Kitabı oku: «Besondere Zeiten», sayfa 2

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Der Käfig
Sabine Riedel

Die Tür fiel quietschend ins Schloss.

»Liebling, ich bin zu Hause!«

»Hallo Schatz!«, presste sie heraus. »Ich bin in der Küche.«

Sie saß in der Falle, nun gab es kein Zurück mehr.

Als Mike ihr einen Kuss auf die Wange hauchte, bäumte sich die Angst noch einmal heftig in ihr auf, aber Melanie kämpfte sie nieder. Es ging nicht anders. Nicht mehr ...

»Hast du was?«

»Nein, nein!«, sagte die junge Frau hastig und hielt dem Blick seiner misstrauischen Augen stand. »Ich habe nur ... irgendwie Kopfschmerzen.«

»Ach so.« Mike setzte sich an den Küchentisch. »Was gibt es zu essen?«

»Dein Lieblingsessen!« Melanie stellte einen Teller köstlich duftender Lasagne vor ihm ab und setzte sich ihm gegenüber an den kleinen Küchentisch.

»Du isst nichts?«

Melanie faltete die Hände unter dem Tisch auf ihrem Schoß, damit er nicht merkte, wie sie zitterten. »Nein, ich habe keinen Hunger. Wie war dein Tag?«

»Ach die haben doch alle keine Ahnung, die feinen Pinkel!« Mit einer sehnigen Hand fegte er eine Strähne pechschwarzen Haares aus dem Gesicht. In seinen grünen Augen blitzte es giftig. »Wenn die so unfähige Leute in ihrer Abteilung hätten wie ich, würden die nicht so großkotzig daher labern! Wie soll man solche Mitarbeiter schon motivieren?«

»Vielleicht ...«

»Bier, bitte!«

Melanie seufzte innerlich und holte das geforderte Alt aus dem Kühlschrank. Als sie ein Glas aus dem Schrank holte, zögert sie. »Ich ... muss dir etwas sagen ...«

»Und dann diese Frau Lärchenfeld«, schmatzte Mike und versenkte einen großen Löffel Lasagne im Mund. »Grottenhohl die Kleine, aber dafür echt heiß!«

»Wo bleibt mein Bier?« Er drehte sich zu ihr um und musterte ihre fleckige Schürze über Leggins und T-Shirt und das nachlässig zusammen gebundene blonde Haar. »Du könntest dich auch mal etwas hübsch für mich machen!«

Sie antwortete nicht, aber das hatte er auch nicht erwartet und er wandte sich wieder dem Essen zu. Sein kurzer Pferdeschwanz wippte hin und her.

Mit einem lauten Zischen öffnete Melanie die Bierflasche und kurz darauf schäumte das dunkle Getränk ins Glas.

»Bitte, dein Bier.« Heftiger als beabsichtigt knallte Sie das Getränk auf den Tisch, und zwar so heftig, dass es überschwappte.

Mike funkelte sie missbilligend an. »Bist auch ganz schön fett geworden!«

Melanie setzte sich. »Ich bin schwanger.«

Mike nahm einen tiefen Schluck und wischte sich den Bierschaum aus dem dünnen Schnurrbart. »Ich dachte, du könntest keine Kinder mehr kriegen.«

»Ja, das habe ich auch gedacht.«

»Jetzt sieh mich nicht so an!« Sein Ehering blitzte Melanie höhnisch entgegen. »War doch nicht meine Schuld!«

Melanie ballte die Hand unter dem Tisch zur Faust. »Nein, es war nicht deine Schuld!«

»Konnte doch keiner Ahnen ...«

»Nein.«

»... das du die Treppe runter fällst!«

»Hm, hm.«

»War besser, dass du es verloren hast!«

»Ja«, ihre Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in die Haut, »es war besser so.«

»Ich habe dir damals gleich gesagt, dass du abtreiben sollst.«

»Ja, das hast du.«

»Aber diesmal treibst du ab! Hast du schon einen Termin?«

Sie sah zu, wie er die Reste des Essens in den Mund stopfte und ihr auffordernd das leere Glas hinschob.

