen wiederzuerlangen, die sonst überall verloren geht. In Venedig ist das alles anders. Man hat ein anderes Zeitgefühl. Man lebt intensiver, weil die Uhren langsamer ticken; zumindest hat man diesen Eindruck.
Wer sind heute die Truthähne?
Diejenigen, die uns am Fliegen hindern. Bitte verlange nicht, dass ich Namen nenne; sie sind nicht wichtig. Jeder von uns hat seine eigenen, speziellen Truthähne. Wenn ich von der Sehnsucht vom Fliegen spreche, meine ich nicht nur den Wunsch, mich körperlich in die Lüfte zu erheben, sondern auch durch die Macht der Musik, der Träume, der Ziele. Ich stelle fest, dass dort immer ein oder auch mehrere dieser Truthähne lauern, die uns am Boden halten wie Bleigewichte an den Füßen.
Sie treten in verschiedener Gestalt auf, versuchen, ihr wahres Gesicht zu verbergen, aber sie sind und bleiben Truthähne. Unkalkulierbar.
Nicht nur Personen können Truthähne sein, sondern auch Lebensumstände, Situationen, Geschichten. Ich dachte: Wenn ich so weitermache und nur die reale Welt sehe, geht es mir hundeelend. Deshalb habe ich mir meine kleine Liebeswolke erschaffen, die, wie ich hoffe, so wie Fantozzis Wolke, mir überallhin folgt und immer größer wird.
Die Texte scheinen mir direkter zu sein als früher. Natürlich gibt es Doppeldeutigkeiten, aber man kann sie rascher auflösen. Ist auch dies Teil des bewussten Strebens nach Vereinfachung?
Ja, ich wollte wieder nackt sein. Eine Zeitlang sind Drei- und Vierdeutigkeiten ja ganz schön, dann aber bekam ich Panik. Eines Tages erwachte ich und fragte mich: Was, wenn niemand mehr auch nur den blassesten Schimmer davon hat, was ich sagen will? Deshalb habe ich mich für das Einfache entschieden, wobei ich versuchte, das Banale zu vermeiden.
Auch der Konflikt zwischen Teufel und Weihwasser hat sich abgemildert. In meinen Texten nehme ich mich auch immer der Probleme in unser aller Leben an. Die Liebe – gut und schön. All you need is love gilt immer. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht.
Wie war die Zusammenarbeit mit Don Was?
Wunderbar, weil er meine Musik verstanden hat. Er ist eine Rock-Legende, die Rock-Legenden produziert hat. Er räumt dem Gefühl gegenüber der Technik seinen Platz ein, und allein dafür schätze ich ihn sehr. Er lässt das Herz sprechen und lässt auch zu, dass die Herzen der anderen zu ihm sprechen. Er sorgt dafür, dass ein Instrument und der Gesang perfekt klingen, aber er lässt sich nicht abhängig machen. Er legt Wert auf Instinkt, auf Natürlichkeit, auf die Magie des Augenblicks. Und er hat ein Gespür für den richtigen Zeitpunkt. Du musst wissen, ich bin jemand, der gleich mit der ersten Aufnahme zufrieden ist. Ich hasse es, zwanzig Mal dasselbe Stück wieder und wieder zu singen. Meine Seele ist Rock. Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass auch die Unvollkommenheit Kunst ist. Ich pfeife auf eine ansteigende oder fallende Note. Ich spiele auch gerne auf »Vintage«- oder maroden Instrumenten. Man büßt an Perfektion ein, gewinnt aber an Ursprünglichkeit. Don Was war es manchmal lieber, dass ich die Instrumente selbst spiele – für »Troppa fedeltà« habe ich sogar Gitarre, Bass, Schlagzeug und Klavier gespielt, statt anderer, die dies viel besser gekonnt hätten.
Fly ist ein ungeschliffenes, dreckiges, ehrliches, aber deswegen kein schlechtes Album.
Ich wollte keinen Sequenzer, keine Elektronik und keine Sampler. Wenig Kitsch, dafür umso mehr Soul, im Sinne von Seele. Das ist der Spiegel der Einfachheit. Ich wollte zur Unmittelbarkeit von Blue’s und Oro incenso & birra zurückkehren, also setzte ich mich unter einen Feigenbaum, mitten in der Natur, und schrieb. Von der Natur zur Natürlichkeit. Ich und die Gitarre, aus. Ich lauschte meiner Stimme und machte weiter, bis ich eine Gänsehaut bekam und die Erregung spürte. An der Stelle war mir klar, dass dies der richtige Weg war. Ich suchte die reine Melodie.
In der Vergangenheit war das nicht so?
