Kitabı oku: «Planetenschleuder», sayfa 4
»Und Schub!«, hatte Jennifer gerade geschrien und die Online-Module der Korrekturdüsen reingehauen. Jetzt hielt sie inne und lauschte der fremdartigen Ansprache, die aus dem Äther zu dringen schien.
»Das ist Laertes«, jubelte sie dann. »Laertes! Jetzt kann nichts mehr schief gehen!«
»Ich vertraue Ihnen«, sagte die Stimme des weißhaarigen Nestors an Bord der MARQUIS DE LAPLACE. »Sie sind die beste Pilotin, mit der ich je geflogen bin. Sie werden das Ding auch diesmal schaukeln.«
Ich versuchte mir vorzustellen, wo der alte Philosoph gerade stecken mochte. Er durchstreifte die kilometerlangen Gänge des Schiffes und lebte wie ein Eremit in den entlegensten Winkeln. Oft kam es vor, dass man ihn wochenlang nicht zu Gesicht bekam. Dann stand er plötzlich wieder vor einem, kam lautlos in die Messe geschlurft, strich sich den weißen Bart und teilte einem den Gedanken mit, der ihn zuletzt beschäftigt hatte.
»Hundertzwanzig Prozent«, stöhnte Jennifer. »Gib alles, voller Schub aus tausend Düsen. Das habe ich mir immer mal gewünscht.«
Ich starrte auf den Schirm. Nichts geschah. Wir hatten noch dreißig Sekunden. Der Kreis, den das Prognosefeld auf die Außenspanten der MARQUIS DE LAPLACE malte, wurde langsam kleiner. Wie ein Theaterspot fokussierte sich die Vorausberechnung auf ein immer kleineres Feld, je näher das tödliche Geschoss herangerast kam.
»Es reicht nicht«, heulte Lambert.
Aber dann, unendlich langsam, ging eine Bewegung durch die beiden ineinander verkeilten Schiffe. Millimeter für Millimeter hob sich der riesige Leib der MARQUIS DE LAPLACE an.
»Sie kommt«, jauchzte Jennifer.
»Aber zu langsam«, stellte Reynolds fest. »Wir schaffen es nicht.«
»Wir schaffen es«, sagte Jennifer und brüllte gleichzeitig »130!« in die Automatik.
Martervoll tickten die Sekunden. Auf der großmaßstäblichen Projektion war keine Veränderung zu bemerken. Die Bewegung spielte sich in der Größenordnung von Millimetern ab. Unter titanischen Qualen überwand die Enthymesis die unvorstellbare Massenträgheit der MARQUIS DE LAPLACE und schob sie in Position. Langsam beschleunigte sich die Bewegung. Hatte sie Anfangs einen Millimeter pro Sekunde betragen, war es nun ein Zentimeter. Aber auch das war immer noch viel zu wenig.
Verzweifelt sah ich die letzten Sekunden heruntertropfen wie heißes Wachs, das auf unbedeckte Haut tropft. Zehn Zentimeter pro Sekunde. Es nützte alles nichts mehr. Wir waren um einige Minuten zu spät. Im Nachhinein verfluchte ich Wiszewsky und seine langatmige Art.
Da ging ein Ruck durch die Brücke, die unter dem Dröhnen der überlasteten Triebwerke erzitterte. Als wäre ein Widerstand überwunden oder ein Reißleine, die sich verhakt hatte, doch noch in letzter Sekunde gelöst, wurde die Drift des Schiffes plötzlich beschleunigt. Sie betrug auf einmal mehr als einen Meter pro Sekunde und nahm rasch zu. Die letzten fünf Sekunden tickten. Ich sah die Projektion. Der schmaler werdende rote Kreis schob sich langsam über die Außenwand. Er oszillierte und flackerte und wanderte dann beschleunigt weiter nach unten. Noch drei Sekunden, zwei, eine ...
»Achtung!!!«, schrie Jennifer und nahm die Hände von der Konsole, als könne sie bei dem, was jetzt geschah, einen Schlag bekommen. Auf dem Schirm sahen wir das Bild des Großen Drohnendecks, aufgenommen von einer Innenkamera.
Wir sahen das leergefegte Deck und im Hintergrund, durch die sperrangelweit geöffneten Hangartore, den schwarz gähnenden Abgrund des Kosmos, der sich anschickte, eine tödliche Fracht auszuspucken. Und dann, schneller als ein Wimpernschlag, zischte ein silbergrauer Blitz durch die riesige Halle. Ein hingefetzter waagerechter Strich, der den Staub und einige Kleinteile aufwirbelte und die Luft, die das Deck ausfüllte, in einer langgezogenen rußigroten Detonation explodieren ließ. Die Generatorfelder vor den Hangartoren brannten blau auf und erloschen dann rieselnd zu ihrer gewohnten Unsichtbarkeit.