»Ich möchte nicht abtreiben«, flüsterte sie, als sie mit unsicherer Hand Bier hineingoss. Mike leerte es mit einem Zug. »Und ich will keine Kinder, also?« Nachdrücklich stellte er das Glas vor sie hin.

Melanie legte die kalten Hände auf ihren schon leicht geschwollenen Leib. Mit der Wärme schien ihr das Baby auch Kraft zu geben. Sie lehnte sich vor und schenkte ihm mit schneller, sicherer Bewegung das restliche Bier ein. Mike war verwundert über den herausfordernden Ausdruck, der plötzlich in ihrem Gesicht lag. Dann lächelte sie ihn sogar an. »Du bist nicht der Vater!«

»Was?« Seine Augen weiteten sich ungläubig. »WAS?« Er sprang auf und warf das Bierglas an die Wand, wo es scheppernd in tausend Scherben zerschellte. »Ich bring’ dich um, du ...«

»Hast du dein Bier genossen?«, fragte Melanie ungerührt.

»Was? Du ...«, Mike taumelte und warf den Stuhl um. Dann kauerte er sich auf den Boden.

»Du wirst dieses Kind nicht auch noch umbringen!« Ihre Stimme war so kalt, als könne sie damit Glas schneiden. »Ich bin damals nicht gefallen!«

»Hilf mir!«, keuchte Mike, doch Melanie stand auf und ging.

»Bleib bei mir!« Er schnitt sich die Hände an den Scherben blutig.

»Melanie?«

Die Tür fiel quietschend hinter Melanie ins Schloss.

»Melanie?«

Sie stand vor der Tür und hörte ihn schreien. Sein Rufen wurde lauter.

Lauter.

Und lauter.

Jemand rüttelte sie grob an der Schulter und Melanie wachte auf.

Das Mädchen und der liebe Gott
Gislinde Bock

Stolz saß sie hinter dem Schreibtisch in »ihrem« Lesesaal. Für die junge Frau war es »ihr« Lesesaal, denn dieser war nach einer langen Ausbildung ihr erster Arbeitsplatz. Endlich konnte sie Geld verdienen und sich Wünsche erfüllen, die bisher in weiter Ferne gelegen hatten.

Nach dem Examen hatte sie das Glück, in der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften die Aufsicht über diesen Lesesaal zu erhalten. Das war es, was sie sich gewünscht hatte: Bibliotheksarbeit mit »Benutzerkontakt«. Sie freute sich jeden Tag gemeinsam mit ihren Bibliotheksbenutzern, wenn es ihr wieder gelungen war, den Wissenschaftlern ihre oft unmöglich erscheinenden Literaturwünsche zu erfüllen.

Hinzu kam dieser majestätisch erscheinende Arbeitsplatz in dem alten wilhelminischen Bau Unter den Linden in Berlin, in dem die Akademiebibliothek untergebracht war. Hohe Fenster mit schweren Samtvorhängen erfüllten den Raum mit Licht, der große Saal mit seiner stuckverzierten Decke war ringsum mit Regalen für die Handbibliothek ausgestattet.

Nicht selten wünschte sich die junge Frau, auch etwas von den Inhalten in diesen dicken Bänden zu erfahren, aber das war nur den Wissenschaftlern vorbehalten. Ihre eigene Arbeit an einem Buch beschränkte sich hauptsächlich auf Autor, Titel und Verlag. Die Hoffnung, als Bibliothekarin auch mit den Buchinhalten arbeiten zu dürfen, hatte sie schon vor langer Zeit, zu Beginn des Studiums, aufgeben müssen.

Aber hier im Lesesaal empfand sie tiefe Befriedigung, denn Sinn und Nutzen ihrer Tätigkeit zeigten sich in jedem zufrieden gestellten Benutzer der Bücher.

Einen Nachteil allerdings hatte dieser so schöne, große und hohe Lesesaal: Er wurde nie richtig warm, trotz der voll aufgedrehten Heizkörper.

