Kitabı oku: «Sie packen aus», sayfa 2
Rita
Vier Monate nach der Ermordung Nicolas trifft Pieras Schwägerin Rita in Rom ein. Als sie Rita kennenlernte, war die Schwester ihres zukünftigen Mannes erst sieben Jahre alt. Jetzt hat »die Kleine« beschlossen, in Pieras Fußstapfen zu treten. Auch sie will mit der Justiz zusammenarbeiten und unter Polizeischutz leben. »Wir waren nicht einfach Schwägerinnen, wir waren Freundinnen. Wir haben einander alles anvertraut.«
Rita war elf Jahre alt, als ihr Vater Vito erschossen wurde. Nun hat sie auch den Bruder verloren und ihre Schwägerin ist de facto verschwunden. So vertraut sich die 17-Jährige ebenfalls Staatsanwalt Paolo Borsellino an. Sie hat wie Piera lange Zeit ein Tagebuch geführt, das sie Zio Paolo, also Onkel Paul, wie sie ihn später nennen wird, übergeben will. Er wird für Rita zur zentralen Figur in ihrem Leben als Kronzeugin.
Der persönliche Preis für diesen mutigen Schritt ist hoch. Das ohnehin schwierige Verhältnis zur Mutter endet mit einem völligen Bruch der Beziehung. Rita wird von ihr verstoßen. Die eigene Mutter sagt sich von ihr los und ist sogar bereit, die »abtrünnige Tochter« – ihr jüngstes Kind – umbringen zu lassen. Doch Rita lässt sich, genau wie Piera, nicht beirren. Sie will nicht nur Vater und Bruder rächen, sie will ein ganzes System aufdecken. Beide Frauen legen schonungslos alles auf den Tisch und geben Namen, Fakten und Zusammenhänge preis.
»Ich möchte nicht in Details gehen, selbst wenn viel Zeit vergangen ist und die Prozesse abgeschlossen sind«, sagt Piera Aiello, »aber es ging um sehr schwerwiegende Verbrechen. Es ging um Drogen- und Waffenhandel. Und vor allem ging es um die mafiösen Verflechtungen in der Gesellschaft.«
Dank ihrer Aussagen erhalten die Ermittler erstmals Einblick in den blutigen Mafiakrieg in Partanna, der rund 30 Todesopfer gefordert hat. Mehrere Mafiosi landen hinter Gittern. Doch vor allem kann die Justiz nun Verstrickungen zwischen der Cosa Nostra und der Politik nachverfolgen. Ein Grundproblem, das das Land bis heute beschäftigt.
Am 23. Mai 1992 erschüttert ein Attentat ganz Italien. Der Mafiajäger Giovanni Falcone wird mit seiner Frau und drei Leibwächtern ermordet. Ein auf der Autobahn deponierter Sprengsatz von 500 Kilo TNT reißt einen riesigen Krater in die Fahrbahn. Die Detonation ist weit über Palermo hinaus zu spüren und wird im ersten Augenblick als Erdbeben interpretiert.
Knapp zwei Monate später rüttelt eine weitere Explosion das ganze Land auf. Falcones Freund und Mitstreiter Paolo Borsellino wird vor dem Haus seiner Mutter in die Luft gesprengt. Eine in einem Auto versteckte Bombe reißt weitere fünf Menschen in den Tod. Unter ihnen ist auch Emanuela Loi, die erste und bisher einzige Leibwächterin, die einem Mafiaanschlag zum Opfer gefallen ist.
Der Tod der beiden Juristen bedeutet einen schweren Schlag für den Kampf gegen die Mafia, aber auch für Piera und Rita persönlich. Ihre wichtigste Bezugsperson, die einzige, der sie wirklich vertrauten und die sie schützte, ist tot. Rita fällt in eine tiefe Depression. Nur eine Woche nach der Ermordung von Zio Paolo springt die junge Frau, die gerade aus Sicherheitsgründen in Rom eine neue Wohnung bezogen hat, in den Tod. Sie wirft sich vom siebten Stock eines Gebäudes in die Tiefe. Wenige Tage später wäre Rita 18 Jahre alt geworden.