Jennifer schaltete rasch auf die Backbordkamera der Enthymesis, und im starken Zoom, der dem Phänomen hinterhereilte, erkannten wir gerade noch einen winzigen taumelnden Punkt, der mit irrwitziger Geschwindigkeit davonschoss und sich in den gleichgültigen Weiten der Leere verlor.
»Triebwerk aus«, sagte Jennifer.
Dann wurde es ganz still.
Kapitel 2. Schadensbericht
»Was war das?«, schnaubte Jennifer und stiefelte auf Rogers zu, als wolle sie ihn in der Luft zerreißen. Sie stand unter Strom und hatte sich noch nicht wieder unter Kontrolle. Ihre Fähigkeit, ihrem Temperament die Zügel schießen zu lassen, kam ihr in kritischen Situationen zustatten, wo sie in Sekundenbruchteilen komplizierte Entscheidungen treffen und ausführen musste, wurde aber gefährlich, wo sie sich zu Ausfälligkeiten gegenüber ihrem Vorgesetzten hinreißen ließ.
»Major«, begrüßte der Commodore sie in einer Harmlosigkeit, von der man nicht wußte, ob sie auf Naivität oder auf Raffinement beruhte. »Ich beglückwünsche Sie zu dieser Aktion. Noch heute werde ich Sie für den Großen Stern vorschlagen.«
Er strahlte uns kindlich an und forderte uns mit einer huldvollen Geste auf, in den weichen sensoriellen Sesseln der Messe Platz zu nehmen.
»Das gilt selbstverständlich auch für Sie, Commander«, fügte er nach einer Pause an, »sowie für die anderen Mitglieder ihrer formidablen Crew ...«
Reynolds und Lambert verneigten sich und suchten sich dann einen Platz. Ich tauschte einen Blick mit Svetlana, die mir anerkennend zublinzelte. Jennifer stand stocksteif da, wie ein Speer, den ein afrikanischer Häuptling im höchsten Zorn in die Erde gerammt hat, und fraß Dr. Rogers mit ihren stählernen Augen auf. Ich beeilte mich, ihren Arm zu ergreifen.
»Zwei meiner Triebwerksspulen sind durchgebrannt«, schäumte sie. »Mein Schiff wäre beinahe verglüht, und um ein Haar hätten wir es nicht geschafft!«
Ich verstärkte den ermahnenden Griff um ihren Unterarm. Was geschehen war, war geschehen. Es hatte keinen Sinn, sich im Hader gegenseitig zu zerfleischen. Wir mussten jetzt nach vorne schauen.
Rogers fasste sie mit spöttischem Lächeln ins Auge.
»Ich habe den Reaktorblock abgekoppelt und einige Millionen Tonnen Plasma abgelassen«, sagte er ruhig. »Das waren, wenn ich mich recht entsinne, Ihre Vorschläge.«
Ich nickte und versuchte, Jennifer von ihm wegzuziehen.
»Das hätten Sie fünf Minuten früher tun können«, brach sie aus. »Es hätte uns große Anstrengungen erspart!«
Wiszewsky hatte unterdessen seinen »Thron« erklettert, wie wir den schwersten und geräumigsten Sessel der Messe nannten, der ihm vorbehalten blieb. Die Komarowa schmiegte sich neben ihn und schlug die langen Beine übereinander. Während sie amüsiert vor sich hin schmunzelte, kraulte sie seinen Nacken. Der Commodore verfolgte das Wortgefecht zwischen seiner besten Pilotin und dem obersten Planetologen mit zerstreuter Aufmerksamkeit, etwa wie ein Großvater einer Auseinandersetzung seiner Enkel zusieht, von der er nicht weiß, ob es sich um einen Streit oder einen Sketch handelt.
»Beide Maßnahmen«, schlich Frankel sich jetzt von der Seite heran, »sind risikobehaftet und teilweise irreversibel. Es wird Stunden dauern, bis wir den Reaktorblock wieder angekoppelt haben, und das in den Raum gepumpte Plasma ist natürlich verloren ...«
»Wir wären alle verloren gewesen«, grollte Jennifer.
