Kitabı oku: «Die Stunde der Patinnen», sayfa 3
„Ich habe auf euch gewartet“
Zur gleichen Zeit fühlen sich die Brüder Graviano auf ihrem ureigenen Hoheitsgebiet bedroht: in Palermo, im Stadtteil Brancaccio. Zur ernsthaften Bedrohung für sie wird ein kleiner, schmächtiger und von Natur aus sanfter Mann: Giuseppe Puglisi, der Pfarrer des Viertels, von allen Don Pino genannt. Pino Puglisi ist mit Leib und Seele Priester. Das Evangelium zu verkünden heißt für ihn in erster Linie draußen bei den Menschen zu sein. Seine Pfarre sind die engen Straßen und Gassen des verrufenen Viertels, das von Arbeitslosigkeit und Drogenhandel gezeichnet ist sowie eine der höchsten Kriminalitätsraten der Stadt aufweist. Hier kämpft der „tapfere Priester“, wie er später genannt wird, darum, den jungen Menschen Mut und Hoffnung zu geben. Er will ihnen eine andere Perspektive vermitteln als die, sich als einzigem Ausweg dem organisierten Verbrechen anzuschließen.
Mitten in Brancaccio gründet Don Pino deshalb ein Sozialzentrum: das Padre Nostro. Der Pater und sein Zentrum sind der nach außen hin so gottesfürchtigen Cosa Nostra von Anbeginn ein Dorn im Auge. Denn dort spricht Don Pino von Geschwisterlichkeit, von Solidarität und von sozialem Frieden. Seine Mission sieht er im Einsatz für Gerechtigkeit und Recht, im Einsatz für die Rechte und Pflichten der Bürger und Pfarrangehörigen. Puglisi stellt sich offen und eindeutig auf die Seite der Unterdrückten und der am Rande der Gesellschaft Stehenden. Sein Ziel ist es, ein auf christlichen Werten basierendes Rechtssystem zu schaffen. Mit Wut sieht die Mafia, dass seine Worte Gehör finden und sich das Zentrum eines guten Zulaufs erfreut. Doch für Puglisi ist das alles zu wenig. Er will bei seinen Bestrebungen, die Menschen zum Umdenken zu bringen, bei den Kindern ansetzen. Er gründet eine Schule – überzeugt, dass Erziehung und Ausbildung der richtige Weg sind – und kümmert sich intensiv um Drogenabhängige. Auch für sie kämpft er um einen Platz in der Gesellschaft, für einen Weg heraus aus der Sucht. Bei seinen Predigten von der Kanzel der Kirche San Gaetano nimmt der Pfarrer sich kein Blatt vor den Mund. Er spricht die Probleme des Viertels geradeheraus an und scheut auch nicht davor zurück, die Verursacher dieser tristen und von Gewalt geprägten Realität bei ihren Namen zu nennen: Giuseppe und Filippo Graviano.
Giuseppe Puglisi
Für die brutalen und skrupellosen Bosse stellt dies eine unerträgliche Herausforderung dar. Die Berufung auf das Evangelium und die Würde eines jeden Einzelnen macht ihnen Angst. Sie fürchten, sie könnten bei der jungen Generation an Einfluss und damit an Macht verlieren. Puglisi ist eine Gefahr für sie, weil er ihre eigenen Spielregeln als verbrecherisch und unchristlich aufdeckt, weil er unerschrocken mit der Bibel in der Hand gegen die Mafia auftritt und sich nicht einschüchtern lässt. Eine Gefahr, die deshalb eliminiert werden muss. Die Bosse verhängen ihr Todesurteil über ihn. Am Abend des 15. September 1993, es ist Puglisis 56. Geburtstag, schlagen die Killer zu.
Kurz vor 21 Uhr kommt Don Pino nach einem erneuten Tag voller Anfeindungen vor seiner bescheidenen Behausung an. Seine Mörder warten bereits in einem Auto versteckt auf ihn. Als der Priester die Schlüssel zur Eingangstür ins Schloss stecken will, nähern sich zwei Männer von hinten. „Pater“, sagt einer, „Pater, das ist ein Raubüberfall.“ Es ist Gaspare Spatuzza, der den Auftrag hat, Don Pino abzulenken. Spatuzza versucht, ihm seine Tasche zu entreißen. Der Mord, das war der Plan, sollte wie ein unglücklich ausgegangener Gelddiebstahl eines Drogenabhängigen aussehen, die Tat auf einen der Schützlinge Don Pinos zurückfallen. Selbst die mit einem Schalldämpfer versehene Pistole wurde so ausgewählt, dass sie die Ermittler in die Irre führt. Es ist ein für Mafia-Attentate völlig unübliches Modell: eine Beretta, Kaliber 7,65.
