Kitabı oku: «Anatomie des Handy-Menschen», sayfa 2
1. Auf der Suche nach dem Selbstgefühl: Das Instrumentarium
Der Mensch ist ein Mängelwesen. Wir sind nicht vollständig. Mängelwesen: So hat uns der Anthropologe Arnold Gehlen schon vor Jahrzehnten genannt.12 Der Mensch ist ein Mängelwesen – und das ist seine Stärke. Gemeint ist, dass wir, anders als die meisten anderen Lebewesen, ohne viele Hilfsmittel nicht überleben können und deswegen eine ungeheure Schöpfer- und Geisteskraft entwickelt haben. Wir haben kein Fell, also brauchen wir Kleidung. Wir haben keine Reißzähne, also erfinden wir Jagdwaffen. Wir haben keine Chance, ohne Mitmenschen zu überleben, also haben wir Familien, Clans und Gesellschaften, Sprache und Kultur. Wir haben, weil wir Beziehungswesen und uns unserer Sterblichkeit bewusst sind, Worte, Tätigkeiten und Institutionen entwickelt für Situationen, in denen es weder etwas zu sagen noch etwas zu tun gibt: Gesänge, Gebete, Rituale und Religionen. Sie geben uns Sicherheit im Angesicht von Zufall, Unfall, Glück und Unglück, im Angesicht des Todes.
Mit dieser komplementären, heißt auffüllenden Sichtweise lässt sich tatsächlich die Geschichte der menschlichen Kultur gut beschreiben: Wir haben zu wenig mitbekommen auf diese Welt und bauen uns durch menschliche Kreativität Ersatz, eine zweite Natur.
Im Spiegel: Unterwerfung und Vergötterung
Wie bei allen Dingen, die der Mensch erschafft und sich als Gegenüber setzt, laufen wir Gefahr, uns der uns selbst geschaffenen Struktur zu unterwerfen, ohne es zu bemerken.13 Wir setzen uns zum Beispiel Regeln, die zunächst sinnvoll sein mögen. Wenn die Zeiten sich ändern und der Sinn der Regeln abhandengekommen ist, bleiben sie meistens trotzdem bestehen, und es braucht eine gewisse Zeit, bis wir das registrieren und uns wieder davon emanzipieren, man denke an die Beharrungskraft von Alltagsvorschriften, wenn sie in heiligen Büchern stehen.
Wir bauen uns auch Werkzeuge und strukturieren, sollten wir mit ihnen Erfolg haben, unsere Tätigkeiten ihnen zuliebe um, man denke an die Umwandlung unserer direkten Umgebung in menschenfeindliche Verkehrsadern, dem Werkzeug Auto zuliebe. Wir schaffen uns ebenso geistige Hilfsmittel, die, wenn sie sich als hilfreich erweisen, unsere Wege fortan bestimmen und auf uns zurückwirken. Ludwig Feuerbach, einer der einflussreichsten Philosophen des 19. Jahrhunderts, meinte, das „Wesen des Menschen“ bestehe darin, sich das Ergebnis seines geistigen Schaffens als normatives Gegenüber zu denken – und im Extremfall sogar zu vergöttern und anzubeten.14
Früher, zu Zeiten, die uns mittlerweile vorkommen wie tiefstes Mittelalter, früher, also vor etwas mehr als zehn Jahren, früher, ja damals …, da war das Handy nur ein mobiles Fernsprechgerät. Ungeheuer praktisch, wenn man unterwegs war und jemanden anrufen wollte und keine Telefonzelle „zur Hand“ war. Heute ist unser zum Smartphone evolviertes Handy nur noch nebenbei ein Telefon. Es ist Briefkasten, Telegramm- und Funkstation, Adressbuch, Kalender, Notizbuch, Diktiergerät, Videokamera, Foto und Album, Spiegel, Wecker, Spielgerät, Zeitung, außerdem noch Taschenrechner und Taschenlampe, Navigator und Weltatlas, Lexikon, Wetterfrosch und Thermometer, Radio, Fernseher, CD-Player, Flohmarkt, Einkaufscenter, Kontaktbörse, Puff, Meinungsmacher, Zeitungsersatz, Newscenter, Stammtisch, Aufenthaltsraum, Büro, Meetingpoint, Marktplatz, Pranger, Gegenüber, Freund und Helfer – und ganz grundlegend ist das Handy unser Tor zur Welt, in der digital und analog längst verschränkt existieren, so dass man, wie man angesichts der Corona-Pandemie gesehen hat, das Analoge sogar ins Koma legen kann, ohne dass wir zusammenbrechen.