Viele Stunden saß die junge Frau jeden Tag an ihrem Schreibtisch, das hohe Fenster im Rücken. Der Samtvorhang vermochte sie nicht vor der Zugluft zu schützen, und der nächste Heizkörper stand irgendwo in einer entfernten Ecke. Die einzige Möglichkeit, den Tag gut zu überstehen, war ein Heizlüfter, der sich über den Hausmeister rasch herbei schaffen und anschließen ließ; eine Steckdose hatte sie schon hinter dem Schreibtisch entdeckt. Wohlig lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, während der wärmende Luftstrahl von hinten auf ihre Beine traf.

»So kann der Winter ewig dauern«, dachte sie, während sich die Wärme ausbreitete.

Das Wochenende begann für die junge Frau an jedem Samstag um dreizehn Uhr mit der einstündigen Heimfahrt in der S-Bahn, die sie – wie konnte es anders sein – lesend verbrachte.

Es war ein ganz bestimmter Samstag Abend, den sie nie vergessen sollte; an dem sie schwelgend im Bett lag mit dem herrlichen Gefühl, am nächsten Tag ausschlafen zu können. Nur kurz streiften ihre Gedanken die anfallende Arbeit am Montag in der Bibliothek, da durchfuhr sie das Entsetzen. Der Heizlüfter – hatte sie – oder hatte sie ihn nicht gezogen, den Stecker?

Sie konnte sich nicht erinnern. Der Strahler stand in der Nähe des Samtvorhangs. Konnte dieser sich entzünden? Konnte es brennen? Konnte der edle Parkettfußboden glimmen und Feuer fangen? Die schlimmsten Vorstellungen tauchten in ihrem Geist auf. Die Akademiebibliothek und die Deutsche Staatsbibliothek waren in der Gefahr abzubrennen. Das Mädchen – denn zu einem kleinen, ängstlichen Mädchen war sie in diesem Moment schlagartig geworden – wusste, dass am Wochenende alles verschlossen und niemand zu erreichen war. Wohlbehütet aufgewachsen, war es noch nie mit schwerwiegenden Problemen oder Entscheidungen konfrontiert worden, und so durchdachte es nun hilflos und naiv alle Möglichkeiten, die ihm zu Gebote standen: Fahre ich jetzt in der Nacht hin, stehe ich vor herunter gelassenen Eisengittern, die vor Montag früh nicht geöffnet werden. Rufe ich die Polizei, versucht die, mit großem Aufwand in die Bibliothek zu kommen; und wie stehe ich dann da, wenn ich im Unterbewusstsein den Stecker gezogen habe? Das würde sich sofort überall herum sprechen und an mir hängen bleiben. Was soll ich bloß tun?

Das Mädchen verkroch sich unter der Bettdecke und griff zu dem einzigen Rettungsanker, der noch blieb, und der ihm seit Kindertagen vertraut war. Es betete: »Lieber Gott, lass es nicht brennen. Ich werde auch nie wieder etwas vergessen«.

Immer wieder stammelte es diese Worte und klammerte sich an die Ermahnung, die es seit seiner Geburt vor einundzwanzig Jahren so oft zu hören bekommen hatte: Hoffe und vertraue, so hilft dir Gott.

Der erste Weg am Sonntagmorgen war der zum Radio. Ob ein Brand in Berlin Unter den Linden gemeldet wurde? Erleichtert hörte es stündlich die vergleichsweise harmlosen Meldungen, aber die innere Unruhe blieb.

Die junge Frau war kein wirklich gläubiger Mensch, aber an diesem Wochenende fand sie Trost und Hoffnung in ihrem Gebet. Die einzige Zuflucht fand sie im tiefsten Innern, in einer hilflosen Gläubigkeit. Nur diese ließ sie die Stunden in der Hoffnung auf Hilfe überstehen.

Am Montagmorgen bog sie, vom Bahnhof kommend, um die Häuserecke: Alles stand noch wie gewohnt am alten Platz. Ihr Ausschreiten, ihr Gemüt – alles an ihr schien der jungen Frau viel leichter geworden zu sein.

