Kitabı oku: «Schlacht um Sina»

Yazı tipi:

Matthias Falke

Schlacht um Sina

© 2013 Begedia Verlag

© 2008 Matthias Falke

Umschlagbild - Alexander Preuss

Covergestaltung und Satz - Begedia Verlag

Lektorat - André Skora

ebook-Bearbeitung - Begedia Verlag

ISBN-13 - 978-3-95777-029-5 (epub)

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Das ENTHYMESIS-Universum

Eine Science-Fiction-Saga in sieben Trilogien

1. Laertes

2. Exploration

3. Gaugamela

- Planetenschleuder

- Museumsschiff

- Schlacht um Sina

4. Zthronmic

5. Tloxi

6. Jin-Xing

7. Rongphu

Kapitel 1. Casus Belli

Die Kraftfelder ließen nur leichte Brisen durch. Die eisigen Böen, die von den Bergen herunterkamen, prallten von ihnen ab. Es war, als säße man tausend Meter tiefer im alpinen Sonnenschein und genieße das Panorama, das in der Tat atemberaubend war. Der klare, wolkenlose Märzenhimmel hatte etwas Euphorisierendes, er schien elektrisch zu prickeln. Das Licht war hell und rein wie Elastalstahl. Die Gipfel, die noch weit über uns aufragten, schimmerten grünlich, als habe sich auf den kristallischen Basaltformationen ein Flor von Grünspan angesiedelt. Aber es war nur die froststarre Vorfrühlingssonne, die um die höchsten Spitzen und Zinnen webte. Einen Kilometer tief, fast senkrecht unter uns, wand sich der junge Fluss durch das zersägte und treppenförmig eingeschluchtete Tal. Dort blühten schon die wilden Mandelbäume, die das andesitische Braun der Geröllhänge mit einem Duft von zartestem Rosa überzogen.

»Vor einer Woche lag noch Schnee«, sagte Gordon Kauffmann und blickte zu den Bergzügen hinauf.

Jetzt war überall der anstehende Fels zutage getreten. Nur in den Rinnen und Schrunden, die niemals die Sonne zu sehen bekamen, hielt sich noch schwarz schimmerndes Eis. In den nächsten Tagen würde sich die Talsohle zu begrünen beginnen. Die ganze Szenerie würde dann allmählich ihre Wildheit einbüßen und eine feriale Milde gewinnen.

Wir sahen der Ordonnanz zu, die das Geschirr abräumte. Mit versonnenem Lächeln weilten unsere Blicke auf der schlanken Gestalt der zwanzigjährigen Offiziersanwärterin, die eine Uniform aus hellgrauem Leinen trug. Aus echtem Leinen, wie ich mit einer leichten Verdutztheit feststellte. Kauffmann missinterpretierte die wohlwollende Verweildauer meines Blickes, dem er mit süffisantem Lächeln folgte. Er bot mir eine Zigarette an. Ich lehnte dankend ab, denn ich hatte das Qatten seit langem aufgegeben. Von einem Tag auf den anderen vertrug ich es nicht mehr, und meine derzeitige, immer noch geschwächte Verfassung war nicht dazu geeignet, wieder damit anzufangen. Aber als er sich seine Zigarette ansteckte und der Ausläufer einer Windböe die ersten gekräuselten Rauchflocken zu mir trieb, stellte ich fest, dass er Tabak rauchte. Innerhalb weniger Momente war das die zweite Überraschung, die einen nostalgischen Anflug hatte. Ich war mir nicht im klaren darüber, ob diese Nostalgie angebracht war. Sie hatte etwas von sauren Trauben. Die Menschheit, die ihre interstellaren Ambitionen hatte begraben müssen, entdeckte rustikalere Freuden wieder und wies mit cowboyhaftem Grinsen ihre handgemachten Lederstiefel und bestickten Westen vor.

Ich behielt diese Gedanken für mich. Schließlich war Kauffmann, der Persönliche des Kanzlers, noch der Wohlwollendste und Verständnisvollste unserer Gesprächspartner. Seit unserer Landung auf der Plattform der Bunkerstadt waren einige Tage vergangen. Während der ersten achtundvierzig Stunden waren wir künstlich ernährt worden. Ich hatte diese Zeit liegend verbracht. Die besten Ärzte, die der Zivilregierung zur Verfügung standen, hatten uns untersucht. Sanitätsroboter hatten uns von Kopf bis Fuß gescannt, um festzustellen, ob unsere Unterernährung und die Strahlenbelastung während des beispiellosen Fluges bleibende Schäden in unseren inneren Organen hinterlassen hatten. Schließlich hatten sie Entwarnung gegeben. Wir waren abgemagert, aber kerngesund. Jennifer hatte es schon während der Quarantäne nicht im Bett gehalten. Sie war zwischen den Visiten immer auf den Beinen und versuchte Kontakte zu knüpfen und Informationen über den Stand der Dinge einzuholen. Alles, was wir dabei erfuhren, war, vorsichtig ausgedrückt, ernüchternd.