»Ich dachte«, sagte Rogers herablassend, »Sie würden es alleine schaffen.«
Er funkelte sie warnend an. Wir kannten uns alle viel zu lange, als dass wir einander ernsthaft hätten befehden können. Rogers war unser Ausbilder an der Akademie gewesen; seit zwanzig Jahren flogen wir miteinander auf der MARQUIS DE LAPLACE.
Unsere Vertrautheit barg die Gefahr, dass wir die dienstlichen Hierarchien, in denen wir standen, nur noch pro forma nahmen, aber vor allem Rogers war hier sehr empfindlich. Bei aller Jovialität achtete er peinlich darauf, dass die Abstufungen der Ränge eingehalten wurden.
»Ich bin bereit«, sagte er mit drohendem Unterton, »Ihre Ausfälle mit Ihren erhöhten Adrenalinwerten zu entschuldigen, Major Ash, muss Sie aber bitten, sich zu beruhigen.«
Am Eingang zur Messe entstand eine Unruhe. Ich erkannte Kurtz und einige andere Offiziere der fliegenden Crew, die uns über die Barriere hinweg zujubelten, aber offensichtlich hatten die Ordonanzen Anweisung, niemanden durchzulassen. Die Tür glitt wieder zu. Ich nutzte die Unterbrechung, Jennifer am Arm zu ziehen und ihr zuzuflüstern, sich zu mäßigen. Aber sie war jetzt wie ein bockiges Kind, das mit den Füßen stampft und auf seiner Sicht der Dinge beharren zu müssen glaubt.
Die Eingangstür öffnete sich wieder, und Laertes kam, nachdem er noch einige freundliche Worte mit den Ordonanzen gewechselt hatte, auf uns zugeschlurft. Er genoss Narrenfreiheit an Bord der MARQUIS DE LAPLACE, und selbst wenn ein Wachmann die ausdrückliche Anordnung gehabt hätte, niemanden durchzulassen, hätte Laertes passieren können. Er war eben nicht jemand, sondern der Bord-Philosoph, der sich durch die Decks und Gänge des Mutterschiffes bewegte wie ein weißbärtiger Geist.
Jennifer löste sich von mir und flog auf ihn zu, um ihn in die Arme zu schließen und seine bärtigen Wangen zu küssen. Sie liebte ihn, wie sonst nur eine Tochter ihren Vater liebt.
»Auftritt des Eremiten«, hörte ich Reynolds vor sich hinbrummen.
Rogers kam rasch zu mir.
»Das war gute Arbeit, Frank«, sagte er leise. Und mit einem Blick zu Jennifer, die jetzt wie ausgetauscht an Laertes' Arm hing, fügte er hinzu: »Sie ist beste, die wir haben, aber ...«
»Ich weiß«, fuhr ich ihm übers Wort. »Ich glaube, sie hat sich schon wieder gefangen.«
Laertes hatte die Situation mit einem Blick erfasst.
»Kinder, das war knapp«, sagte er mit der ihm eigenen philosophischen Heiterkeit. »Jetzt streitet euch nicht darum, wer den entscheidenden Eimer Wasser ausgegossen hat, sondern freut euch, dass das Feuer gelöscht ist.«
Er strahlte wie ein Buddha, um im nächsten Moment mit der Hostess zu schäkern, die auf einem Schwebetablett knallbunte Cocktails hereinbrachte.
»Wir erheben unsere Gläser auf Major Jennifer Ash«, sagte Wiszewsky, »und auf alle anderen, die daran mitgewirkt haben, unser Schiff zu retten!«
Wir prosteten einander zu und nippten an den süßen und leider alkoholfreien Drinks.
Ich hatte neben Reynolds Platz genommen, während sich Jennifer und Laertes auf der gegenüberliegenden Seite des Halbrunds zwei gravimetrische Sessel suchten. Die Anwesenheit des Philosophen wirkte auf uns alle versöhnend. Er repräsentierte eine überpersönliche Vernunft, die uns die Albernheit unserer kleinen Eifersüchteleien bewusst werden ließ.
Für einige Zeit kehrte Schweigen ein. Jeder drehte sein Glas in den Händen, starrte in die ölige, giftgrüne Flüssigkeit, die darin schwappte, und hing seinen Gedanken nach. Die MARQUIS DE LAPLACE, verstümmelt und entstellt, trieb lautlos auf ihrer Bahn.
»Sind wir das wirklich«, fragte Reynolds nach einer Weile. »Ich meine gerettet und in einem Zustand, den man als sicher betrachten könnte.«
Seine Worte verhallten. Die Ruhe änderte ihre Färbung; aus der besinnlichen Stille wurde ein eisiges Schweigen. Aber er hatte natürlich recht. Niemand wusste, was sich in diesem Augenblick vielleicht schon wieder in den unberechenbaren Weiten jenseits unserer Schutzhülle zusammenbraute.