Die Nachricht von ihrem Tod wird von den Insassen im Gefängnis von Trapani mit einem langen Applaus aufgenommen. Nach dem Begräbnis wird Ritas Mutter mit einem Hammer das Foto auf dem Grabstein ihrer Tochter zerschlagen und dafür verurteilt werden. Das Band der Mafia erweist sich einmal mehr als stärker als das der Liebe zur eigenen Familie.
Piera selbst kann nicht am Begräbnis teilnehmen. »Aus Sicherheitsgründen«, wie man ihr erklärt. Für sie beginnen nun lange, schwierige und teilweise sehr einsame Jahre, eine Erfahrung, die sie heute in ihre Arbeit als Parlamentarierin einfließen lässt. »Als ich mich zur Zusammenarbeit mit der Justiz entschloss«, sagt sie, »wusste ich gar nicht, was eine Kronzeugin eigentlich ist und worauf ich mich einlassen würde.« Erst später lernt sie, dass es auch Justizkollaborateure gibt, sogenannte reuige Mafiosi, die ebenfalls im Zeugenschutzprogramm und daher mit einer falschen Identität leben.
Das prekäre Leben als Kronzeugin
Schon bald beginnt sie sich aus dem Untergrund heraus zu engagieren und wird Teil des Nationalen Verbandes der Kronzeugen. »Mit einer Gruppe von ihnen regte ich zwei Gesetze an, die auch angenommen wurden. Kronzeugen wurde damit endlich die Möglichkeit gegeben, zu arbeiten. Wir waren ja gezwungen, 24 Stunden am Tag zu Hause zu sein. Sich sein Brot ehrlich verdienen zu können, ist aber eine Frage der Würde. Wir hatten ja alles verloren. 2001 konnte ich außerdem dazu beitragen, dass der Gesetzgeber zwischen Kronzeugen und Justizkollaborateuren unterscheidet.« Unterstützt wurde sie bei diesen Bemühungen auch von Paolo Borsellinos Schwester, die ebenfalls Rita heißt.
Heute ist Piera Aiello Mitglied der Parlamentarischen Anti-Mafia-Kommission sowie der Justizkommission. In dieser Funktion macht sie sich vor allem für die Kinder von Zeugen stark, die ebenfalls im Untergrund leben. »Man muss sich um die Familien kümmern«, fordert sie vehement. »Nicht nur um die Kronzeugen und Justizkollaborateure. Kinder müssen oft auf eine höhere Ausbildung verzichten, da die finanziellen Möglichkeiten während des Schutzprogrammes nicht gegeben sind.« So werden sie ein zweites Mal Opfer ihrer Lebensumstände, auf die sie selbst keinen Einfluss haben.
Piera Aiello lässt die Jahre Revue passieren. Vieles gehört geändert, ist sie überzeugt. »Man bringt mit seinen Aussagen die Schuldigen hinter Gitter, aber man lebt selbst wie im Gefängnis.« Die ständigen Wohnungswechsel sowie die permanente Gefahr, gefunden zu werden, zermürben. Einmal, erinnert sie sich, wurde ihr Aufenthaltsort durch die Unachtsamkeit eines Sicherheitsbeamten verraten. Die Angst steckt ihr heute noch in den Knochen.