Im selben Augenblick, als Spatuzza die Tasche an sich reißt, drückt der zweite Mann ab. Salvatore Grigoli schießt Puglisi aus nächster Nähe lautlos in den Nacken. Bevor der Priester zu Boden fällt, lächelt er seine Mörder an und sagt: „Ich habe auf euch gewartet.“
Der Gerichtshof in Palermo verurteilt am 13. Februar 2001 Gaspare Spatuzza und Salvatore Grigoli wegen Mordes. Giuseppe Graviano erhält im Fall Puglisi wegen „Anstiftung zum Mord“ eine lebenslange Gefängnisstrafe, sein Bruder Filippo zehn Jahre Haft. Giuseppe Puglisi wird im Mai 2013 vor hunderttausend Menschen in einem Stadion in Palermo seliggesprochen. Als erstes Opfer der Mafia in der Geschichte der katholischen Kirche.
Die Familie Graviano – so schreiben die Richter in ihrer Urteilsbegründung – übt in jenen Jahren „die absolute Kontrolle über ihr Gebiet aus“. Was immer dort auch passiert – Erpressung, Raub, Mord –, die Gravianos wissen Bescheid oder, schlimmer, sind in den meisten Fällen selbst die Auftraggeber. Ihre Herrschaft bleibt lange ungebrochen. Auch der Umstand, dass sie bereits vor 1993 in den Untergrund abgetaucht waren und sich nicht mehr in Sizilien, sondern auf dem italienischen Festland aufhalten, ändert nichts daran. Durch ihre Flucht sind sie einer Verhaftung und einer Anklage im Sinne des Mafia-Paragrafen entgangen.
Während ihre Erfüllungsgehilfen im ganzen Land Terror verbreiten, genießen die Brüder Graviano – wie sich später herausstellt – das Leben in einer luxuriösen Villa am Meer. Die Geschäfte führen sie aber – auch dank ihrer Schwester – sowohl vom Untergrund aus als auch später aus dem Gefängnis heraus weiter. Am 27. Jänner 1994 werden Giuseppe und Filippo in Mailand verhaftet. Nach einer ausgiebigen Shopping-Tour mit ihren Frauen wollen die beiden den Abend im Restaurant „Il Cacciatore“ ausklingen lassen. Die sonst so vorsichtigen Bosse wittern die Gefahr nicht. Die Polizisten sitzen, als harmlose Restaurantgäste getarnt, bereits in Warteposition. Seither sind die Brüder im Gefängnis.
In der Folge tritt ihre Schwester auf den Plan. Nunzia, sagt Staatsanwalt Michele Prestipino, wird nicht nur zur Statthalterin ihrer Brüder vor Ort, sie nimmt vor allem die wirtschaftlichen Angelegenheiten der gesamten Familie in die Hand und übernimmt damit eine führende Rolle innerhalb des Clans. Denn nichts fürchten Giuseppe und Filippo nach ihrer Verhaftung mehr als den Verlust ihres beträchtlichen Vermögens. Sei es durch eine vom Staat vorgenommene Beschlagnahme, sei es durch Kämpfe innerhalb der Cosa Nostra, in der nun der neue Boss der Bosse, Bernardo Provenzano, den Ton angibt.
Die junge Frau übt ihre Funktion mit Überzeugung aus. Sie sieht sich nicht nur als ausführendes Organ, sie entwickelt ihre eigene Vision einer zeitgemäßen Mafia. Nunzia – bestätigt Michele Prestipino, der sie bei einer Vernehmung als „sehr entschlossen, sehr resolut“ erlebt hat – verkörpert die Moderne innerhalb der Familie. Sie träumt von internationalen Geschäftsmodellen und möchte die organisatorische Zentrale des Clans ins Ausland verlegen. Bald ist das Land gewählt. Sie geht nach Südfrankreich, um von dort die Geschäfte der Familie abzuwickeln.
Mit dieser Entscheidung steht Nunzia im klaren Gegensatz zu den Frauen ihrer Brüder, die ihr anvertraut sind. Ihre Schwägerinnen bleiben der traditionellen Rolle der Mafia-Frauen treu. Die beiden ziehen ein Leben in Palermo einem anonymen Aufenthalt im Exil vor. Sie wissen, dass sie zuhause auf den Respekt der Clanmitglieder zählen können, der ihnen als Ehefrauen ehrenwerter Männer gebührt, die ihre Gefängnisstrafe „würdevoll“, weil nicht mit der Justiz kollaborierend, absitzen. Das schon historische Fach der passiven First Lady der Mafia ist jedoch Nunzias Sache nicht.