Mein weites Ich: Potenz in Reinform
Der prägende Denker der Medienwissenschaften des 20. Jahrhunderts, Marshall McLuhan, selbst Pop-Ikone seiner Zeit, bezeichnete jedes Medium als „Ich-Erweiterung“. Ganz konkret gemeint. Ich erweitere meinen Horizont. Das beginnt bei der Schrift und den daraus entstehenden Texten. Das funktioniert auch beim Radio und beim Fernsehen. Auch dort reisen wir in der Vorstellung durch Raum und Zeit. Allerdings bleiben wir dabei abhängig von dem, was gesendet wird.
Das Smartphone ist nun eine potenzierte, eine radikale Ich-Erweiterung in jede Richtung und mit völlig individuellen Möglichkeiten. Es entspricht damit der Plastizität des menschlichen Gehirns aufs Vortrefflichste. Oder, um es mal voller Pathos religiös auszudrücken, es entspricht der Welt- und Gottoffenheit des Menschen. Schon die smarte Oberfläche, der Touchscreen, ist Potenz in Reinform. Alles ist möglich! An jeder Stelle kann jedes beliebige Bild auftauchen. Und, mobile Daten vorausgesetzt, von jeder Stelle aus kann ich an jede Stelle der digitalen Welt tauchen. Eine radikale Ich-Erweiterung ist möglich!
• Was ist mit den Fotos deiner Lieben auf dem Handy? Genügt es, sie auf der Card zu haben? Druckst du sie auch noch aus? Hängst du sie auf oder gestaltest ein Fotoalbum? Vergleiche dich mit vor zehn Jahren!
• An wie vielen Tagen genügt es dir, kurz und knapp mit ein paar Leuten zu chatten, und an wie vielen Tagen triffst du dich wirklich mit einem realen Menschen? Vergleiche dich mit vor zehn Jahren! Vergleiche vor und nach dem Lockdown!
• Fühlst du dich erst so richtig in der Arbeit angekommen, wenn du deinen Rechner hochgefahren hast und die Programme laufen? Wann machst du das Handy am Morgen an – und wann machst du es aus?
Innerhalb weniger Jahre haben wir uns auf diese Weise individuell verknüpft, verbunden und uns selbst ausgelagert – und wähnen uns dabei frei. Weil wir auf den ersten Blick so viel selbst bestimmen und wählen und googeln können, erleben wir die Zwänge und Gesetzmäßigkeiten des neuen Mediums nicht als Fremdsteuerung oder Einschränkung unserer Freiheit. Wir haben ja unseren hilfreichen Begleiter nach unserem Willen und Gusto gestaltet, haben Klingeltöne ausgewählt, den Hintergrund und den Sperrbildschirm bestimmt sowie ein persönliches Passwort erfunden. So was fühlt sich frei und machtvoll an. So was lieben wir, weiß die Handyindustrie.
Perspektivwechsel: Die Botschaft fühlen
Von Marshall McLuhan stammt auch der Slogan: „The medium is the message.“ Das Medium ist die Botschaft. Was bedeutet: Jedes Medium verändert seine Nutzer. Um herauszufinden, wie und auf welche Weise, muss man die Blickrichtung ändern und den Möglichkeiten des Mediums nachspüren. Dann erst haben wir die Botschaft begriffen.15 Darum sollte es uns gehen, wenn wir die „digitalen Endgeräte“ betrachten.