Da weder Wiszewsky noch Rogers geneigt schienen, das Wort zu ergreifen, räusperte Frankel sich und hob zu einer umständlichen Entgegnung an.
»Ich wage zu behaupten, dass wir das sind«, sagte er. »Der Reaktorblock wird gegenwärtig an das Heck herangeführt und wieder angekoppelt, sodass unser Schiff in einigen Stunden seine Integrität wiedererlangt haben dürfte. Ein Enthymesis-Explorer wird auf unsere Anweisung hin stets außerhalb der Hangars bleiben und in geringem Abstand neben dem Mutterschiff positioniert.« Er hüstelte gekünstelt. »Falls kurzfristige Maßnahmen nötig werden sollten. Ähm. Gegenwärtig ist das die Endeavour. Wir werden Ihnen Ihren Schichtplan noch mitteilen.«
Ich schwenkte mein Glas in der hohlen Hand. Als nächstes, da war ich mir sicher, würde er die Einsetzung einer Kommission verkünden, die die Vorfälle zu untersuchen und ein Bericht abzufassen habe.
»Wir haben außerdem«, fuhr er fort, »mehrere Robotdrohnen mit Antimaterie-Granaten bestückt. Sollten sich weitere Objekte nähern, dürften wir in der Lage sein, uns ihrer zu erwehren.«
»Wie ist die Vorwarnzeit?«, fragte Reynolds. Es kam wie aus der Pistole geschossen und deklassierte Frankels Bericht zu einer einzigen Rechtfertigung. Das schien auch der stellvertretende Leiter der Planetarischen so zu empfinden, jedenfalls setzte er einen indignierten Gesichtszug auf.
»Die Drohnen sind in unter zwei Minuten abschussbereit. Sie sind selbststeuernd und können auch nach Abschuss noch umprogrammiert werden.«
»Und das Deepfield«, hakte Reynolds unbarmherzig nach.
»Was die Vorfeldaufklärung betrifft«, entgegnete Frankel beleidigt, »so sind wir, einige improvisationsbedingte Einbußen abgerechnet, wieder auf dem Stand ...«
»Sie wurde schon einmal unterlaufen«, stellte Reynolds fest. »Selbst wenn wir die ursprüngliche Leistungsfähigkeit zu 100 Prozent wiederherstellen, gibt uns das keine Garantie.«
Frankel starrte ihn böse an. Er war ein Bürokrat, der die Kritik an einem Missstand persönlich nahm, selbst wenn dieser sein eigenes Leben gefährdete.
Dr. Rogers hatte der Auseinandersetzung mit regungsloser Miene zugehört. Jetzt hob er mahnend die Hand.
»Sie haben natürlich recht, meine Herren ...« Das »Sie« war Unfug, wie alle Rhetorik, aber darüber mussten wir jetzt hinwegsehen. »Tatsache ist«, wandte er sich an Wiszewsky, »dass wir bis jetzt keine Erklärung dafür haben, wie der erste Meteorit unserer Vorfeldüberwachung entgehen konnte.«
»Dann kann sich ein solcher Impakt also jederzeit wiederholen?«
Laertes war der einzige, der auch in einem Gespräch der beiden obersten Autoritäten unaufgefordert das Wort nehmen konnte.
»Im Prinzip schon«, räumte Rogers ein, »allerdings ...«
»Wir sind jetzt gewarnt und haben unsere Aufmerksamkeit verstärkt«, glaubte Frankel seinem Chef zu Hilfe kommen zu müssen.
Rogers schüttelte ihn ab wie eine lästige Fliege, die sein graues Haupt umsummte.
»Die Automatik schläft niemals«, knurrte er vor sich hin. »Auch wenn wir die Posten verstärken, die Abschirmung erhöhen und Raketen bestücken, können wir nicht ausschließen, dass sich ein solcher Vorfall wiederholt.«
Er ignorierte den schräg hinter ihm sitzenden Laertes ebenso wie Frankel zu seiner Rechten, sondern sprach ausschließlich mit dem Commodore. Dieser richtete sich in seinem tiefen Sessel auf und zog die Stirn in Falten.