Der Kanzler, Seine Eminenz Cole Johnson, ließ sich zu einem persönlichen Besuch auf unserer Station herab, die hermetisch abgeriegelt war. Er tauschte ein paar Höflichkeitsadressen und andere Floskeln und stellte uns eine Auszeichnung in Aussicht. Auf Jennifers forsch vorgetragene Erkundigung nach dem Stand der Rüstungsanstrengungen reagierte er verstimmt und erklärte die Audienz für beendet. Er stellte Kauffmann zu unserer Begleitung ab.

Auf mehr Verständnis stießen wir bei der Unionsverwaltung der Fliegenden Abteilung. Hier wies man unser Ansinnen zumindest nicht vollkommen ab. Aber auch der zuständige Minister verhielt sich ausweichend. Er sagte, wir müssten zunächst wieder zu Kräften kommen, womit er plump auf Zeit spielte.

Das Mittagessen war eine meiner ersten festen Mahlzeiten gewesen, die ich ohne ärztliche Aufsicht hatte zu mir nehmen können. Nach einer leichten Hühnerbrühe servierte die Ordonnanz im schlichten Feldgrau eine zarte Lammkeule mit echtem Reis und einer dünnen Sauce aus gedämpften und passierten Gemüsen. Alles war echt, in Erde gewachsen, unter den Strahlen der Sonne gereift. Der Saft aus Blut, Fett und der glasierten Kruste, in dem das Lammfleisch schwamm, weckte animalische Instinkte in mir. Am liebsten hätte ich die Keule in die Hand genommen und mit den Zähnen abgenagt, aber ich wusste mich zu beherrschen. Dennoch blieb mein Appetit, der schon eher ein Wolfshunger war und der jetzt erst mit ganzer Macht erwachte, Kauffmann nicht verborgen. Er schmunzelte, als er zusah, wie ich die letzten Saucenreste mit weißem Brot auftunkte und dann mit gierigen Blicken die Bedienung herbeirief, als habe ich vor, ihr das rohe Fleisch von den Schenkeln zu fressen. Leider war mein Magen noch zu entwöhnt, als dass ich die Tafelfreuden schon hätte strapazieren können. Ich verzichtete auf den Nachtisch ebenso wie auf Kauffmanns atavistisches Tabakangebot, brachte aber nicht die Willenskraft auf, dem Mokka zu widerstehen. Während ich in kleinen Schlucken an dem winzige Tässchen nippte – sinesisches Porzellan, wie ich mit leichtem Schwindel feststellte – und den langbeinigen Schritten der Ordonnanz folgte, kam Jennifer auf die Terrasse gestürmt. Sie registrierte meinen Blick und erfasste mit gerunzelter Stirne sein Objekt. Sofort ließ sie die ahnungslose Offiziersanwärterin antreten und Meldung machen. Sie stauchte sie zusammen und schickte sie mit der Bestellung einer Kokos-Mango-Milch in die Küche. Dann nahm sie neben uns Platz. Kauffmanns Züge malten eine Maske des Bedenklichen.

Die Ordonnanz kehrte wieder, knallte die Hacken zusammen, pfefferte den hohen, safranfarbenen Kelch vor Jennifer auf den Tisch, salutierte und bellte den Namen des Getränks heraus. Dann wirbelte sie wie im Formaldienst auf dem Absatz herum und zog sich in Warteposition zurück. Der ganze Auftritt war ein Affront. Niemand nahm ihn zur Kenntnis.

»Sekretär«, begann Jennifer, nachdem sie den ersten Schluck aus dem langen Strohhalm gesogen hatte, »wir müssen uns unterhalten.«

Kauffmann lehnte sich gönnerisch zurück, breitete die Arme aus und paffte auf seiner Zigarette, die er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hielt. In der voraufgegangenen Stunde hatte ich in freundlichem Konversationston mit ihm geplaudert. Alle neuralgischen Themen hatten wir säuberlich ausgespart. Nur unterschwellig war es ein gegenseitiges Belauern und Umkreisen gewesen. Jennifer wischte die Höflichkeit des Protokolls mit einer Geste vom Tisch und ging zum Klartext über.