Nunzia ist bei allen wichtigen Entscheidungen, die das Überleben des Clans betreffen, dabei. Sie kommuniziert mit den Brüdern im Gefängnis, sie kümmert sich um die „Gehälter“ für inhaftierte Mafiosi und deren Familien, an sie wenden sich andere Mafia-Familien, wenn es darum geht, größere Entscheidungen zu treffen. Sie arbeitet Schulter an Schulter mit ihrem Steuerberater und ihrem Rechtsanwalt. Dank ihrer Fähigkeiten erleiden die wirtschaftlichen Unternehmungen der Familie keinen Einbruch, stellen die Untersuchungsrichter fest. Die „Familie“ besteht somit weiter.
Nunzia sorgt dafür, dass die Gelder in Brancaccio eingetrieben werden. Noch im Jahr 2012, also bereits nach ihrer zweiten Verhaftung, soll sie allein aus Vermietungen von Wohnungen und Büros 66.000 Euro monatlich eingenommen haben. Doch die Mieten tragen in den 1990ern nur einen kleinen Teil zum Vermögen bei. Die Familie Graviano verfügt über einen großen Immobilienbesitz, den es angesichts der veränderten Lage zu verkaufen gilt. Sei es in fingierten Geschäften an Strohmänner, sei es tatsächlich in realen Transaktionen. Das Imperium muss neu geordnet werden.
Einblick in das von Nunzia verwaltete Familienvermögen geben die Abhörprotokolle der Ermittler. So beraten sich der Anwalt der Familie, Domenico Salvo, und Filippo Graviano im November 1998 über den Ankauf einer neuen Wohnung für die Mutter in Palermo. „Es gibt ein Palais aus dem achtzehnten Jahrhundert“, setzt der Jurist die Familie in Kenntnis, „vollständig restauriert und renoviert. Allein der Salon ist 260 m2 groß.“ „Kaufen, und zwar sofort, ohne lange nachzudenken“, ist die Antwort Filippos. „Je größer, desto besser, dann haben eventuell auch andere Familienmitglieder Platz.“
Zu dieser Zeit lebt Nunzia bereits an der Côte d’Azur. Sie schlägt in Nizza ihren Hauptwohnsitz auf und beherbergt je nach Bedarf einmal die Mutter, einmal die Schwägerinnen. Nunzia liebt das Leben an der französischen Mittelmeerküste, das eleganter, aber vor allem sicherer ist als in Palermo. Hier kann sie sich unerkannt und unbehelligt in der Öffentlichkeit bewegen. Hier kann sie in Ruhe ihre Finanztransaktionen abwickeln.
Wann immer es die Geschäfte verlangen, pendelt sie zwischen Frankreich und Sizilien. Mit ihren Brüdern hält sie regelmäßig Kontakt. Einerseits, um von ihnen Anweisungen bezüglich Vermögensverwaltung sowie Mafia-Aktivitäten entgegenzunehmen, andererseits, um von ihren eigenen Tätigkeiten zu berichten. Während der Gespräche benützen die Geschwister einen familienspezifischen Kommunikationscode. Sie verschlüsseln nicht nur Namen und Sachverhalte, sie verwenden auch eine eigens erfundene Gestik, die die Ermittler erst im Laufe der Beobachtungen entschlüsseln werden. Jede noch so harmlose Bewegung, wie das Tippen auf die Stirn oder das Berühren des kleinen Fingers der linken Hand, verweist auf einen – fast immer – illegalen Tatbestand und wird später in der Beweisführung von der Justiz verwendet.
Selbständig und doch nicht frei
Nunzia ist die Managerin der Familie und als solche ist sie permanent auf der Suche nach neuen Geschäftsideen. Die Zeiten sind schwierig für die sizilianische Mafia. Nach den Attentaten der Jahre 1992 und 1993 geht der Staat entschieden gegen den militärischen Arm der Cosa Nostra vor. Immer häufiger gehen der Polizei Mitglieder ihres Clans ins Netz. Die steigende Zahl inhaftierter Männer stellt sie vor neue Herausforderungen. Als Clanchefin muss sie für deren Unterhalt und den der Angehörigen aufkommen. Das bedeutet neue, nicht vorhergesehene Ausgaben. Sie steigt daher in das verbotene Glücksspiel ein, lässt Spielautomaten für sich arbeiten, die die Kasse für sie klingeln lassen und für satte Gewinne sorgen.