Dieses prekäre Leben hat auch das Verhältnis zu ihrer Tochter getrübt. Erst seit einigen Jahren hat sich die Beziehung entspannt, sagt sie glücklich. »Seit meine Tochter selbst Mutter ist, kann sie die Schwierigkeiten verstehen, mit denen ich zu kämpfen hatte.«
Und warum hat sie sich der Fünf-Sterne-Bewegung angeschlossen?, möchte ich von ihr wissen. »Weil es unter ihnen keine Politiker gibt, gegen die ermittelt wird. Anders als oft in anderen Parteien.« Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und soziales Engagement sind ihre Eckpfeiler. Als onorevole, als Frau Abgeordnete, will sie übrigens nicht angesprochen werden. »Ich sehe mich gar nicht als Politikerin«, sagt sie lächelnd, »ich bin einfach nur eine Frau aus dem Volk.«
Und als solche setzt sie sich intensiv für die Abschaffung der in Italien üblichen Leibrente für Politiker ein. »Warum muss ein Abgeordneter oder ein Senator eine riesige Pension bekommen? Während ein Maurer wie mein Vater, der jahrzehntelang hart geschuftet hat, nur einen Bruchteil erhält?«
Piera Aiello weiß, wovon sie spricht. Als Kronzeugin hatte sie drei Jahre vergeblich versucht, einen Job zu bekommen. Dann ging sie als Landarbeiterin aufs Feld und hat Tomaten, Orangen und Oliven geerntet. »Das bedeutete, um 3 Uhr aufzustehen und sich Wind und Wetter auszusetzen.« Politiker hätten ein sehr privilegiertes Leben, ist sie daher überzeugt. Dass sie sich damit bei ihren Parlamentskollegen nicht besonders beliebt macht, ist Piera Aiello egal. Der Kampf gegen die Mafia habe sie stark gemacht.
Von der BBC ist Piera Aiello 2019 in die Liste der 100 einflussreichsten Frauen der Welt aufgenommen worden.
Die Mafia-Fotografin
LETIZIA BATTAGLIA
Der Name war ihr gleichsam schicksalhaft in die Wiege gelegt. Darauf hatte sie keinen Einfluss. Doch dann hat sie ihn bewusst ein ganzes langes Leben leidenschaftlich und überzeugt mit Inhalten ausgefüllt.
Battaglia heißt Schlacht und Kampf, und gekämpft hat die heute 85-Jährige an vielen Fronten. Der wohl wichtigste Kampf hat ihr den Beinamen »Mafiafotografin« eingebracht. Ihre beeindruckenden und tiefgründigen Aufnahmen aus der Zeit des »Zweiten Mafiakrieges« sind bis heute rare Dokumente, die einen einzigartigen Blick in die blutgetränkte Welt der Cosa Nostra ermöglichen und das Leben in Sizilien aufzeigen. Es sind Fotos, die oft mehr über das organisierte Verbrechen und dessen krakenartige Verbreitung in der Gesellschaft aussagen als manche Gerichtsakten.
Auf ihre Tätigkeit als »Chronistin der Mafia« will Letizia Battaglia jedoch nicht reduziert werden. »Ich bin keine klassische Mafiaexpertin«, sagt sie mit ihrer charakteristischen rauen Stimme. »Ich habe es mir nicht ausgesucht, diesen Krieg zu fotografieren und zu dokumentieren. Anders als ein Kriegsfotograf, der sich bewusst für einen Schauplatz entscheidet, wollte ich einfach nur meine Arbeit als Fotografin verrichten. Es lag nicht in meiner Absicht, Tragödien zu begleiten. Aber ich befand mich in Palermo.«
An ihr erstes »Mafiafoto« erinnert sie sich, als wäre es soeben geschossen worden. Es war tiefe Nacht und sie befand sich mitten auf dem Schauplatz. Ein Mann lag leblos unter einem Olivenbaum. Es war Letizia Battaglias erste Leiche, der erste Ermordete einer langen Reihe, die ihre Arbeit als Fotoreporterin prägen würden. »Ich stand dort und redete mir ein: Wenn ich nur ein wenig warte, dann beginnt er sich zu bewegen. Ich hatte ja noch nie jemanden gesehen, der tot vor mir auf der Erde liegt. Ich konnte einfach nicht akzeptieren, dass es normal sein sollte, Menschen umzubringen. Und heute kann ich nur sagen: An all diese Gewalt gewöhnt man sich nie!«
Es waren bürgerkriegsähnliche Zustände, die Sizilien in den 1970er und 1980er Jahren im Würgegriff hielten. Der Kampf um die Vorherrschaft zwischen den etablierten Mafiafamilien Palermos und den aufstrebenden Mafiosi aus der Kleinstadt Corleone wurde mit äußerster Brutalität geführt.