Wer gedacht hatte, mit einigen Unterrichtsstunden in Medienkompetenz bekäme man das Universum Smartphone in den Griff, wird seit einiger Zeit eines Besseren belehrt. Medienkunde ist nur ein, wenn auch wichtiger Baustein, was fehlt, ist vor allem Menschenkunde. Wir müssen unser Selbstgefühl wiedergewinnen, um zu beschreiben, was mit uns passiert, wenn wir das Handy und über das Handy die weltweite digitale Maschinerie nutzen. Das Medium ist die Botschaft, und das heißt auch: Es schafft die Bedingungen, unter denen wir als Medien-User leben, es ist, noch einmal, zum einen Ausdruck, zum anderen kraftvoller Motor eines neuen Lebensgefühls. Vieles von dem, über das in den kommenden Kapiteln nachgedacht wird, lässt sich daher nicht nur diskutieren und sachlich beschreiben. Man muss es auch erfühlen.
Erfühlen? Schwierig, wirst du vielleicht sagen. Bleiben wir doch lieber bei den harten Fakten! Aber warte. Vielleicht ist das Fühlen-Können ja genau eine der Fähigkeiten, die uns von der digitalen Sicht auf uns Menschen unterscheidet. Wir sind fühlende Denker. Oder denkende Fühlende. Als Einheit. Das ist schließlich auch die Hoffnung der Hoffnungsvollen, dass wir am Ende durch die Auseinandersetzung mit Künstlicher Intelligenz und den digitalen Welten einen neuen, geklärten Blick aufs Menschlich-Sein und In-der-Welt-Sein bekommen. Es gilt nicht nur der Kampfruf der Aufklärung sapere aude, wage zu denken! Es gilt auch sentire aude – trau dich zu fühlen!
Korrektur des Verstandes: Sentire aude
Denn von allen Seiten wird derzeit eine neue Aufklärung gefordert, durchaus im Kant’schen Sinne, von dem der Kampfruf sapere aude bekanntlich stammt. Wir sollen wieder mündig werden. Wir sollen uns aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien, aus dem Diktat der neuen Gesetzmäßigkeiten der Digitalisierung. Die Stimmen sind durch die Diskussion über die Reanimierung der Gesellschaft mit oder nach Corona gerade in den Hintergrund getreten – auf bedenkliche Weise. Denn dass uns das Digitale über manche Ausgangsbeschränkung hinweggeholfen hat, ist noch kein Argument, es weiterhin unbedarft zu umarmen.
Geistesgeschichtlich betrachtet, hat die Epoche der Aufklärung schon wenige Jahrzehnte später durch die Romantik eine notwendige Korrektur erfahren. Als die Aufklärung in der Folge Immanuel Kants alles auf den Prüfstand des rationalen Denkens stellen wollte, alles in Frage stellte, alles, was bisher geglaubt wurde, erklären und damit relativieren wollte, wurde schnell die Kehrseite des Unterfangens deutlich. Eine nur rationale Welt hat keinen Sinn mehr. Sie ist kaltes Gehäuse. Sie funktioniert nach Mechanismen. Und der Mensch in ihr funktioniert auch nach Mechanismen. Nicht, weil er Sinn macht. Auch die großen Erzählungen, wozu die Welt und wir in ihr da sein könnten, wurden ja dekonstruiert, in Einzelteile zerlegt und historisch eingeordnet. Alles lässt sich seither wegerklären, sogar der Glaube an Götter oder einen Gott. Und auch der Mensch lässt sich wegerklären. So funktioniert der Körper eben. Oder das Gehirn. So funktioniert Biologie.
Knapp zwei Jahrzehnte nach Kants berühmter Maxime sapere aude formierte sich daher Widerstand gegen die totale Skelettierung des Sinns, der Münchner Theologe Hermann Timm hat die Romantik daher „heilige Revolution“16 genannt. Sie hat eine wichtige Korrektur geschaffen, um das Leben und alles, was ist, zu beschreiben: Das Leben trägt, so würden wir es heute vielleicht ausdrücken, den Sinn in sich. Und wir haben die „heilige“ Aufgabe, uns ganz individuell diesen Sinn zu erschließen. Die Romantiker griffen zu den Mitteln der Dichtung, der Poesie, die eben genau das Erspüren und Fühlen fördern sollte. Joseph von Eichendorff in seinem berühmten Gedicht „Wünschelrute“ bringt es so auf den Punkt: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“17
Uns neu erzählen: Methode Übertreibung
Dieses Zauberwort zu treffen ist bis heute die Aufgabe, die du und ich zu lösen haben, und das, ohne dabei wieder naiv, vorrational auf die Welt zuzugehen. Das geht, wenn wir Welt und Leben nicht „wegerklären“, sondern unsere Lebenswelt und unser Leben ganzheitlich „wahrnehmen“. Denken wir also nach und fühlen uns dabei zugleich. Durchleuchten wir unseren Leib und spüren in die Veränderungen hinein. Unserem Net-Doktor wird einiges Neuartige an uns auffallen, von dem wir noch nicht so recht wissen, ob es gutartig oder bösartig oder beides ist. Wenn uns eines die Corona-Pandemie wieder in Erinnerung gerufen hat, ist es das, dass wir Sterbliche geblieben sind, ungeachtet aller Rationalität.