Sie betrat wie gewohnt den Lesesaal und ließ den Blick suchend hinter den Stuhl zum Heizlüfter gleiten. Das Elektroöfchen stand wie gewohnt dahinter, die Schnur gezogen. Hatte sie sich so getäuscht und die Schnur unbewusst aus dem Stecker gezogen?

»So etwas darf dir nie wieder passieren«, nahm sie sich vor. Da hatte sie in Unachtsamkeit eine schlimme Erfahrung fürs Leben gemacht, auf die sie gerne verzichtet hätte. Krank konnte man durch solch eine Angst werden, das hatte sie am eigenen Leib erfahren.

Als sie an diesem Tag Feierabend hatte und mit einem freundlichen Verabschiedungsnicken am Pförtner vorbei ging, rief dieser ihr plötzlich nach: »Na Frolleinchen, det nechste Mal aber den Stecker zieh’n!«

Das Mädchen drehte sich – sprachlos zunächst – zu ihm um. Dann würgte es seine Dankbarkeit heraus, wobei es diesen alten Mann am liebsten umarmt hätte. Nichts konnte ausdrücken, wie erleichtert und dankbar es sich fühlte.

In diesem Moment hatte der ›liebe Gott‹ für die junge Frau Gesicht und Gestalt angenommen.

Das große Haus
Katrin Exner

»Eigentlich«, so denkt er, »geht es mir ja gut.« In der Küche sitzend, aus dem Fenster schauend, Kaffee trinkend und sich freuend, dass er gesund und überhaupt am Leben ist.

Es könnte kühler sein, wenn es nach ihm ginge.

Es könnte aber auch noch viel wärmer sein und nach ihm geht es ohnehin nicht.

Also beschwert er sich nicht, sondern freut sich daran, dass sein Kaffee nicht so schnell kalt wird, wie er es tun würde, wenn es eben nach ihm ginge.

In der Küche sitzend vergisst er fast, dass er im größten Haus der Straße wohnt.

Aus dem Fenster schauend fragt er sich dann doch, wie das so sein würde, nicht im größten Haus der Straße zu wohnen, sondern vielleicht da drüben in dem Kleinsten.

Kaffee trinkend stellt er sich vor, was wohl die Bewohner des kleinsten Hauses über ihn und sein großes Haus dachten. Sind sie neidisch auf ihn? Macht sein Anblick sie vielleicht sogar ein wenig traurig? Kennen sie seinen Anblick und löst er überhaupt irgendwas, in irgendwem aus?

»Jetzt gerade nicht«, vermutet er, beim Blick auf die leere Straße.

Hält ihn irgendjemand für irgendwas? Er fühlt in sich und er fühlt nicht, dass ihn irgendjemand hält.

»Da hat der so ein großes Haus und sitzt in der Küche«, könnten sie denken.

»Geh doch mal an die frische Luft!«, hallt eine Stimme durch seine Erinnerung.

Dafür müsste er jedoch in den Garten gehen und das würde er nicht ertragen.

Eigentlich hatte er das Haus damals wegen des Gartens gekauft.

Gleich beim Einzug hatte er Rosenhecken eingepflanzt.

Doch irgendwann sind sie verdurstet, die Rosenhecken.

Obwohl es nicht von heute auf morgen geschehen war und er den Prozess der Kompostierung sehr wohl beobachtet hatte, hatte er die Rettung seiner Rosen immer weiter aufgeschoben, bis es zu spät war.

Er konnte nichts weiter tun, als jene Ecke vom Fenster, von der aus das knochige Gestrüpp zu sehen war, wenn er auf seinem Platz saß, mit Klebeband abzukleben.

Einmal hatte er dem Drang nachgegeben, sich für die Vernachlässigung zu entschuldigen, doch sie hatten nur ungnädig mit ihren dornigen Fingern auf ihn gezeigt. Er hatte es ihnen nicht übel genommen. Immerhin konnten sie ebenso gut wie er selbst, die prächtig blühenden Rosenstöcke des kleinsten Hauses der Straße sehen.