Doch Nunzias große Stärke liegt im Finanzwesen. Die hübsche junge Frau mit dunkelblondem, halblangem Haar ist eine gern gesehene Kundin etlicher Großbanken in und um Nizza. Sie eröffnet Konten und Depots und spezialisiert sich auf Aktien und Portfolios. Die Herkunft des investierten Geldes, das ausschließlich aus illegalen Einkünften stammt, scheint niemanden zu interessieren. Nunzia ist eine aparte Erscheinung, ihr Auftreten ist gewandt, wie ihre Brüder legt auch sie Wert auf Designerkleidung. Aber sie ist vor allem intelligent, wie auch die Ermittler feststellen. Immer bemüht, jedes noch so kleine Risiko so gering wie möglich zu halten. Wenn sie etwa mit ihrem Anwalt sprechen muss, tut sie das nur von einem öffentlichen Telefon aus. Der Gebrauch von Mobiltelefonen ist genau reglementiert und nur auf einige Themen beschränkt.
Das Risiko klein halten bedeutet auch, selbst über möglichst viele Informationen zu verfügen und möglichst wenig vom Wissen anderer abhängig zu sein. Die junge Frau bildet sich daher sprachlich und fachlich ständig weiter. Sie studiert die Feinheiten des Internets und lernt Französisch, sie verfolgt täglich die Aktien- und Börsenkurse in Radio und Fernsehen, und zu ihrer permanenten Lektüre gehört die hochseriöse Tageszeitung der italienischen Industriellenvereinigung, „Sole 24 Ore“, die sie auch im Gefängnis weiterhin lesen wird.
Selbständig, unabhängig, intelligent und emanzipiert, so wird Nunzia Graviano beschrieben. Als die junge Frau jedoch in Frankreich eine Beziehung zu einem aus Syrien stammenden Arzt beginnt, schlagen die althergebrachten Muster wieder durch und die Brüder zu. „Ich bin Sizilianer, du bist Sizilianerin, wir haben Traditionen. Wir kennen keine Scheidung und jede Beziehung muss in einer Ehe enden“, gibt ihr Bruder Giuseppe unmissverständlich zu verstehen. „Und“, fügt der Auftraggeber des Mordes an Pater Puglisi hinzu, „welche Religion hat denn der überhaupt?“ Die Botschaft ist klar: Der Freund wird von der Familie nicht akzeptiert. Vor die Wahl gestellt, sich entweder für die neue Liebe oder für die Ursprungsfamilie zu entscheiden, entscheidet sich Nunzia für Letztere – und bleibt damit letztlich den alten Prinzipien verhaftet. Dieselbe Frau, die nach der Verhaftung ihrer Brüder zu ihren „Untergebenen“ sagte: „Jetzt bin ich es“, gibt nun klein bei.
1999 wird Nunzia Graviano das erste Mal verhaftet und als Mafiosa verurteilt. 2011 nimmt die Polizei sie erneut fest. Zwei Jahre später kommt es zu einer weiteren Verurteilung. Wieder war Nunzia als Geschäftsfrau für den Clan tätig. Wieder leitete sie die Geldgeschäfte. Zur Tarnung führte sie offiziell eine Bar in Rom. In Wirklichkeit wurde weiter schmutziges Geld verwaltet und reingewaschen. Gelder aus Schutzgelderpressungen und anderen illegalen Aktivitäten. Zu den Spielautomaten kam das Transportwesen hinzu. Nunzia gab weiterhin die Linie vor und hatte noch immer ihre Leute fest im Griff. Und das Schmutzgeld wurde nach wie vor in Paketen verschnürt ins Haus geliefert.
Derzeit sind die Graviano-Brüder und ihre Schwester in Haft. Das Kapitel der Familie ist aber weiterhin offen und Teil der jüngsten Kriminalgeschichte Italiens. Denn das Paten-Brüderpaar ist nicht nur mitverantwortlich für den Mafia-Terror der 1990er-Jahre, es soll auch in der hohen Politik mitgemischt haben. Laut berühmten Kronzeugen wie Nino Giuffrè und Gaspare Spatuzza waren es die Brüder Graviano, die in jenen Jahren als Vermittler zwischen dem damaligen Polit-Neueinsteiger Silvio Berlusconi und der Cosa Nostra agierten. Danach habe die Mafia dessen Partei Forza Italia von Anfang an unterstützt. Als Gegenleistung wollte die Cosa Nostra in Ruhe gelassen werden. Sie wollte Schutz für sich und ihre Mitglieder. Gaspare Spatuzza, seit 2008 pentito und Zeuge der Justiz, soll von Giuseppe Graviano selbst davon erfahren haben. Anfang 1994, gab er zu Protokoll, habe er sich mit seinem Boss in einer Bar in der eleganten Via Veneto in Rom getroffen, die in dessen Eigentum war. Giuseppe Graviano habe offen über die neue Partei und ihre beiden Gründer gesprochen: Silvio Berlusconi und Marcello dell’Utri. Berlusconis Weggefährte, der im Mai 2014 rechtskräftig wegen Mafia-Verwicklungen verurteilt worden ist, soll damals als Mittelsmann der Politik agiert haben. Dank der beiden Politiker „hat die Mafia das Land in der Hand“, zitierte Spatuzza weiter aus seinem Gespräch mit Graviano.