»Das ist schlecht«, sagte er zerstreut. »Dann sind wir weiterhin verwundbar.«
Er stieß die Komarowa, die sich an seine Seite geschmiegt hatte, plötzlich von der Armlehne wie ein Schoßhündchen, das ihm die Hand nass gemacht hat. Svetlana setzte ein Schmollmund auf und stakste mit langbeinigen Schritten um seinen Thron herum. Sie stützte sich auf die Rückenlehne und sah mit vorgeschobener Unterlippe über ihn hinweg.
»Dann sollten Sie«, fuhr Wiszewsky fort, »schnellstmöglich überprüfen, ob der Einschlag auf ein Versagen unseres Deepfields zurückgeht ...«
»Das haben wir bereits getan«, antwortete Rogers. »Wir haben die Aufzeichnungen x-mal gegengecheckt. Die Systeme arbeiteten einwandfrei.«
»Dann gibt es keine wissenschaftliche Erklärung«, sagte der Commodore, der manchmal ein bisschen rasch bereit war, sich der Resignation zu überlassen. »Wie konnte ein massereiches Objekt so plötzlich und so dicht vor unserer Nase auftauchen?«
»Allerdings«, setzte Rogers den unterbrochenen Satz fort, »allerdings registrierten die Instrumente eine geringfügige Anomalie.«
Ihm war anzumerken, dass sich etwas in ihm sträubte, das weiter auszuführen. Offenbar verfügte er über Informationen, die er in keinen Zusammenhang bringen konnte und die er sich vorzutragen scheute. Dabei fürchtete er nicht den Vorwurf, dem Kommandanten des Schiffes wichtige Details vorenthalten zu haben. Über derlei Beweggründe war er erhaben. Aber als militärisch geschulter und faktenorientierter Wissenschaftler war er gewohnt, Spekulationen zu meiden und sie solange zurückzuhalten, bis sie sich erhärtet hatten.
»Was meinen Sie mit Anomalien?«, fragte Wiszewsky.
Mir gegenüber beugte Jennifer sich vor und stemmte das Kinn in beide geballte Fäuste. Ihre Augen wurden groß und rund. Reynolds zog die Brauen hoch und setzte eine skeptische Miene auf.
»Wir können uns die Daten bisher nicht erklären ...«
Rogers wand sich wie ein Praktikant, der dem Projektleiter beichten muss, dass er ein Reagenzglas zerdeppert hat.
»Dem ersten Asteroiden, der sich wenige tausend Kilometer vor unserem Bug, nun ...« – er rang nach Worten wie ein Ertrinkender nach Luft – »nun, förmlich materialisiert hat, ging ein Impuls voraus.«
»Was für ein Impuls«, hakte Reynolds sofort ein. »Ein EMI?«
Jennifer und Laertes warfen einander einen Seitenblick zu. Ich spürte, wie sich etwas Kaltes auf meinen Nacken legte.
»Ein elektromagnetischer Impuls«, wimmerte Lambert. »Sie meinen, wie er bei Kernwaffen auftritt?«
»Eine Thermische Bombe?«, rief Jennifer aus
Aber Reynolds schüttelte nur den Kopf. Er war in tiefes Nachdenken versunken.
»Wir haben nichts von einer derartigen Explosion bemerkt«, beeilte Rogers sich anzumerken. »Es handelte sich auch weniger um einen elektromagnetischen Impuls, denn um einen ...« Er stockte abermals.
»Herrgott Rogers«, entfuhr es Wiszewsky, der für gewöhnlich eher durch Langeweile als durch Ungeduld auffiel. »Nun mal heraus mit der Sprache!«
»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte Rogers, der sich zusammenreißen musste. »Aber ich trage ungern Theorien vor, bei denen es sich noch nicht um bewiesene Erkenntnis handelt.« Er gab sich einen Ruck und sah seinen Kommandanten offen an. »Wir glauben eher«, sagte er mit abgestützter Stimme, »dass es sich um einen Gravitationsimpuls handelte.«
Wiszewsky war anzusehen, dass er mit dieser Information überhaupt nichts anzufangen wusste. Auch ich rätselte, wie diese Entdeckung einzuordnen sei, selbst wenn wir voraussetzten, dass es sich dabei um einen Tatsache und nicht um eine Hypothese handelte.
»Unsere Instrumente«, erläuterte Frankel, »registrierten eine starke Verwerfung des Raumzeitkontinuums. Die Schockwelle lief längs durch unser Schiff hindurch. Sie alle haben die Verwindungen gespürt.«
»Wir können von Glück sagen«, nahm Rogers wieder das Wort, »dass das Schiff nicht durch diese Kräfte zerstört wurde. Allerdings wurden unsere Instrumente geblendet und teilweise ausgeschaltet.«
»Sie meinen«, warf Jennifer ein, »das Deepfield war bereits tot, als der Einschlag erfolgte?«
»Der Meteorit«, nickte Rogers, »vollendete nur noch mechanisch, was zu diesem Zeitpunkt schon Realität war.«
Ich musste einmal tief durchatmen.