Eine wichtige Methode dabei ist die Übertreibung, wie es schon Günther Anders vorschlug, denn sonst würden die Phänomene „unidentifizierbar“ oder „unsichtbar“ bleiben.18 Und das ist in unserem Fall manchmal paradox: Es bedarf der Übertreibung dessen, was „zu groß“ ist, als dass wir es im Normalfall wahrnehmen. Es übersteigt unseren Horizont. Oder die Veränderungen sind zu minimal, als dass wir darüber im Normalfall nachdenken. Übertreiben, überspitzen, überpointieren wir es also, dann merken wir, was „es“ mit uns macht und was wir mit dem neuen digitalen Lebensgefühl machen wollen, können, dürfen oder lieber bleiben lassen sollten. Fangen wir an, uns neu zu erzählen.
Mit dem ganzen Leib: Phänomenologie
Du könntest diese Anmerkungen zur Anatomie des Handy-Menschen auch „Phänomenologie des Handy-Menschen“ nennen. Denn mit Edmund Husserl teile ich folgende These der philosophischen Schule, die sich Phänomenologie nennt: Der Sinn und die Bedeutung von irgendetwas liegt nicht dahinter verborgen, sondern mitten darin. Er geht uns nicht auf, indem wir das Phänomen, um das es geht, (psychologisch, biochemisch, soziologisch etc.) erklären und damit letztlich zum Verschwinden bringen, sondern indem wir es genau und immer präziser beschreiben, in Zeitlupe nachverfolgen oder bewusst vergrößern. Sodass wir das, was wir beobachtet haben, in Worte fassen, um es erst mal richtig sichtbar zu machen. Wir müssen, um „zu den Sachen selbst“ zu kommen, gerade alle Theorien, Vormeinungen, ja unser „Wissen“ ausklammern.
Mit Hermann Schmitz, dem Begründer der neuen Phänomenologie, der jahrzehntelang an einer Phänomenologie des menschlichen Leibes gearbeitet hat, teile ich den Gedanken, dass wir Menschen uns nicht in Körper und Seele auftrennen sollten, nicht in Verstand und Gefühle, um uns zu verstehen. Wir sind ein Ganzes, wir nehmen uns und die Lebenswelt als Ganzheit wahr. Wir erfahren uns und die Welt nicht rein körperlich, nicht rein seelisch, nicht rein sinnlich, nicht rein gedanklich, sondern mit dem ganzen „Leib“, wie Hermann Schmitz es nennt. Er fügt hinzu: Es sind daher auch gar nicht die Gedanken, die uns zu dem machen, was wir sind, sondern die Gefühle, die uns gleichsam von irgendwoher ergreifen und maßgeblich in unser Leben eingreifen. So kommt Schmitz auf ganz neue Schlüsselszenen dessen, was uns ausmacht und was uns bestimmt.19
Und schließlich finde ich den Gedanken des Philosophen und Soziologen Max Scheler sehr plausibel, dass sich auch das Gute intuitiv „erfühlen“ lässt. Dass sich „Werte“ erfühlen lassen. Dass wir uns zu ihnen hingezogen fühlen, mit dem ganzen Leib, unmittelbar, intuitiv, so dass es uns kalt den Rücken runterläuft oder sich uns die Haare aufstellen, wenn etwas unseren Werten zuwiderläuft. Und dass wir sehr wohl unterscheiden können: zwischen persönlichen Vorlieben und „höheren Werten“, die dauerhaft sind, Einheit stiften, eine überindividuelle tiefe Befriedigung bringen oder die sogar so absolut erfahrbar werden wie die Würde. Und dass es gerade deshalb darauf ankommt, das Fühlen zu trainieren und mögliche Abgestumpftheit zu überwinden, um zu merken, was guttut und was gut ist.20