»Wir vergeuden kostbare Zeit«, sagte sie schroff. »Seit zweiundsiebzig Stunden sind wir hier, und dieser Umstand wird den Sinesern kaum verborgen geblieben sein.«

Kauffmann reagierte mit einer abschwächenden Geste, die besagte, dass er ihre Hartnäckigkeit nicht nachzuvollziehen vermochte. Ihre oder unsere Fixiertheit auf die Sineser hielt er für eine paranoide Marotte, die er, wenn überhaupt, nur aus Anstand zur Kenntnis nahm. Was ich bisher aus ihm herausgebracht hatte, war, dass sinesische Warpraumsonden und Aufklärungsdrohnen im Sonnensystem patrouillierten. Ich sprach ihn nun darauf an, nicht zuletzt, um Jennifer zu bedeuten, dass wir unser gemeinsames Mittagessen keineswegs ergebnislos vertan hatten.

»Es sind immer mindestens zwei«, nickte er, »maximal fünf, die gleichzeitig im erdnahen Raum anwesend sind. Meist fliegen sie auf Höhe der ehemaligen Jupiterbahn ein und durchkreuzen die Region. Wir überwachen sie genau. Bis jetzt ging keinerlei Bedrohung von ihnen aus.«

Jennifer brach in ein schrilles Gelächter aus. »Die Gefangenen schreiben die Schichtpläne der Gefängniswärter mit und sind stolz darauf, dass sie von ihnen nicht geschlagen werden.« Sie schüttelte den Kopf und dreht ihr Cocktailglas zwischen den Händen. »Im Ernst, Herr Sekretär«, sagte sie in bewusster Betonung des Offiziellen, »wir reden hier nicht über Touristenschiffe. Was wissen Sie über die Routen dieser Sonden, über ihre Muster, über den Rhythmus ihrer Ablösung?«

Kauffmann drückte seine Zigarette aus. Mit leichtem Seufzen ließ er den letzten Rauch durch die Nase strömen. »Sie sind mit Semi-KI-Einheiten ausgestattet, aber sie scheinen auf programmierten Algorithmen zu operieren. Unseren Flugverkehr zu den Marsbasen haben sie nicht beeinträchtigt, obwohl unsere Versorgungsschiffe ihnen manchmal unabsichtlich recht nahe gekommen sind.« Er sah mich genervt an, aber ich hielt seinem Blick stand und erlöste ihn nicht aus Jennifers Verhör. »Sie kommen und gehen unregelmäßig. Bis jetzt ist es uns nicht gelungen, das Muster dahinter aufzuschlüsseln. Im statistischen Mittel vergeht jeweils etwa ein Monat, bis wieder eine von ihnen ankommt oder verschwindet.«

Jennifer biss sich auf die Lippe und dachte angestrengt nach. »Wann war das letzte Ereignis dieser Art?«, fragte sie.

»Vorige Woche«, sagte Kauffmann schlicht. »Ich wiederhole, dass es sich nur um einen Mittelwert handelt und dass uns das Muster, das dem zugrunde liegt, mathematisch nicht aufzulösen gelungen ist.«

Jennifer sah durch ihn hindurch. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sich eine Sinesische Warpsonde im Trümmerfeld des einstigen Jupiter-Systems materialisierte, sich auf die inneren Planeten ausrichtete und dann in einem komplizierten Zickzack den Raum zwischen Mars- und Venus-Bahn durchforschte. Ein Monat, wenn das die Zeit war, die zwischen zwei Ablösungen verging, mochte als langer Zeitraum erscheinen in einer Epoche, die in Nano- und Femtosekunden rechnete. Andererseits war es ein vernachlässigbares Intervall verglichen mit den vielen tausend Jahren, die ein Funksignal nach Sina City unterwegs gewesen wäre. Wieder mussten wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass »Echtzeit« auf galaktischer Ebene ein dehnbarer Begriff war. Und was konnte die unter Kuratel gestellte Menschheit in ein paar Wochen ausrichten? In der scheinbar großzügig bemessenen Beobachtung lag auch etwas von Herablassung. Die Restmenschheit auf der Erde und den wenigen verbliebenen Außenposten glich einem Gefangenen, dessen Kerkertür man offen stehen ließ, um ihn zu demütigen. Nur ab und zu kam einer der Aufseher vorbei, klopfte mit dem Schlagstock an das unverriegelte Gitter und vergewisserte sich, dass alles in Ordnung war.