Bis zu eintausend Tote soll dieser Konflikt gefordert haben. Die wirkliche Zahl bleibt auch heute noch im Dunkeln. Menschen wurden auf offener Straße erschossen, in militärische Hinterhalte gelockt oder Opfer der sogenannten lupara bianca, des »weißen Jagdgewehrs«. Dieses ist in Mafiakreisen ein Synonym für den perfekten Mord. Die Logik dahinter ist so pervers wie einfach: Es gibt kein Blut, weil es keine Leiche gibt. Die Mörder lassen ihre Opfer spurlos verschwinden. Sie mauern die Leichname auf einer der vielen Baustellen der Stadt ein oder lösen sie in Säure auf. So verlieren sich die Spuren der Ermordeten und mögliche belastende Indizien tauchen erst gar nicht auf. Die Hinterbliebenen können nicht einmal um ihre Familienmitglieder trauern. Was bleibt, sind nie enden wollende Zweifel über das Schicksal ihrer Angehörigen und eine meist stumme Verzweiflung.
Letztlich gingen die Corleonesi aus diesem Krieg als Sieger hervor und etablierten ein neues, noch blutrünstigeres Regime als ihre Rivalen. Darüber hinaus begannen die von den palermitanischen Mafiabossen verächtlich als Bauern bezeichneten Corleonesi unter der harten Hand von Salvatore Riina einen regelrechten Feldzug gegen den Staat. Ihren mörderischen Aktivitäten fielen daher nicht nur Mitglieder verfeindeter Familien zum Opfer, sondern auch zahllose Vertreter der Zivilgesellschaft. Viele berühmte Todesopfer gehen auf ihr Konto: Politiker, Richter, Journalisten und Militärangehörige, wie General Carlo Alberto Dalla Chiesa, der als Polizeichef nach Sizilien geschickt worden war, um den Ausnahmezustand zu beenden. 1982 starb er mit seiner jungen Frau unter dem Kugelhagel eines Todeskommandos auf offener Straße. »Was wir erlebt haben«, sagt Letizia Battaglia, »ist eine kollektive Tragödie.«
Der Hunger nach Freiheit
Das Licht der Welt erblickte Letizia Battaglia am 5. März 1935. Palermos blühende Jahre mit ihren auch außerhalb Siziliens bekannten Jugendstilbauten waren da bereits Vergangenheit. Nun prägte das faschistische Regime nicht nur die Architektur der Stadt, sondern auch den gesamten Alltag der Bevölkerung. Im Zweiten Weltkrieg kam Sizilien, und damit auch seiner Hauptstadt, eine besondere Rolle zu. Hier landeten die alliierten Kräfte im Sommer 1943, um den Nazifaschismus, vom Mittelmeer kommend, zu bekämpfen. Palermo wurde vom US-amerikanischen General George Smith Patton und seinen Truppen besetzt. Dieser Operation Husky genannten, größten amphibischen Offensive des Zweiten Weltkrieges waren monatelange schwere Bombardements vorausgegangen. Palermo sollte sich von diesen Schäden jahrzehntelang nicht erholen.
Das Mädchen Letizia erlebte seine Kindheit aber weiter nördlich. Der Vater war aus beruflichen Gründen mit der Familie nach Triest gezogen. Dort war sie glücklich, sagt sie heute. Und glücklich bedeutet für sie, frei zu sein. In Triest habe sie gelernt, was Freiheit bedeute. Sie hatte Freundinnen und Freunde, spielte im Freien, fuhr mit dem Fahrrad durch die Parks und studierte die Natur. All das sollte sich radikal ändern, als die Familie wieder nach Palermo zurückging. Die Gepflogenheiten in Sizilien seien anders, erklärten die Eltern. Mädchen dürften nicht im Freien spielen.