Im darauffolgenden Frühling gewann der Mailänder Medienzar seine erste Wahl und wurde Ministerpräsident. Filippo Graviano hat die Aussagen seines ehemaligen, und nun reuigen, Auftragskillers zurückgewiesen. Giuseppe Graviano schweigt dazu eisern. Bis heute sind die Aussagen Spatuzzas Gegenstand von Untersuchungen. Eines der schwierigsten Kapitel der jüngsten italienischen Geschichte ist damit weiterhin offen. Und damit auch die Ermittlungen zu den Morden an Falcone und Borsellino.
Wie mächtig die Bosse sind – und vor allem waren –, zeigt die Geburt ihrer Kinder. Dem Storch gelang es sogar, die Gefängnismauern des Hochsicherheitstrakts zu überwinden. Beide Ehefrauen gebaren 1997 im Abstand von rund einem Monat in einer Privatklinik in Nizza ihre Kinder. Und das, obwohl beide Männer schon lange hinter Gittern saßen.
Der Wunsch, Carmela Iuculano kennenzulernen, war schwierig umzusetzen. Doch ich hatte mir in den Kopf gesetzt, dieser Frau zu begegnen, von der ich bereits so viel gehört hatte. Staatsanwälte haben mir mit Respekt von ihr erzählt, haben von einer Frau gesprochen, die „so ganz anders als die anderen ist“. Ein Treffen mit ihr war mir ein wichtiges Anliegen.
Aber Carmela Iuculano hat keine Adresse und keine Telefonnummer, unter denen sie erreichbar wäre. Die junge Frau lebt seit 2004 im Zeugenschutzprogramm der italienischen Polizei und damit unerkannt an einem unbekannten Ort.
Meine Anfrage bei der zuständigen Kommission wird positiv behandelt, aber der Gang durch die Institutionen ist lang und die bürokratischen sowie sicherheitstechnischen Hürden sind groß. Als ich endlich nach Monaten die definitive Zusage bekomme, muss ich nur noch warten, dass man mir Zeit und Ort nennt. Denn eines ist klar: Das Treffen muss geheim stattfinden, weit weg von ihrem eigentlichen und mir unbekannten Wohnort, um jegliche Gefährdung Carmelas zu vermeiden.
Auf dem Weg zu unserem Treffpunkt überlegte ich, wie die Justiz-Kollaborateurin, die Dutzende Mafiosi hinter Gitter gebracht hat, wohl sein werde. Ich stellte mir eine energische und harte Person vor und stehe plötzlich einer lächelnden Frau gegenüber, die meine eigene Befangenheit mit einem Schlag wegwischt. Ich könne fragen, was ich wolle, sagt sie mit einer tiefen, rauchigen Stimme, ich müsse nur die gesetzlichen Regeln einhalten. Keine Fragen zu laufenden Prozessen, bekräftigen die beiden sie begleitenden Polizisten. Und noch etwas: Auch Fotos sind nicht erlaubt. Eventuelle Tonaufnahmen müssen verzerrt werden. Nichts dürfe Rückschlüsse auf die reale Person ermöglichen.
Sonst sei sie gerne bereit, auf alles zu antworten, sagt Carmela, „auch wenn sie Tag für Tag darum kämpfe, die Mafia und Sizilien aus ihrem Kopf zu bekommen“. Lange habe sie überlegt, ob sie das Gespräch akzeptieren solle, denn die meisten Interviewanfragen lehne sie ab. Sie möchte jedoch aufzeigen, dass „ein anderes Leben“ möglich sei.