»Es gibt kein Muster«, warf Jennifer ein. »Sie arbeiten eine Random-Reihe ab. Alles, was sie uns gegenüber tun, tun sie mit Hochnäsigkeit. Die Sonden sollen gar nicht reagieren. Sie scannen automatisch die Region, als ob sie ein unbesiedeltes Gebiet erforschten, und übermitteln die Ergebnisse dann in mehr oder weniger regelmäßigen Routinen nach Sina, wo sie von gelangweilten Beamten der Sicherheitsbehörden ausgewertet werden. Im Grunde leben wir in einem Reservat, in einer Art Tierpark. Man achtet darauf, dass keine Krankheiten ausbrechen, die den Bestand gefährden, und kümmert sich nicht weiter um das Treiben, das dort stattfindet.«

Ihre Stimme gewann an Schärfe. Eine tiefe Furche schlitzte ihre Stirn. Es war schwer zu entscheiden, was sie mehr aufbrachte, die arrogante und selbstsichere Überheblichkeit unserer Bewacher – oder die Gleichgültigkeit der Überlebenden, die uns bis jetzt auf jeder Stelle und bei jedem Gespräch gegenübergestanden hatte.

»Ich bitte Sie«, sagte Kauffmann sichtlich beherrscht. »Wir leben in gutem Einvernehmen mit ihnen. Seit dem Jupiter-Ereignis haben sie sich keinen aggressiven Akt mehr zuschulden kommen lassen.«

Jennifer stieß nur verächtlich die Luft durch die Nase aus; sie sah es als unter ihrer Würde an, darauf zu antworten.

»Wir haben«, fuhr der Persönliche des Kanzlers der Zivilverwaltung fort, »unsere Toten begraben und die Schäden beseitigt. Die Erdbahn ist stabilisiert. Die Landwirtschaft kann die Bevölkerung versorgen. Wir halten den Kontakt zu den Marsbasen aufrecht, und wir konnten sogar neue Werften im Asteroidengürtel gründen. Keiner unserer Schritte wurde in irgendeiner Weise beeinträchtigt oder kommentiert.«

Jennifer schlürfte geräuschvoll an ihrem Drink. Sie schwieg und ließ die Blicke über die vorfrühlingshafte Helle der Hochgebirgslandschaft gleiten. Hoch oben, zwischen den Zinnen der Grand Teton-Gipfel, zog ein Steinadler seine Kreise. Ein Schwarm Dohlen strich unter seiner Annäherung von einer der Spitzen ab und trudelte vor der sonnenbeschienenen Felswand nach unten. Jeder dieser Vögel vollbrachte eine fliegerische Meisterleistung, und doch sah es aus, als riesele welkes Laub vor dem gleichgültigen Felsmassiv herab.

»Landwirtschaft ...«, Jennifer spuckte das Wort aus, als habe sie einen ekelhaften Geschmack im Mund. »Wir sind in Sina City gewesen, und wir haben gesehen, wo diese Art von Landwirtschaft endet.« Sie beugte sich über den Tisch und legte Kauffmann eindringlich die Hand auf den Unterarm. »Sekretär«, sagte sie mit gesenkter, aber fester Stimme. »Sie sind der einzige Gesprächspartner, auf dessen Verständnis wir hoffen können. Machen Sie Ihren Einfluss auf den Kanzler geltend. Die sinesische Bedrohung ist kein Hirngespinst. Sie ist Realität. Dass sie hier nicht wahrgenommen wird, liegt daran, dass man hier überhaupt nichts wahrnimmt, was sich jenseits des Distrikts Wyoming ereignet.«

Kauffmann schluckte. Dass sie ihm unsere persönlichen Erfahrungen ins Gedächtnis rief, verfehlte seine Wirkung nicht. Er war sichtlich beeindruckt.

»Nur, wer sich nicht rührt, spürt seine Ketten nicht«, versuchte ich ihr zu Hilfe zu kommen.

Aber weder sie noch der Sekretär gingen darauf ein. Jennifer ließ seinen Arm los und richtete sich stolz in ihrem gravimetrischen Stuhl auf. »Heute Nachmittag werde ich einen Truppenbesuch vornehmen. Und am Abend werde ich dem Obersten Stab unsere Pläne vorlegen. Veranlassen Sie das Notwendige!«

Selbst mir dämmerte erst nach einer Weile, dass diese Ankündigungen in Wahrheit eine Bitte gewesen war. Aber durch die sprachliche Form hatte sie ihr Gegenüber einem starken rhetorischen Druck ausgesetzt. Es war ein primitives Mittel, aber es verfing.