Illtümer: Was wir glauben, muss nicht stimmen
Es gibt bei unserem Zusammenleben mit dem Smartphone nicht nur Abstumpfungen, sondern auch grundlegende Verunsicherungen. Für Erstere habe ich bei dem österreichischen Sprachakrobaten Ernst Jandl das treffende Wort ILLTUM gefunden. Illtum ist eines der schönsten Worte, die es gibt bzw. nicht gibt. Es stammt aus Jandls Gedicht „lichtung // manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht / velwechsern. / werch ein illtum!“21
Illtum ist für mich eine folgenreiche Mischung von Irrtum und Illness. Ein krankmachender Irrtum, mehr zu fühlen als zu definieren. Gut gemeint, aber damit das Gegenteil von gut – doch, und das ist das Entscheidende, wir bemerken es nicht. Einfaches Beispiel: Das Internet, der digitale Weltinnenraum, ist u. a. geboren aus dem Aufbruchsgeist der Hippies, verknüpft mit dem Fortschrittsgedanken, die Welt zu einer besseren, gleicheren, global zugänglicheren zu machen. Endlich sollte jede mit jedem hierarchiefrei, vom Du zum Du zum Ihr, zu allen mit jedem kommunizieren können, über alle Grenzen hinweg! Ziel war der freie, gleiche, geschwisterliche Zugang zum Weltwissen und zu uns selbst! Und das unabhängig von Verdienst, Bildung und sozialem Status! Ein befreiender Gedanke, wahrhaft revolutionär! Mittlerweile halten viele, sogar die Pioniere des Internets selbst, all das für einen Riesenirrtum. Einer der Gründer, Tim Berners-Lee, arbeitet 30 Jahre nach Einführung des WWW sogar an einer Alternative mit dem Namen Solid, kurz für Social Linked Data.22 Demokratien werden gegenwärtig nicht gestärkt, sondern bedrängt, die Netzmacht ist in den Händen weniger, demokratisch nicht legitimierter Mega-Konzerne, und wir werden nicht als Weltbürger, sondern meist nur als potentielle Kunden angesprochen. Doch wir nehmen dies in der Praxis allenfalls zur Kenntnis, ignorieren es aber in der Regel oder merken es gleich gar nicht. Wir sind bei der Grunderzählung geblieben, das Internet sei erlösender Fortschritt pur. Das ist eine Verwechslung. Ein Illtum.
Zersplintert: Wo sind wir, wenn wir ins Smartphone schauen?
Noch eine zweite Verunsicherung macht uns zu schaffen, und wir werden ihr immer wieder begegnen. Auch dafür habe ich ein Wort gefunden, das es nicht gibt, das wir aber gut brauchen können. Wir verdanken es Klaus Fritz, dem deutschen Übersetzer von Harry Potter. Er übersetzt das englische to be splinched mit zersplintert sein oder zersplintert werden. Es bezeichnet missglückte Teleportationen, wenn also Bein, Hand oder Fuß sich an einem Ort, der Rest des Menschen an einem anderen Ort befinden. Ich beschreibe damit die Verwechslung von Ort und Anwesenheit. Wo sind wir, wenn wir in der U-Bahn sind und zugleich in den digitalen Welten hinter dem Touchscreen? Wo ist deine Partnerin, wo ist dein Partner, wenn sie oder er jemand anderem schreibt, während du ein Gespräch führen willst? Diese grundsätzliche Frage wird uns immer wieder beschäftigen.
TINA: Alternativlos ausgeliefert?