Nein, bei den letzten Alben nicht. Ich ging ins Studio und versuchte bereits von den Probeaufnahmen an, die Lieder zu perfektionieren. Und es kamen schöne Songs dabei heraus, aber natürlich andere als nur mit Gesang und Gitarre. Ganz zu schweigen von den Anfängen, als mein Onkel mir eine Sony mit zwei Tonspuren schenkte und ich das Gefühl hatte, den Himmel mit den Fingern berühren zu können. Also habe ich mir gesagt: Wenn du damals schreiben konntest, kannst du es auch heute.
Hast du gewartet, bis die Inspiration dich überkam, oder hast du sie regelrecht gesucht?
Diese ganze Sache mit der Inspiration ist ein Märchen. Das heißt, es stimmt schon, dass es sie gibt, denn es ist mir schon passiert, dass ich um vier Uhr morgens mit einer Melodie oder einem Riff im Ohr aufgewacht bin; aber es trifft genauso zu, dass ich quasi im Laden stehen und hart arbeiten muss, sonst würden zwischen zwei Alben Jahrhunderte vergehen. Je mehr man arbeitet, desto näher kommt man der Kunst.
Nach Paoli und De Gregori nun ein weiterer Poet: Ivano Fossati.
Im Auto hörte ich sein neuestes Album L’arcangelo. Daraufhin rief ich ihn an. Zum Glück, denn ich bin schon immer ein Fan von ihm gewesen, aber ich hatte nicht gewusst, dass auch er ein Fan von mir ist. Ich sagte zu ihm: »Hör mal, ich muss elf Texte schreiben. Hast du zufällig etwas Zeit für mich?« Und er, ganz der Gentleman, der er ist, antwortete: »Zeit habe ich, aber ich möchte keinen Schaden anrichten. Ich probiere es einmal, und dann sehen wir, was dabei herauskommt.« Und nach zwei Wochen Zusammenarbeit war der Text von »E delicato« geboren.
»Let it shine« ist eine bewegende Hommage an New Orleans.
Ich habe in meinen Liedern nie gerne Bezug auf Medienberichte oder das Zeitgeschehen genommen. Dies war in der Vergangenheit nur selten der Fall, etwa bei »Solo una sana e consapevole libidine salva il giovane dallo stress e dall’ Azione Cattolica« und »X colpa di chi«. Etwas von New Orleans jedoch fließt in meinen Adern, ist Teil meines Lebens. »Ich habe gesehen, wie der Mississippi wie ein Meer zur Hölle gerauscht und wie ein Engel hineingesprungen ist und verschlungen wurde.« Ich empfand heftigste Bestürzung. Und am Schluss, wenn ich singe: »Die Liebe weiß es«, hätte ich eigentlich sagen wollen – und vielleicht sagen müssen: »Die Liebe, ach was.« Denn es ist sehr schwierig, in diesen Ereignissen einen Sinn zu erkennen. Doch dann war ich überzeugt: Ich wollte ein Gefühl der Hoffnung vermitteln, einem schönen »morgen« die Tür öffnen.
Wie könnte ich denn auch davon unbeeindruckt bleiben? Das Anwesen mit dem Studio von Daniel Lanois gibt es nicht mehr, das Französische Viertel liegt in Trümmern, die Studios, in denen ich Spirito DiVino aufgenommen habe, sind verschwunden. Ich hoffe, dass New Orleans rasch wieder aufersteht. Ich verliere den Glauben daran nicht. Ich möchte den Zug der Liebe nicht verpassen. Wenn er an mir vorüberfährt, wie Curtis Mayfield gesagt hat, springe ich sofort auf.
Es gibt noch ein weiteres Stück auf diesem Album, in dem ich auf die Realität und das Zeitgeschehen Bezug nehme, aber es ist nur eine Art und Weise von vielen, meine Befürchtung auszudrücken, dass die Seele verfault. Ich habe weder etwas gegen Moslems noch gegen Christen noch gegen irgendwelche anderen Religionen. Die Angst, die ich empfinde aufgrund dessen, was in der Welt um mich herum durch religiös begründete Intoleranz geschieht, ist keine physische Angst. Sie ist anderer Natur. Wenn ich singe: »Christus, wir sind in Deinen Händen, bitte klatsch nicht in die Hände«, meine ich, dass ich mir nicht sicher bin, ob es richtig ist, dass alle auf die Religion vertrauen, denn manch einen kann sie auch erdrücken. Ich empfinde es als wichtig, dass die zwischenmenschliche Chemie stimmt. In »Pronto« setze ich meine Angst vor allem und jedem, ohne Ausnahme, musikalisch um. Ich fürchte mich vor den Amerikanern, den Engländern, den Italienern, den Moslems und auch den Christen.