»Ich will sehen, was sich arrangieren lässt«, sagte Kauffmann kleinlaut.

Aber Jennifer hatte sich schon erhoben. Die Ordonnanz war zur Stelle, um den Tisch abzuräumen.

»Lassen Sie mich in Ruhe«, fauchte Jennifer das Mädchen an, das trotz eiserner Beherrschung zusammenzuckte. Dann war sie verschwunden. Ihre Schritte hallten noch auf dem Marmor der großen Halle wider, die für Empfänge und Staatsbankette genutzt wurde. Kauffmann wechselte einen gequälten Blick mit mir. Er schien zu überlegen, ob er mich bewundern oder bedauern solle. Ich verzog keine Miene. Während wir hineingingen, lenkte ich das Gespräch auf die Kapazität der Werften, über die er sich aber nur ausweichend äußerte.

*

Der Chronist

Dies ist die Geschichte der Diaspora. Die Geschichte einer Diaspora ist zwangsläufig die Geschichte eines Krieges, denn die Diaspora ist selbst nur ein Zwischenblatt und eine Episode in einem Zeitalter des Krieges. Keiner der großen Kriege bestand aus unablässigem Schlachten. Weder im Peloponnesischen, noch im Punischen Krieg, weder im Dreißigjährigen, noch in jenem anderen dreißigjährigen Krieg, der aus den beiden sogenannten Weltkriegen bestand, wurde ununterbrochen gekämpft. Es gab Sommer und halbe Jahr, vielleicht sogar ein eingestreutes Dezennium, in dem die Waffen schwiegen, so wie es auch in der Eiszeit einen Sommer gibt. Und dennoch sprechen wir von diesen Jahreszeiten nur im Hinblick auf den ganzen Jahreskreis, der im Zeichen des Mars begonnen und geschlossen wurde. Im Nachhinein, auf dem Schreibpult des Chronisten, der die Ereignisse im sonnigen Post festum aufzeichnet, ist auch die Diaspora nur ein solcher Einschub und Schalttag im großen feurigen Rad des Sinesischen Krieges. Dieser Krieg hatte seinen ersten Abschluss, sein Zama, in der Schlacht von Persephone, und sein Versailles im Vertragswerk von Lombok. Es wurde gefeiert als Beginn eines Jahrtausends des Friedens, wie die meisten derartigen Abmachungen im Laufe der Geschichte, die auserkoren waren, den Frieden dauerhaft auf Erden zu verankern, und die doch nur ein vergängliches Intermezzo eröffneten und den Vorwand, ihn zu brechen, in der Regel gleich mitlieferten. Im blutigen Nachhinein ist der Frieden oft nur ein Atemholen; oft genug dient er nichts anderem als neuen Anstrengungen der Rüstung. Der Frieden von Lombok wurde durch die Aggression gebrochen, die zum Thronsturz des Jupiters und um ein Haar zur Auslöschung der Menschheit führte. Die Überlebenden zerstreuten sich in die Diaspora. Die Diaspora, sagten wir, mündet bisweilen in einen neuen Krieg – der für den Historiker nichts anderes als das Wiederaufflammen von Bränden ist, die im Unsichtbaren schwelten, aber nie gelöscht waren –, so wie ein Winter bisweilen in einen Frühling und wie auch die dunkelste Nacht bisweilen in einen neuen Morgen mündet. Kein Volk kann dauerhaft in der Diaspora leben, denn wie ein Mensch sich nicht ein Leben lang dem Aufruf, der vom Schicksal an ihn ergeht, entziehen kann, so kann auch kein Volk auf Dauer außerhalb dessen leben, was seine Aufgabe und sein Wesen im Geschichtsprozess zu sein hat; denn nichts und niemand kann außerhalb seiner selbst sein. Das heißt nicht, dass, diese Aufgabe anzunehmen, gleichbedeutend damit wäre, ihr gewachsen zu sein. Nicht jeder, der sein Kreuz auf sich nimmt, vermag es auch zu tragen; aber keiner kommt umhin, es aufzunehmen. Und nur darum geht es. In keiner Schlacht gibt es eine Garantie dafür, dass sie siegreich entschieden wird. So gesehen gibt es immer zwei Parteien, und nur eine kann als Sieger aus dem