„Ich danke Gott, dass sie mich verhaftet haben“, bekräftigt Carmela. „Meine Festnahme sehe ich als ein Wunder, ja als Gnade an. Ich weiß, das klingt wie ein Widerspruch, aber die Verhaftung hat mir die Freiheit geschenkt; die echte und wahre Freiheit. Das war eine Chance, die mir das Leben geboten hat. Und es ist mir gelungen, sie zu ergreifen.“
Geboren wird Carmela am 6. Juni 1973 in Cerda, einem landwirtschaftlich geprägten Dorf mit 5000 Einwohnern in der Provinz Palermo. Nichts deutet bei ihrer Geburt auf ihren späteren Lebensweg hin.
Carmela ist die Tochter eines kleinen Bauunternehmers, der sich, obwohl aus sehr armen Verhältnissen kommend, einen „gewissen Wohlstand erarbeitet hat“. Den Vater erlebt sie als „dickköpfig und hart im Nehmen. Alles, was er sich vornahm, setzte er um.“ Sebastiano Iuculano war aber auch mutig, denn er ging seinen Weg abseits der allgegenwärtigen Mafia. Carmelas Vater war nie Mitglied des organisierten Verbrechens. An ihm orientiert sich die heranwachsende Tochter, die zu ihrem sechs Jahre älteren Bruder Giuseppe kein konfliktfreies Verhältnis aufbauen wird. Dem strengen Vater gehört ihre ganze Liebe, die selbst die Zuneigung zu ihrer Mutter in den Schatten stellt.
Carmela ist vierzehn Jahre alt und hat soeben die Pflichtschule mit ausgezeichneten Noten abgeschlossen, als das Ideawbild ihres Vaters tiefe Risse bekommt. Sie entdeckt, dass er ein außereheliches Verhältnis hat, und spioniert ihm sogar nach. Sie ist tief getroffen. Noch entsetzter ist sie, als sie merkt, dass die Mutter dies als gottgegeben hinnimmt. „Darüber spricht man nicht.“ Das Weltbild des jungen Mädchens gerät ins Wanken. Sie wird aufmüpfig und rebellisch.
Die Gelegenheit, es ihrem Vater heimzuzahlen, ergibt sich an einem heißen Sommerabend des Jahres 1989. Carmela befindet sich mit Freunden im öffentlichen Park ihres Heimatortes, als ein junger Mann zur Gruppe stößt. Zwischen den beiden entwickelt sich ein verbaler Schlagabtausch. „Das ist der Mann, der meinem Vater die Stirn bieten kann; die einzige Person, mit der ich ihn kränken kann“, schießt es ihr durch den Kopf. „Er kommt aus einer Familie, die mein Vater verabscheut, er ist der Typ Mann, den er nicht will.“ Die Begegnung mit dem fünf Jahre älteren Pino Rizzo, der einer in der Region wichtigen Mafia-Familie angehört, wird ihr Leben leidvoll bestimmen.
„Es war keine Liebe“, sagt sie heute, „er hat keinen besonderen Eindruck auf mich gemacht. Es war ein Akt der Auflehnung“, den sie mit allen Konsequenzen durchzog.
Es kommt, wie es kommen muss. Zuhause ist die Hölle los und dem Mädchen wird jeder Kontakt mit Pino verboten. Carmela bekommt Hausarrest und darf das elterliche Heim nur mehr für den Schulbesuch verlassen. Doch eines Tages braucht die Mutter sie für einen Botendienst und schickt sie zum Haus der Großmutter. Auf dem Weg dorthin begegnet ihr Pino Rizzo. In wenigen Minuten beschließen sie eine fuitina, die in Sizilien in den 1980er-Jahren immer noch typische „Liebesflucht“, mit der ein Pärchen die Eltern vor vollendete Tatsachen stellt. Das einzige Mittel, um die verlorene Ehre der Frau wiederherzustellen und die „Schande“ damit zu tilgen, ist in diesem Fall die Hochzeit.
Die beiden sind nur ein paar Stunden untergetaucht, da werden sie bereits von Pinos Onkel Rosolino aufgespürt. Als Versteck hatte Pino ein verlassenes Haus seines Vaters gewählt, der bereits seit einiger Zeit im Untergrund lebte. Das Mädchen wird zurück nach Hause gebracht, wo die Mutter weint und der Vater tobt. Erst später erfährt sie, dass ihr Vater sie gesucht hat, von einem weiteren Onkel Pinos jedoch mit der Waffe zur Umkehr gezwungen worden ist. „Es sei alles bereits geregelt“, schärfte er Sebastiano Iuculano ein.