Was ihn lediglich frustrierte, muss für das Gestrüpp in seinem Garten pure Folter sein.

Dafür blieb den einstigen Rosen, im Gegensatz zu ihm, der Rest des großen Hauses erspart.

Da gab es viele Räume, die sich wie ein Mahnmal um die Küche herum drückten.

Das Bücherzimmer zum Beispiel.

»So viele Bücher brauchen ein eigenes Zimmer«, hatte er damals gedacht.

Er hatte die Bücher gebraucht, war er doch Arzt gewesen und was wäre ein Arzt ohne die vielen Bücher, in denen drin steht, wie man Menschen behandeln konnte.

Doch auf jeden Menschen, den er retten konnte, kamen viele, bei denen ihm die Bücher nicht weiter halfen. Irgendwann war es ein Mensch zu viel und ein Mensch zu nah und irgendwann konnte er kein Arzt mehr sein.

Das Bücherzimmer verkümmerte zu einem Strom aus demütigenden Erinnerungen, die ihn zerreißen wollten.

Ebenso wie das große Zimmer mit dem kleinen Bettchen, das Phasen hatte, in denen es nachts nie ganz dunkel sein wollte.

Oder das Kaminzimmer, in dem immer noch die Leiche eines Weihnachtsbaumes stand. Spätestens als er die letzte Nadel verloren hatte, wirkten die Lichterketten und Kugeln, als wollten sie den armen Träger über dessen kümmerliche Existenz hinaus verspotten.

Das Badezimmer ohne Badewanne, das für Gäste vorgesehen war, als es noch Gäste gab.

Das Badezimmer mit Badewanne, welches vielleicht immer noch nach Rosen roch.

Sicher konnte er sich da nicht sein, doch die Vorstellung gefiel ihm.

Denn genauso wie beim Schlafzimmer, in dem ein kleiner Brief das Doppelbett komplett ausfüllt, hält ihn etwas davon ab hineinzugehen.

Am Anfang hatte er die Räume einfach abgeschlossen.

Doch dies hatte ihn nicht davon abhalten können, sie immer und immer wieder zu betreten.

Er betrat die Räume zu oft und sie traten jedes Mal zurück.

Bis er nicht mehr konnte und sie zumauerte.

Zimmer für Zimmer für Zimmer.

Immer wieder war er dabei durch den Garten gegangen und immer wieder hatte er sich dabei vorgenommen, sich um die Rosen zu kümmern, sobald es ihm möglich sein würde.

Als er es schaffte, mittels Zement und Backsteinen, endlich mit den ganzen Räumen abzuschließen, hatte er sich in die Küche gesetzt.

Aus dem Fenster geschaut und bemerkt, dass es für eben jene Rosen zu spät war.

Die kleine Ecke im Fenster war leicht zu verdecken, kein Stein musste vom Hof durch den Garten in das Haus hinein getragen werden.

Ein Streifen Klebeband am Fensterinneren genügte, um das Elend zu verdecken.

Zwar nur so lange, wie er an seinem Platz zu sitzen gedachte, aber zum erneuten Aufstehen war er ohnehin zu müde.

»Eigentlich«, so hatte er gedacht, »geht es mir ja gut.«

In der Küche sitzend, aus dem Fenster schauend, Kaffee trinkend und sich freuend, dass er gesund und überhaupt am Leben war.

Es könnte wärmer sein, wenn es nach ihm ginge.

Es könnte aber auch noch viel kälter sein und nach ihm geht es ohnehin nicht.

Am Tresen
Birgit Sonnberger

Donnerstag, 7. November 2019, 23.15 Uhr, im Pub an der Ecke. Es roch nach dunklem Bier und frittierten Kartoffelecken. Die grüne Hängelampe über dem Tresen schien mehr Schatten als Licht zu spenden. Im Hintergrund lief Musik von Grönemeyer. Ein TV- Bildschirm hing mit flimmernden Bildern und einer stummen Nachrichtenschleife an der Wand über der Sitzecke. Zwei Männer in abgetragenen Anzügen hielten sich mit ihren Guinnessgläsern am Tresen fest. Der lange und knochige Mann beobachtete den kleinen Glatzkopf auf dem Barhocker vor ihm. Eine einzelne Träne rann dem Kleinen über die Wange.