Treffen gehen. Aber dennoch muss die Schlacht geschlagen werden. Der Sinn einer solchen Handlung liegt nicht in ihrem vordergründigen Zweck. Darin verbirgt sich das Mysterium des Opfers. Leonidas wusste ganz genau, wofür er und tausend Spartiaten bei den Thermopylen fielen. Es war nur vordergründig der Zeitgewinn, der den restlichen Truppen den Rückzug und die Räumung Athens ermöglichte. Es wäre ein sehr oberflächliches Verständnis des geschichtlichen Vorgangs, wollte man den Ruhm einer solchen Tat und Selbstaufopferung in einer bloß taktischen Überlegung sehen. Leonidas und die Seinen kämpften nicht, um zu fallen, auch wenn eine utilitaristische Betrachtungsweise nicht umhin könnte, den aussichtslosen Kampf in solchen Kategorien zu erfassen; sie fielen, weil sie kämpften, und das ist ein Unterschied. Kein Soldat, der wissentlich und mit innerer Bejahung in den Tod geht, fällt »für« irgendetwas. Wer gäbe schon sein Leben für einen taktischen Vorteil, einen Geländegewinn, ein Kreuz auf einem Messtischblatt, einen Zeitvorteil von ein paar Stunden, einen Acker, »nicht groß genug, die Erschlagenen drauf zu begraben«, oder für so etwas Abstraktes wie einen strategischen Punkt? In Pompeji fand man die Überreste eines römischen Soldaten, den die pyroklastischen Ströme des Vesuvs auf seinem Posten überrascht hatten. Die Hohlform seines Körpers, von der Asche, die ihn tötete, umschlossen und konserviert, stand aufrecht, in voller Rüstung und tadelloser Haltung. Er hatte, im Angesicht des sich heranwälzenden Stroms aus glühendem Gesteinsmehl, seinen Posten nicht aufgegeben. Man hatte wohl im Durcheinander vergessen, ihn vorschriftsmäßig abzulösen, und so blieb er auf dem Flecken stehen, auf den der morgendliche Wachantritt und das Schicksal ihn gestellt hatten. Ein solches Verhalten mag unsinnig sein, aber ist es deshalb auch schon sinnlos? Keiner von uns hat unterschrieben, ehe er ins Dasein geworfen wurde; keiner von uns hat entschieden, ob er groß oder klein, dick oder dünn, blond oder braun sein wolle. Und doch muss jeder den Weg gehen, den die Moira für ihn vorgesehen hat. Keiner hat einen Einfluss darauf, an welcher Stelle des großen Maelstroms, den der Geschichtsprozess darstellt, er ins Wasser fällt, an welcher Schwelle er über das Große Katarakt schießt. Unsterblich ist keiner, und den wenigsten wird es vergönnt sein, »für« etwas zu sterben, für die gerechte Sache, das Vaterland, den Durchbruch, der die Schlacht entscheidet, oder das kleine Wunder, das gerettete Kind. Aber wir sollten dem Beispiel des römischen Soldaten von Pompeji folgen und aufrecht sterben, in Haltung, und dem Geschick in voller Rüstung entgegentreten. Das hat am Ende etwas mit dem Verhältnis des Menschen zu Freiheit und Knechtschaft zu tun. Der Unterschied liegt in der Beziehung, die der Mensch zum Tode hat. Der Herr ist bereit, für seine Sache zu sterben, während der Knecht das Leben vorzieht. Der Herr will lieber auf Leben und Tod für seine Freiheit kämpfen; der Knecht gibt sich mit dem Leben in Unfreiheit zufrieden. Es leuchtet ein, dass es hier nicht mehr darum geht, worum man kämpft und wofür einer stirbt. Auch das äußerlich ganz sinnlose Opfer kann einen sinnvollen Tod begründen. Denn es gibt hier Zonen, die jenseits des Widerspruches von Sinn und Sinnlosigkeit stehen: dort ist die metaphysische Freiheit des Einzelnen, der seinen Tod auf sich nimmt. Nicht darum geht es, die Schlacht zu gewinnen oder zu verlieren, sondern darum, sie zu schlagen. Denn die Schlacht ist nichts anderes als eine krude Metapher für das Leben.