Am darauffolgenden Tag besiegeln beide Familien die offizielle Verlobung. Pinos Onkel Rosolino, ein ortsbekannter Mafia-Boss, schärft der frisch Verlobten die nun geltenden Verhaltensregeln ein. Regel Nummer eins: Sie darf das eigene Haus ausschließlich in Begleitung ihres zukünftigen Mannes oder eines engen Verwandten verlassen. Carmela spürt deutlich, wie ihre Familie unter Druck gesetzt wird. Nur in einem Punkt setzt sich Sebastiano Iuculano durch: Seine Tochter, die seit zwei Jahren erfolgreich eine Handelsschule besucht, muss weiter in den Unterricht gehen.
Doch die Konflikte zwischen Brautvater und zukünftigem Schwiegersohn spitzen sich schon in den ersten Tagen zu. „Mein Vater hat sich nicht an den Pakt gehalten. Er wollte diese Ehe verhindern“, erinnert sich Carmela. Die Nerven liegen bald bei allen blank. Pinos Familie droht, das Mädchen offiziell abzulehnen. Vater Sebastiano greift zum Äußersten und verweigert seiner Tochter sogar den von ihm selbst erwünschten Schulbesuch. Carmela wird zur Gefangenen im eigenen Haus. Ihr Zimmer darf sie nur für die Mahlzeiten verlassen und um ins Badezimmer zu gehen.
„Ungefähr einen Monat nach unserer Verlobung haben wir daher eine zweite fuitina gemacht“, erzählt Carmela. „Das ganze Dorf wusste über unsere erste ‚Liebesflucht‘ Bescheid und alle gingen davon aus, dass wir Sexualverkehr gehabt haben. Damit hatte ich keine andere Wahl mehr, als zu heiraten. Ich wäre sonst ‚ehrlos‘ gewesen. Eine Frau, die noch dazu von einem Mafioso entehrt worden ist. Das hätte gereicht, um für immer punziert zu sein. Kein anderer Mann hätte sich mir jemals genähert.“ Carmela fühlt sich in der Falle und wählt die Flucht nach vorne.
Im Dezember 1989 organisiert das junge Paar also eine richtige Flucht. Carmela entweicht über die Dachterrasse ihres Hauses, ein Cousin ihres Mannes bringt das Paar nach Trabia, ein Dorf in der Nähe von Cerda. Dort verbringen sie einige Tage allein in einem abgelegenen Haus, anschließend übersiedeln die beiden zu Pinos Großmutter. Nun ist „die Ehe“ in den Augen der dörflichen Gemeinschaft auch ohne offiziellen Trauschein „vollzogen und gültig“. Vollzogen ist auch der Bruch mit der eigenen Familie, die den „Ehemann“ und seine Herkunft ablehnt. Der Vater ist außer sich: „Ich habe nur dich als Tochter. Ich würde dich lieber hinter Klostermauern sehen, als mit diesem Mann verheiratet zu wissen.“
Wenige Wochen später bezieht Carmela mit Pino eine eigene Wohnung. In Wirklichkeit wechselt sie nur „in ein anderes Gefängnis“. Ihr Mann gibt ihr schon bald den wahren Grund für sein Interesse an ihr zu verstehen: Er wollte in eine wohlhabende und unverdächtige Familie einheiraten. Die junge Frau selbst ist ihm hingegen gleichgültig, auch sexuell sei sie unerfahren und daher uninteressant.
Bereits zu Beginn ihres Zusammenlebens zeigt Pino sein wahres Gesicht. Er schlägt und demütigt sie. Carmela beginnt an Essstörungen zu leiden und denkt immer öfter an Selbstmord. Mitten in einer schweren Depression entdeckt die knapp Siebzehnjährige, dass sie schwanger ist. Neue Hoffnung keimt in ihr auf, doch ein Arztbesuch dämpft die Freude. Sie muss die gesamte Schwangerschaft im Bett verbringen und wird immer wieder tageweise ins Krankenhaus eingeliefert. In diesen schwierigen Wochen bemerkt sie, dass ihr Mann fremdgeht. Pino ist fast nie zuhause. Auch die Geburt der Tochter Daniela im Juni 1991 verbessert die Situation des Ehepaares nicht. Im Gegenteil. Ihr Mann ist kälter denn je.
Trotzdem heiraten die beiden am 14. September 1991 in der Kirche ihres Heimatortes. Ein schweres Gewitter geht plötzlich über dem Ort nieder. Blitze schlagen ein und alle Lichter gehen aus. Wie ein Fingerzeig des Schicksals legt sich die Dunkelheit über die Hochzeitsgesellschaft. Als das Licht wieder angeht, wird das Paar getraut und die kleine Tochter getauft. Erst später wird Carmela, die immer noch keine konkrete Vorstellung von der Mafia hat, erkennen, dass Pinos Trauzeuge ein Mafioso war.