Letizia versuchte sich anzupassen, doch dann veränderte ein Vorfall ihr unbeschwertes Leben für immer. Zehn Jahre war sie damals alt und auch heute erinnert sie sich noch genau an jenen fernen Tag. Ein unbekannter Mann hatte sie belästigt. »Er hatte sich vor mir entblößt. Danach hat mich mein Vater zu Hause eingeschlossen.«
Diese Erfahrung wird für sie ein Wendepunkt in ihrem Leben. Ein Schlüsselerlebnis, das die Entwicklung des aufgeweckten und sensiblen Mädchens nachhaltig prägt. »Ich war ein unschuldiges Kind und habe gar nicht verstanden, was da vorgefallen war. Ich hatte mich aber sehr erschrocken und alles meinen Eltern erzählt. In der Folge haben sie jedoch mehr Schaden angerichtet als dieser Mann. Denn sie haben mich meiner Freiheit beraubt. Und das hat mein ganzes Leben bestimmt.«
Letizia Battaglia rebelliert wie viele andere ihres Alters und ihrer Herkunft: Sie tritt noch ganz jung die Flucht nach vorne an und vertauscht den Käfig des Elternhauses mit dem einer Ehe. »Schuld daran war mein großer Hunger nach Freiheit. Ich habe geheiratet, um mich von meinem Vater zu befreien. Das war natürlich eine Dummheit.«
16 Jahre ist Letizia erst alt, als sie vor den Traualtar tritt. Ihr um einiges älterer Mann wird ihr nicht den Freiraum gewähren, den sie sich erhofft hat. Der reiche Erbe einer Unternehmerfamilie erweist sich als nicht weniger autoritär und besitzergreifend als ihr Vater. Er erstickt ihre Wünsche nach einer möglichen Weiterbildung im Keim. Letizia darf weder studieren noch arbeiten. Die Vorstellungen der Eheleute von der Rolle einer Ehefrau liegen weit auseinander und erweisen sich auch nach 20 Jahren des Zusammenlebens noch als unvereinbar. Während ihrem Mann eine traditionelle Hausfrau und Mutter vorschwebt, droht sie selbst an diesem Modell zu ersticken.
Aus der Ehe gehen drei Töchter hervor, auf die sie sehr stolz ist. Die ihr aufgezwungene Rolle einer sizilianischen Gattin macht Letizia jedoch krank. Psychisch und physisch. Nach einem Nervenzusammenbruch und einer längeren Psychoanalyse nimmt Letizia Battaglia ihr Leben selbst in die Hand. Sie trennt sich von ihrem Mann. Die drei Kinder nimmt sie mit.
1971, kurz nachdem in Italien die Scheidung möglich geworden ist, wird die Ehe geschieden. Die 36-jährige Letizia Battaglia verlässt zum zweiten Mal ihre Insel und geht nach Mailand.
In der pulsierenden lombardischen Hauptstadt beginnt sie ganz von vorne. Sie schreibt Artikel, die sie verschiedenen Zeitungen anbietet. Von Mailand aus sucht sie auch die Zusammenarbeit mit der sizilianischen Tageszeitung L’Ora. Das im Jahr 1900 von der Industriellenfamilie Florio gegründete Blatt zählte nach dem Zweiten Weltkrieg zu den linken Medien des Landes und widmete sich verstärkt dem investigativen Journalismus. L’Ora war auch die einzige Zeitung, die es wagte, detaillierte Berichte über die Mafia zu veröffentlichen. Doch in Mailand geht es Letizia Battaglia um andere Themen. Hier in der Wirtschafts- und Designmetropole des Landes kommt sie mit einer für sie neuen Welt in Berührung: Sie lernt Künstler und Intellektuelle kennen und arbeitet nun als freischaffende Kulturkorrespondentin. In dieser Zeit begegnet sie auch einem 18 Jahre jüngeren Mann. Sie verlieben sich und er wird viele Jahre ihr Arbeits- und Lebenspartner sein.
Franco Zecchin, der sich mit Kernphysik beschäftigt, geht bald darauf mit ihr nach Sizilien. In Palermo schlägt nun für beide die Stunde der professionellen Fotografie. »Ich habe 1974 nach meiner Rückkehr aus Mailand bei der Zeitung L’Ora begonnen. Da war gerade wieder der Mafiakrieg zwischen Corleone und Palermo ausgebrochen.«
Immer öfter wird Letizia Battaglia nach Bildern zu ihren Geschichten gefragt. Bilder, die sie zu diesem Zeitpunkt nicht liefern kann. So nähert sie sich mit fast 40 Jahren der Fotografie an und entdeckt das Foto als ideale Ausdrucksform, um all das Grauen und Leid, das sie miterlebt, auch abseits von Worten vermitteln zu können.