*

Ich fand Jennifer in der kleinen Suite, die man uns zugewiesen hatte. Sie war kaum größer als unsere Kabine auf der MARQUIS DE LAPLACE. Ein Zimmer mit gravimetrischem Doppelbett, eine winzige Nasszelle und einer Kommunikationseinheit. Durch ein schmales, schießschartengroßes Fenster konnte man auf das wilde Hochtal hinaussehen. Und, immerhin, es gab einen kleinen Balkon, den man durch eine Tür betrat, die tiefer als breit war und so schon eher einem kurzen Stollen glich. Sie ließ die Dicke der durch Quarzbeton verstärkten Felswände ahnen, in die die gesamte Anlage hineingebaut war, eine Bunkerstadt für mehrere zehntausend Menschen. Draußen fand man sich auf einer Plattform wieder, kaum zwei mal drei Schritte groß, weit oberhalb des Talgrundes, in dem das grüne Flüsschen schäumte. Ein Geländer verhinderte, dass man in die Tiefe stürzte; ein Kraftfeld hielt den scharfen Wind ab, der von den Gipfeln und den Eisfeldern herunterkam.

Hier stöberte ich Jennifer auf, die, die Arme vor der Brust verschränkt, auf der winzigen Fläche hin und her stiefelte. Natürlich hatte sie recht: die Zeit lief uns davon. Etliche Wochen waren vergangen, seit wir aus Sina City hatten fliehen können. Wir hatten Taylor und Lambert dort unter ungewissen Umständen zurücklassen müssen. Gegenwärtig wussten wir nicht einmal, ob sie noch lebten. Taylor war schwer verletzt gewesen. Der abermalige Verlust des linken Arms hatte ihn sehr geschwächt, und zumindest während unseres Aufenthaltes hatten die Tloxi keine Anstalten gemacht, für Ersatz zu sorgen. Wir konnten nur hoffen, dass es sich dabei um eine, wenn auch grausame, Taktik zu ihrer eigenen Sicherheit gehandelt hatte. Eigentlich dürfte die Beschaffung einer Prothese sie nicht vor unüberwindliche Hindernisse stellen; deshalb mussten wir davon ausgehen, dass der Verweigerung ein Kalkül zugrunde lag – und dass Taylor geholfen werden konnte, nachdem wir in dem gekaperten Shuttle davongeflogen waren. Andererseits war davon auszugehen, dass die sinesischen Nachstellungen nach unserer Flucht an Brutalität zunahmen. Was Jills und Taylors gegenwärtiges Schicksal betraf, konnten wir uns nur in Schweigen hüllen und alle diesbezüglichen Spekulationen zu unterdrücken versuchen.

Und mehrere Monate waren vergangen, seit wir die MARQUIS DE LAPLACE verlassen hatten und dem rätselhaften Museumsschiff, über dessen Herkunft wir immer noch nichts Endgültiges wussten, in die Falle gegangen waren. Zum damaligen Zeitpunkt war die Situation unseres Mutterschiffes ebenfalls traurig gewesen. Zu den neugegründeten Kolonien in der Eschata-Region fehlte jeder Kontakt. Die Bemühungen der Planetarischen Abteilung, mit der sinesischen Technologie gleichzuziehen und eine verlässliche Erschließung des Warpraums bereitzustellen, kamen aus der Experimentierphase nicht heraus. Auch hier konnten wir nur hoffen, dass die Anstrengungen der Sineser, die zweifellos nochmals intensiviert worden waren, noch nicht zum Erfolg geführt hatten, denn weder die MARQUIS DE LAPLACE, noch die Kolonien auf Eschata wären einer Attacke gewachsen. Freilich wussten wir nicht, wie es jetzt dort aussah, aber eine intergalaktische Streitmacht konnte man nicht aus dem Boden stampfen. Auch die vereinigte Entschlossenheit solcher Männer wie Commodore Wiszewsky, WO Reynolds und General a.D. Dr. Rogers konnte keine Wunder bewirken.

Und dennoch schmiedeten wir Pläne. Alle unsere Hoffnungen ruhten auf den irdischen Stellen, die wir in einem niedagewesenen kosmischen Salto mortale erreicht hatten. Aber hier stellte man sich taub. Wir wurden hingehalten und abgewiesen. Die zivilen Stellen ließen offen durchblicken, dass sie sich den Status quo nicht vermiesen lassen würden. Sie hatten sich in dem Stillhaltefrieden häuslich eingerichtet. Dass es ein entwürdigender und noch dazu höchst fragiler Zustand war, der jeden Augenblick dadurch beendet werden konnte, dass eine graue Eminenz in Sina City eine Taste betätigte und einen Befehl grunzte, schien sie dabei nicht im geringsten zu stören. Es war ein Lombok mit umgekehrten Vorzeichen. Aber während die Union nach der siegreich verlaufenen Schlacht von Persephone ihre Bedingungen diktiert und schriftlich festgehalten hatte, fehlte bis heute jede Erklärung von Seiten der Sineser, die die Verantwortung für den Warpsonden-Angriff auf Jupiter übernahm oder sich der Mühe unterzog, den seither herrschenden völkerrechtlichen Schwebezustand in Worte zu fassen.