»Jemand hat uns ein Tuch über den Kopf geworfen und uns dann eine rechte Gerade verpasst?«
»So ungefähr«, meinte Frankel.
Jennifer hatte sich erhoben. Sie ging erregt auf und ab und schien dabei die einzelnen Punkte noch einmal für sich abzuhaken, als müsse sie an den Fingern zwei und zwei zusammenzählen.
»All das«, sagte sie, »ereignete sich innerhalb weniger Sekunden oder bestenfalls einiger Minuten.« Sie nahm das Schweigen, das sich vor ihr öffnete, als Zustimmung. »Das erklärt aber immer noch nicht, wie der Meteorit so plötzlich vor uns auftauchen konnte.«
Ich suchte Reynolds' Blick, aber er strich sich das Kinn und verharrte in der Pose tiefer Konzentration. Jennifer blieb auf ihrer Wanderung stehen.
»Ich habe doch recht, oder?«, rief sie unsicher.
»Wir verstehen die Natur dieses Impulses noch zu wenig«, brachte Frankel vor. »Ein vergleichbares Phänomen tritt auf, wenn das Schiff einen Warp-Korridor öffnet.«
Das stimmte natürlich, aber die MARQUIS DE LAPLACE lag seit Wochen mit abgeschalteten Reaktoren auf ihrer Parkbahn und andere Schiffe waren in weitem Umkreis nicht vorhanden.
»Wir haben aber«, sagte Wiszewsky, »den Warp-Raum weder geöffnet noch verlassen, und meines Wissens sind wir weit genug von allen bekannten Singularitäten oder sonstigen natürlichen Gegebenheiten entfernt, die Sie als Erklärung heranziehen könnten.«
Er hob die Hand über den Kopf und tätschelte Svetlanas Bäckchen. Im Gegenzug zupfte sie an seinem schütteren Haar, das zerzaust um seine Schläfen herumstand. Das Geturtele dieser beiden war für gewöhnlich schon schwer zu ertragen, aber in angespannten Situationen wie dieser raubte es einem den letzten Nerv.
Wir standen vor etwas Unerklärlichem.
»Ein Gra-vi-ta-tions-impuls?«, war Reynolds zu vernehmen. Seine gedehnte Frage kam wie ein Echo, das nach langer Zeit aus einem tiefen Abgrund herauftönt und mit dem schon niemand mehr gerechnet hat. Mit blindem Blick starrte der WO durch uns alle hindurch. »Ich hatte«, schien er zu sich selbst zu sprechen, »eine solche Idee, konnte sie aber nicht weiter verfolgen.«
»Die Aufzeichnungen«, wiederholte Frankel, »zeigen, dass unsere Instrumente eine gravierende Schwereanomalie registrierten, ehe sie sich verabschiedeten.«
Reynolds brütete vor sich hin.
»Vielleicht ein Zeitfenster«, warf Jill in ihrer schrillen Art ein. »Der Impuls hat zu einem Zeitdefekt geführt, sodass der Meteorit scheinbar ganz plötzlich da war. Er war schon zwanzig Stunden auf den Schirmen unserer Vorfeldaufklärung, aber für uns waren das nur zwanzig Sekunden. Haben Sie schon einen Zeitabgleich mit den Jupiter-Stationen durchgeführt?«
Sie quasselte ohne Punkt und Komma und fuchtelte mit ihren knochigen Händen in der Luft herum, dabei stierte sie hysterisch vor sich hin, während ihr Gesicht sich mit hektischen roten Flecken überzog. Es war furchtbar.
Reynolds schüttelte nur den Kopf.
»Halten Sie den Mund, Lambert«, sagte ich grob, was mir wiederum einen strengen Blick von Jennifer eintrug.
»Das Auftreten eines Gravitationsimpulses«, fuhr Reynolds fort, »könnte die Sachlage erklären.«
Er machte allerdings keine Anstalten, uns in seine Gedankengänge einzuweihen. Wie eine Karikatur hockte er da und grübelte vor sich hin. Wir warteten und schwiegen.