Letizia Battaglia wird so die erste Fotoreporterin einer Tageszeitung in Sizilien. »Die Arbeit für ein täglich erscheinendes Blatt ist ganz anders als die für eine Monatszeitschrift«, sagt die Autodidaktin, als sie an ihre Anfangsschwierigkeiten zurückdenkt. »Für das Tagesgeschäft arbeiten heißt, im Moment agieren, denn sonst ist die Gelegenheit vorbei.«
Am Tatort
Eines ihrer wohl bekanntesten Fotos ist genau so entstanden: aus der Intuition heraus und spontan. Wenn Letizia Battaglia davon erzählt, spürt man, wie sie selbst tief in die Geschichte eintaucht. »Es geschah am 6. Januar 1980«, beginnt sie. »Es war ein wunderschöner Sonntag und noch dazu der Dreikönigstag, der in Italien ja sehr gefeiert wird. Franco und ich waren mit meiner Tochter Patrizia in einen Park gegangen. Dort haben wir, wie so oft, in der Bar geplaudert und uns über unsere Projekte ausgetauscht. Wir waren alle sehr entspannt und sind einige Zeit später zu unserem Auto zurückgegangen.« Die drei steigen in fröhlicher Stimmung in ihren Fiat 600, um zum Mittagessen nach Hause zu fahren. Kurz darauf nehmen sie in der eleganten Via della Libertà am Straßenrand ein Auto wahr, um das sich einige Menschen drängen. »Es waren ungefähr sechs, sieben Personen. Im ersten Augenblick dachten wir, da hat jemand einen Autounfall gehabt, und wollten einfach weiterfahren.« Doch irgendetwas kommt ihnen sonderbar vor. Sie halten an und greifen zu ihren Fotoapparaten. »Vor unseren Augen hat sich eine dramatische Szene abgespielt. Eine Frau weinte, eine andere schrie und im Auto selbst lag ein lebloser Mann. Ein zweiter Mann versuchte ihn aus dem Inneren des Wagens zu ziehen.« Wie automatisch schießt Letizia Battaglia »einige verwackelte Fotos« und friert damit diese aufwühlenden Momente für immer ein.
»Wir haben die Aufgabe, bis zum Schluss zu kämpfen, um so das Beste für die Gesellschaft zu erreichen.«
LETIZIA BATTAGLIA
»Ich wusste nicht, wer die Menschen waren. Aber schon kurz darauf erfuhr ich, auf wen hier geschossen worden war: Es war der Präsident der Region Sizilien. Das war ein Riesenschock für uns alle.«
Der 44-jährige Piersanti Mattarella, bekannt für seinen klaren Anti-Mafia-Kurs, stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Sein Mörder hatte den Zeitpunkt genau kalkuliert. Der christdemokratische Regionalpräsident war im Begriff, mit seiner Familie zur Messe zu fahren. Dabei wollte er möglichst unauffällig sein und hatte seinen Leibwächtern daher freigegeben. Piersanti Mattarella war gerade in sein Fahrzeug eingestiegen, als der Killer an die Fensterscheibe trat und auf den wehrlosen Politiker schoss. Die Kugeln trafen den Regionalpräsidenten in den Kopf, in die Brust und den Bauch. Piersanti Mattarella hatte keine Chance, dieses Attentat zu überleben. Die Cosa Nostra tötete damit einen ihr unbequemen, weil reformfreudigen und kritischen Juristen und Zentrumspolitiker, einen Schüler des ebenfalls ermordeten Ministerpräsidenten Aldo Moro, und traf gleichsam ein Symbol staatlicher Autorität.
Die erste »fremde Person am Tatort« ist Letizia Battaglia. »Wir hatten unfreiwillig eine Sensationsnachricht geliefert. Denn zu diesem Zeitpunkt war außer uns niemand von der Presse vor Ort.« Das bedrückende Foto macht in Windeseile in ganz Italien die Runde.