Das alles beunruhigte niemanden. So herzlich man uns aufgenommen hatte, so ausweichend verhielt man sich nun – und umso ungehaltener, je mehr wir darauf beharrten, dass weitreichende Schritte in die Wege geleitet werden mussten.

»Am Ende müssen wir sie vor vollendete Tatsachen stellen«, brummte Jennifer düster und sah brütend in den Abgrund hinunter, der sich vor ihr öffnete. Sie ließ offen, was das im einzelnen heißen könnte, aber ich konnte mir in etwa vorstellen, was sie ausheckte. Ihr waren das Temperament, die Verzweiflung und die kreative Aggression zuzutrauen, um in einer wohldurchdachten Kurzschlusshandlung eine sinesische Reaktion zu provozieren. Dann würden die irdischen Stellen gezwungen sein, zu handeln. Ich hoffte, verhindern zu können, dass es soweit kam. Wir wären unweigerlich zwischen die Fronten geraten. Gegenwärtig hatten wir nicht einmal mehr Zugang zu unserem Shuttle, das uns unermüdlich einmal um die Welt getragen hatte. Nach unserer Landung auf einer der Außenplattformen hatte man es zu einem der inneren Decks geschafft, wo es seither von gelangweilten Technikern untersucht wurde. Jennifer hatte sich angeboten, ihnen dabei zu assistieren und ihnen die Funktionen des Gefährts wie auch die Modifikationen, die sie daran vorgenommen hatte, zu erklären, war aber abgewiesen worden. Wovor fürchtete man sich eigentlich? Hielt man uns für Doppelspione? Es war nicht einzusehen, was hier vor sich ging. Man musste wohl die typische Psychologie der Situation heranziehen. Die Hiergebliebenen verharrten in dem Trotz all derjenigen, die den Krieg zuhause mitgemacht oder die Diktatur in der »inneren Emigration« überdauert hatten. Sie wollten sich von denen, die von außen kamen, nichts sagen lassen. Was kosmische Katastrophen waren, das wussten sie nun nachgerade, und sie waren nicht auf Wiederholungen begierig. Wie die Überlebenden, die nach dem Bombenangriff aus dem Keller kamen, leckten sie lieber ihre Wunden, hätschelten ihre Traumata und freuten sich an jedem Schneeglöckchen, das wieder zwischen den Trümmern blühte. Wir wissen bescheid, schienen sie mit jedem Blick zu sagen. Ihr braucht uns nicht belehren.

Es war zum Verzweifeln.

»Du musst deinen Einfluss geltend machen«, sagte Jennifer.

Sie hatte recht. Ich war General. Ranggleich mit Dr. Rogers, als dessen designierten Nachfolger ich mich ausgeben konnte, ohne zu übertreiben, und »Persönlicher« – im hiesigen Jargon zu sprechen – von Commodore Wiszewsky, ranghöchster und dienstältester Offizier der Fliegenden Crew, kommissarischer Chef beider Stäbe. Wir waren in Sina City gewesen, was nur wenige Sterbliche von sich behaupten konnten, und wir hatten einmal die Reise um die Welt gemacht, wozu noch nicht einmal die Idee in eines Dritten Hirn Gestalt angenommen hatte. Aber an wen sollte ich mich mit dieser Vita wenden? Der Kanzler, Seine Eminenz Cole Johnson, hatte sich von unserem Bericht höflich beeindruckt gezeigt und war dann zur Tagesordnung übergegangen. Seine Adjutanten vertrösteten jede unserer Anfragen auf später, »wenn wir wieder zu Kräften gekommen waren“. Ich redete den ganzen Nachmittag auf Jennifer ein und flehte sie an, sich in Geduld zu üben. Da ich seit meiner Ernennung zum ENTHYMESIS-Kommandanten mehr administrative als wissenschaftliche Aufgaben gehabt hatte, kannte ich besser als sie die ganz eigene Luft dieser Stellen. Zuletzt hatte ich mich während des Jupiter-Ereignisses mit den Behörden auf Luna herumschlagen müssen, die bis unmittelbar vor ihrer Evakuierung auf ihren absonderlichen Ritualen bestanden hatten.

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