»Nun, man müsste das alles noch einmal durchrechnen«, sagte Frankel nach einer Weile. »Wir sind ja bisher kaum darüber hinausgekommen, die möglichen Fehlerquellen auszuschließen und die Datenlage zu verifizieren.«
Reynolds nickte, als sei er im Stillen zu einem Entschluss gekommen.
»Ja«, sagte er, ohne auf Frankel einzugehen. »Es wäre eine Möglichkeit.«
»Lieber Reynolds«, ließ Laertes sich jetzt vernehmen, der zum ersten Mal das Wort ergriff, seit er zu unserer Runde gestoßen war. »Würden Sie die Freundlichkeit haben, uns an ihren Überlegungen teilnehmen zu lassen?«
Für gewöhnlich war es Sache des greisen Philosophen, ein Ereignis gründlich durchzudenken, wenn er auch eher an den Konsequenzen als an den Details interessiert war.
Er war jahrzehntelang Projektleiter des führenden Institutes für KI gewesen, ehe er sich, von den Unzulänglichkeiten des kybernetischen Bewusstseins enttäuscht, wieder den alten Griechen zugewandt hatte. Zwar hatte er einen Master in Philosophie, bezeichnete sich aber trotzig als Autodidakten. Seit zehn Jahren in Ruhestand versetzt, weigerte er sich, die MARQUIS DE LAPLACE zu verlassen und nahm so Passagier an ihren Einsätzen teil.
Reynolds nickte wieder. Diesmal mochte man eine Zustimmung daraus ablesen und eine Bereitschaft, Laertes' Aufforderung nachzukommen.
»Es gibt da«, sagte er langsam und sehr leise, »dieses Theorem, von zwei Russen. Ich habe mich früher einmal damit beschäftigt ...«
»Der Satz von Chessov und Tschernischenko«, stimmte Laertes ein. »Aus den Dreißigerjahren. Sie müssen damals noch sehr jung gewesen sein.«
»Die Formulierung des Satzes«, lächelte Reynolds, »fiel in die Zeit vor meiner Geburt. Aber er wurde immer noch diskutiert, als ich die Akademie besuchte. Mehrere Semester lang habe ich mir die Zähne daran ausgebissen.«
Die beiden Schlaumeier, der Alte und der Junge, grinsten versonnen vor sich hin, als hingen sie gemeinsamen Jugenderinnerungen nach.
»Ich habe davon gehört«, machte Rogers grimmig. »Rufen Sie uns kurz ins Gedächtnis zurück, wovon der Satz handelt?!«
»Chessov und Tschernischenko«, wiederholte Reynolds abwesend, »genau. Einer der beiden war, glaube ich, blind.«
Laertes legte den Kopf in den Nacken und fixierte einen ganz bestimmten Punkt an der hohen weißen Decke des riesigen Raumes, in dem es jetzt wieder sehr still war.
»Tschernischenko«, bestätigte er. »Er verlor bei einem Laborversuch das Augenlicht.«
»Und Chessov endete später in der Klapsmühle«, fiel Reynolds wiederum ein, den ich langsam ebenfalls dorthin wünschte. Er stieß ein verächtliches Grunzen durch die Nase aus. »Beides trug nicht unbedingt dazu bei, die Reputation der beiden zu erhöhen und ihre Theorie mit Plausibilität auszustatten.«
Laertes schmunzelte, ohne jedoch den Blick von dem rätselhaften unsichtbaren Punkt fünf Meter über uns zu nehmen.
»Dass ein Geisteskranker Geister sieht«, sagte er, »heißt nicht, dass diese nicht existieren; vielleicht können sie einfach nur von uns Normalen nicht wahrgenommen werden.«
»Und mit solchen geisteskranken Geistern wollen Sie uns aus der Patsche helfen?!«, brauste Rogers auf.
Reynolds nickte ein »Ja, ja, ist ja schon gut!« in den Raum.
»Der Satz von Chessov und Tschernischenko könnte in der Tat erklären, was hier vorgefallen ist. Ich muss das Theorem nicht näher ausführen, aber wir können es als Modell benutzen. Es vermag zu begründen, warum unsere Instrumente ausfielen, die gegen elektromagnetische Impulse bis zu mehreren Gigaelektronenvolt abgeschirmt sind, und warum Meteore an Raumzeitpunkten auftauchen konnten, an denen sie rechnerisch nicht vorgesehen waren.«
»Dann erklären Sie uns das mal«, sagte Wiszewsky, der während der letzten Minuten verdattert von einem zum anderen gesehen hatte. Jetzt schlug er Svetlanas Hand weg, die gerade sein rechtes Ohr liebkost hatte; das war immer das Zeichen, das er sich besonders konzentrieren musste.