Dreieinhalb Jahrzehnte später taucht dieser Schnappschuss wieder auf und eine zweite Betrachtungsebene wird deutlich. »Denn der Mann, der den leblosen Piersanti Mattarella aus dem Auto zieht und ihm Erste Hilfe leistet, ist heute der Präsident der Republik Italien.« Piersantis um sechs Jahre jüngerer Bruder Sergio Mattarella wird 2015 vom Parlament zum Staatspräsidenten gewählt.
Über das Attentat, bei dem auch seine Schwägerin verletzt worden ist, spricht der zurückhaltende frühere Universitätsprofessor so gut wie nie. Es ist jedoch ein offenes Geheimnis, dass sein Eintritt in die Politik mit jenem tragischen Dreikönigstag zu tun hat. Denn bald darauf schließt sich Sergio Mattarella ebenfalls der Democrazia Cristiana an. 1983 wird er erstmals in das Abgeordnetenhaus gewählt. Wie sein Bruder zählt auch er zum linksorientierten Flügel der DC.
»Dieses Foto«, sagt Letizia Battaglia heute, »hat also eine doppelte Bedeutung. Das zeigt mir, dass die Fotografie nicht nur für mich persönlich wichtig ist, sondern für die Gesellschaft an sich. Sie kann zu ihrem Gedächtnis werden. Wenn ich heute Jugendliche treffe, die von all dem, was damals geschehen ist, keine Ahnung haben, lernen sie Geschichte auch dank meiner Fotografien.«
Letizia Battaglias Weg als Pressefotografin war jedoch mit vielen Steinen und Vorurteilen behaftet. »Die Arbeit in jenen Jahren war ohnehin hart und auch persönlich sehr belastend«, betont sie, wenn ich sie auf ihre internationale Bekanntheit als Starfotografin anspreche, aber für eine Frau, fügt sie dann hinzu, sei das damals noch schwieriger gewesen als für einen Mann. »Anfangs hat mich die Polizei oft vom Tatort verwiesen. Sie ließen mich einfach nicht durch. Aber auch Kollegen oder andere Leute sahen mich mit Unverständnis an. Ich wurde wie ein kleines Dummchen behandelt, das mit einem Fotoapparat herumläuft, um sich damit wichtigzumachen.«
Es habe Jahre gedauert, doch dann hatte sie sich den nötigen Respekt gesichert. »Heute anerkennen die Leute in Palermo die Arbeit, die ich gemacht habe, und ich kann sagen, sie lieben mich sogar«, lacht sie und fügt, noch immer kämpferisch, hinzu: »Ich habe mir einfach nichts mehr gefallen lassen.«
Letizia Battaglias Arbeit war kräfteraubend. Die »schnell geschossenen Pressefotos« waren die Frucht großer Anstrengung, zieht die frühere Fotojournalistin heute Bilanz. 19 Jahre – so lange arbeitete sie als Pressefotografin – musste sie ununterbrochen präsent sein. »Tag und Nacht, Sonn- und Feiertage, Karneval inklusive: Es gab keine Verschnaufpausen.«
Letizia Battaglia hörte den Polizeifunk ab, war oft die Erste am Tatort und fotografierte die Opfer der Cosa Nostra und deren Angehörige. Dann ging es in die eigene Dunkelkammer, die Fotos wurden entwickelt und veröffentlicht.
Schon bald war ihr klar: Sie hatte sich, ohne es zu wollen, definitiv dem Kampf gegen die Mafia verschrieben, und als Fotografin tat sie das mit einer unverwechselbaren Handschrift: Sie fotografierte ausschließlich in Schwarz-Weiß. So konnte sie mehr Tiefe und Ausdruck erreichen, ist sie überzeugt, und gleichzeitig jenen respektvollen Abstand wahren sowie die menschliche Anteilnahme garantieren, die ihr bei ihrer Arbeit immer so wichtig gewesen sind. »Technisch war ich nie sehr begabt«, sagt sie auch heute noch, »der Ausschnitt, die Schärfe, das Licht, all das hat mich sehr gefordert. Wenn man dann noch die Emotionen hinzudenkt, die man empfindet, die zitternde Hand angesichts von Tod und Verzweiflung …«
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