»Hey, weinst du?«, fragte der Lange.

Der Kleine wischte die Träne mit dem Handrücken weg. »Nein, ich war gerade eine rauchen. Draußen regnet’s.«

»Schon klar, … Regentropfen. Weißt du was mein Vater immer gesagt hat? Ein Indianer kennt keinen Schmerz.«

Der Kleine umklammerte sein Glas und nahm einen kräftigen Schluck. Mit dem Zeichen für Nachschub ließ er das leere Glas quer über die Theke zum Wirt schlittern und starrte weiter vor sich hin. Der Lange ignorierte sein unausgesprochenes »Lass’ mich in Ruhe«.

»Hey, ich sehe doch, dass du weinst. Weißt du, was mein Vater noch gesagt hat? Ein Junge weint nicht.«

Der Kleine schluckte und hob sein Kinn: »Ich verrate dir jetzt, was mein Vater gesagt hat.« Er stieß dem Langen eine Handbreit über dem Nabel seinen ausgestreckten Zeigefinger in den Bauch. »Der mit der größten Klappe hat die kleinsten Eier, das hat er gesagt.«

Der Lange ignorierte den stechenden Finger und bohrte seinerseits weiter nach Streit. »Weinende Jungs sind Memmen, hat mein Vater auch immer gesagt.«

Der Kleine, der nicht eben schmächtig war, ballte seine Fäuste. »Pass auf, was du sagst.« Während er immer lauter sprach, dachte er: »Gleich liegt der mit einem blauen Auge unterm Tisch.«

»Hey, ich habe nur gesagt, was mein Vater gesagt hat.«

Die drei letzten Gäste am Tisch in der Ecke hoben erwartungsvoll ihre Köpfe. Sollte der Abend etwa noch spannend werden?

Mit der Hand, die am Nachmittag noch eine Schaufel voll Erde in ein Loch geschaufelt hatte, wischte sich der Kleine über seine Glatze und dann über die Wangen. In seiner Kehle wurde es bedenklich eng. Sekundenlang passierte nichts. Dann schwappte es aus ihm heraus, Tränen tropften auf seine Hose. »Du hast recht. Ich weine, das war kein guter Tag für mich.«

Der Lange war der Typ, der wusste, wann es genug war.

»Hey, war nicht so gemeint«, er drückte dem Glatzkopf eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß doch wie das ist. Jetzt sind wir beide ohne Vater. Übrigens der Pastor hat schön gesprochen.« Selbst im Dämmerlicht war in seinen Augen ein verdächtiges Glitzern zu erkennen.

Hinter der Theke polierte der Wirt seine Gläser. Bis hierhin hat er dem Elend der beiden schweigend zugehört. Jetzt reichte es ihm. Er knallte drei Gläser auf das polierte Holz und packte den Hals seiner Lieblingsflasche. Er schüttelte sie kräftig, drehte sie um und schlug routiniert mit der Handfläche gegen den Flaschenboden. Dann stellte er sie aufrecht hin, schraubte sie auf und goss ohne Blick drei Likörgläser bis über den Eichstrich voll.

»Man, jetzt reicht es aber mit dem Geflenne.« Er schob zwei Gläser mit Eierlikör über den Tresen, das dritte hob er hoch: »Prösterchen, auf unsere Väter. Wisst ihr, was meiner gesagt hat? Nix hat er gesagt. Den gab es nämlich gar nicht. Aber meine Mutter hat immer gesagt: ›Junge, darauf trinken wir einen. Ein, zwei Eierlikörchen und die Welt ist wieder rund‹, das hat sie gesagt.«

Zwanzig Minuten später zog der Wirt den Schlüssel aus dem Schloss und steckt ihn in seine Jackentasche zu der Streichholzschachtel und dem Grablicht. Er wählte die Abkürzung über den Friedhof. Der Pub lag ruhig und dunkel hinter ihm.

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