»Mit Erklärungen kann ich da kaum dienen«, nuschelte Reynolds. »Das Theorem konnte bis jetzt weder bestätigt noch falsifiziert werden. Und selbst wenn wir seine Gültigkeit annehmen, beschreibt es nur bestimmte Phänomene, bzw. sagt diese voraus. Realisieren ließen sich diese bisher ebenfalls nicht, und wenn sie eintreten sollten, wüssten wir nicht, warum dies so wäre. Chessovs Satz böte lediglich ein mathematisches Gerüst zu ihrer Beschreibung.«
»Es scheint jedenfalls hinzuhauen«, brummte Dr. Rogers. »Aber ich will natürlich Ihrer Theoriebildung nicht vorgreifen.«
»Wir wissen darüber viel zu wenig«, beschleunigte Reynolds seinen Rückzug. »Unsere Experimente in dieser Richtung haben wir vor mehr als zwei Jahrzehnten eingestellt. Zufällig nahm ich an der Kommissionssitzung teil, die das Ende des unierten Gravitationsprogramms zu beschließen die Ehre hatte, noch bevor dieses irgendwelche Resultate hatte zeitigen können. Ich legte natürlich meinen Protest ein; Sie finden ihn in den Akten des Wissenschaftlichen Rats.«
»Ha!«, brüllte Rogers plötzlich und schmetterte sein Glas auf den Boden. Da es aus bruchfestem Elastil bestand, prallte es zurück und flog in spitzem Winkel durch den Raum. Die Hostess, die sich gerade genähert hatte, um die leeren Behältnisse einzusammeln, suchte ihr Heil in kopfloser Flucht.
»Sie meinen das Annihilationsprogramm?!«, schrie er. »Entschuldigen Sie ...«
Wenn wir das letztere auf seinen Ausbruch gemünzt hätten, wären wir allerdings schief gewickelt gewesen. Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und tobte weiter vor sich hin.
»Ich bin die ganze Zeit auf dem Schlauch gestanden«, feixte er und strahlte uns cholerisch an.
»Sie haben recht«, stimmte Reynolds zu. »Das Annihilationsprogramm, zu dem es nie gekommen ist, da es noch vor dem Eintritt in die praktische Phase von der Liste der förderungswürdigen Projekte gestrichen wurde.«
»Und Sie nahmen an der fatalen Sitzung teil?«, fragte Rogers grollend.
»Ich gab meinen Widerstand zu Protokoll«, nickte unser WO ungerührt. »Natürlich wurde ich überstimmt. Es gab nur eine Gegenstimme und ein oder zwei Enthaltungen.«
»Ich kenne das Protokoll«, erwiderte der Oberste Planetologe. »Die offizielle Begründung lautete, dass diese Entwicklungen zu viel Zeit benötigen würden; vorsichtshalber stieg man gleich aus ihnen aus.«
Ich entsann mich noch gut dieser Zeit, die von ungeheurer Dumpfheit erfüllt gewesen war. Von solchen militärischen Geheimprojekten ahnten wir angehenden Offiziere damals noch nichts, aber es wurden auch sonst allerorten die Mittel gestrichen und gekürzt. Zum Glück befand sich die MARQUIS DE LAPLACE damals gerade auf einer mehrjährigen Exkursion zur Vega, sonst hätte man die Hälfte ihres Personals abgezogen und zur Wiederaufforstung oder in der Kinderbetreuung eingesetzt. Es war wirklich schlimm: Während die Menschheit in nie vermessene Räume aufbrach und neue Horizonte öffnete, regierten auf der Erde spießige und verklemmte Kleingeister. Glücklicherweise war diese Phase auch wieder vorübergegangen, aber ihre Versäumnisse lagen bis heute als schwere Hypothek auf uns. Das trat nicht zuletzt in diesem Gespräch zu Tage.
Andererseits, überlegte ich noch, war es auch eine sehr glückliche Zeit gewesen. Ich hatte Jennifer kennen gelernt und wenig später waren wir zu unserem ersten gemeinsamen Flug aufgebrochen. Das private Glück gedieh also auch in politisch unfruchtbaren Zeiten, es wurde vielleicht sogar durch sie begünstigt, während die großen historischen Wendemarken oft genug von Krieg und Zerstörung, Tragödien und Katastrophen begleitet wurden. Beides ließ sich nicht gegeneinander aufrechnen, und deshalb durfte das Glück des Einzelnen nicht im Mittelpunkt strategischer Überlegungen stehen.