Ab diesem Zeitpunkt ordnet sie auch andere Erinnerungen neu ein. So wie eine Einladung, knapp nach ihrer ersten fuitina, zur Taufe der Tochter von Pinos Onkel Rosolino. „Da war ich noch so jung. Und ich verstand so vieles nicht“, erzählt Carmela heute. „Ich erinnere mich aber noch gut daran, dass es bei der großen Feier einen Tisch gab, an dem verschiedene Männer saßen, die weder gefilmt noch fotografiert werden durften.“ Einer dieser Männer war ein hochrangiger Boss der Corleone-Mafia sowie Intimus von Bernardo Provenzano. „Das war Nino Giuffrè. Das habe ich aber erst später erkannt, als ich sein Foto in Zeitungen sah. Pino hat diese Episode gegenüber der Polizei immer geleugnet, aber ich weiß, dass er Giuffrè während dessen Zeit im Untergrund persönlich betreut hat. Er hat mir ja sogar Grüße ausrichten lassen.“
Nur ganz langsam entdeckt die junge Ehefrau das Doppelleben ihres Mannes, der offiziell bei der ESA, der Agrar-Entwicklungsbehörde Siziliens, teilzeitbeschäftigt ist, gleichzeitig aber für die Mafia arbeitet. Am Anfang ist es vor allem der Zufall, der ihr in die Hände spielt.
1994 ist Carmela wieder schwanger und sie leidet an den gleichen Symptomen wie beim ersten Mal. Der Arzt verordnet auch diesmal absolute Bettruhe. Ihre Mutter will sie unterstützen und kommt daher regelmäßig, um den Haushalt der Tochter zu betreuen. Sie kümmert sich um die Wäsche, spült das Geschirr und reinigt die Böden. Als gute Hausfrau ist sie gewöhnt, gründlich zu putzen, und so fährt sie eines Tages mit dem Besen tief unter eine mobile Bar, die sich im Wohnzimmer befindet. Dabei stößt sie auf einen harten Gegenstand. Sie bückt sich und zieht ein Paket hervor, das sie mit ihrer Tochter öffnet: Vor den Augen der beiden entsetzten Frauen liegen verschiedene Waffen.
Eine ähnlich erschreckende Entdeckung macht Carmela wenige Tage später. Als der Spülkasten im WC nicht richtig funktioniert, öffnet sie ihn, um die Ursache für die verstopfte Leitung herauszufinden. Der Grund für den geringen Wasserfluss liegt gut sichtbar vor ihr: ein mit Isolierbändern wasserdicht verschlossenes Päckchen. Carmela hat nicht den Mut, es zu entfernen, doch am Abend stellt sie ihren Mann zur Rede. Zuerst leugnet er alles, dann droht er ihr: Sie und ihre Mutter müssten den Mund halten, sonst würde etwas Schlimmes passieren. Und das Päckchen im Spülkasten? „Das war die für die Waffen nötige Munition.“
Carmela begräbt all ihre Hoffnungen, ihr Mann könnte doch anders als sein Vater und sein Onkel sein. Nun beginnt sie ihm offen zu misstrauen. Er wiederum kontrolliert sie strenger denn je. Pino bewacht sie buchstäblich Tag und Nacht. „Ich habe die Angewohnheit, im Schlaf zu sprechen. Auch heute noch. Aber damals wollte mir mein Mann dies mit Gewalt austreiben“, sagt sie. „Er schlug mir so lange auf den Mund, bis ich aufwachte. Manchmal so fest, dass ich blutete. Als Grund gab er an, ich könnte – sollte ich eines Tages in ein Krankenhaus eingeliefert werden, wo man das Zimmer mit anderen Personen teilt – Geheimnisse verraten.“
Pinos Wunsch, einen Sohn zu bekommen, erfüllt sich auch diesmal nicht. Die zweite Tochter, Serena, wird geboren. „Auch dass wir nur Töchter hatten, warf er mir vor. Wann immer etwas nicht so funktionierte, wie er es sich vorgestellt hatte, war es meine Schuld.“ Einen „ganz großen Schock“ erlebt Carmela, als ihr Mann plötzlich verhaftet wird. „Beim ersten Mal war das ein richtiges Trauma. Ab diesem Zeitpunkt habe ich mich zu fragen begonnen, wer er wirklich sei. Vorher war ich wie in Trance, aber ab diesem Zeitpunkt stellte ich richtige Nachforschungen an. Aber je mehr ich nachforschte, desto größer wurde meine Angst.“
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