Die dritte Verwechslung, die uns durch diese anatomischen Betrachtungen begleiten wird, ist ein eigenartiger Defätismus. Ein Sich-Ergeben. Eine Art Lähmung. Seit längerem wird diese Denkstruktur als TINA bezeichnet. TINA ist die berühmt gewordene Abkürzung für There Is No Alternative. Ein Satz, der im Politischen von Margaret Thatcher geprägt wurde und sich in den vergangenen Jahren auch gesamtgesellschaftlich zu einer beliebten Argumentationsstrategie entwickelt hat, 2010 wurde „alternativlos“ zum Unwort des Jahres gewählt. Der US-amerikanische Philosoph Francis Fukuyama hat dieser Lebenseinstellung ein philosophisches Denkmal gesetzt, indem er das „Ende der Geschichte“ ausrief und im Wesentlichen keine Alternativen zum Kapitalismus mehr erwartete. Susan George oder Carl Amery haben dem entgegengehalten: Es gibt tausende Alternativen.23 Dieses TINA-Syndrom durchzieht auch unser persönliches Empfinden, wenn es um die digitale Welt geht. Die stellt sich uns ja – unter anderem in ihrer Undurchschaubarkeit – auf den ersten Blick als alternativlos da. Klassisches Beispiel: Das Internet ist kostenfrei, dafür werden unsere Daten abgesaugt und verkauft – es zeigt sich uns keine Alternative und so schlucken wir es. Wir können es nicht ändern. Oder: Wir stimmen allen AGBs aller Apps zu, in der Regel, ohne sie zu lesen. Wir können sie nicht ändern, wollen aber unbedingt mitspielen. Wer bei Google gefunden werden will, muss sich den Google-Regeln unterwerfen – sonst kommt man nicht vor. Solches TINA-Denken hat auch so manche Denker der Digitalisierung und Propheten der Künstlichen Intelligenz so sehr im Griff, dass es genügend gibt, die behaupten, der point of no return sei schon längst überschritten, und die Schreckvisionen der sich selbstständig machenden Megaintelligenzen und der Weg der Weltherrschaft von KIs seien nicht mehr abzuwenden. Doch: Alles könnte anders sein, schreibt der Zukunftsforscher Harald Welzer.24 Das Gegenmittel gegen das TINA-Denken kann nur Infragestellung der Selbstverständlichkeiten sein, nach dem Motto: Alles kann, nichts muss.
Damit ist das Instrumentarium umrissen. Jetzt geht’s ans Eingemachte. Wir können mit dem Scan des Handy-Menschen beginnen.
2. Der Möglichkeitssinn
Sinn fürs Mögliche haben Menschen natürlich immer und überall gehabt, aber mit dem Smartphone in der Hand kommt er zu einer ganz neuen Stufe. Wir erleben nun Möglichkeiten, ohne dass nur eine einzige dieser Möglichkeit Wirklichkeit werden muss – und das ist neu!
Sinnbild fürs Mögliche ist der Touchscreen, ein Wunderwerk der Technik. Wie war deine Reaktion, als du das erste Mal gewischt und getippt hast? Ein digitales Tischlein-deck-dich! Ein Nichts, das alles zeigen kann. Das mit der leichten Berührung mit dem Finger eine Welt öffnen kann. Ist das denn die Möglichkeit!
Kunst der Menschheit: Spiegelbild des Bewusstseins
Der Anthropologe und Kulturphilosoph Jean Gebser hat kurz nach dem Zweiten Weltkrieg seinen monumentalen Durchzug durch die Geistes- und Mentalitätengeschichte „Ursprung und Gegenwart“ vorgelegt, in der er die Kunstwerke der Menschheit von den Anfängen bis zur Gegenwart interpretiert.25 Dabei ist er auf der Suche nach sich überlagernden Schichten des menschlichen Geistes und fragt stets, wie Weltbilder entstanden sind und wie sich die Wahrnehmungsformen und -möglichkeiten der Menschen entwickelt haben. Für ihn ist die Kunst ein Spiegel des Bewusstseins. Und deshalb könne man von den kulturellen Ausdrucksformen der jeweiligen Zeit auch etwas über die mentalen Fähigkeiten der Menschen lernen, über ihre Welt- und Selbstwahrnehmung und Bewusstseinszustände. Über das, was möglich war. Schon Gebser verknüpfte, und das ist in unserem Zusammenhang interessant, die Entwicklungen des menschlichen Geistes mit verschiedenen Organen.
So haben etwa in sehr frühen Darstellungen des Menschen die Gesichter keinen Mund – Gebser schließt daraus, dass die Sprache in dieser, wie er sie nennt, „magischen“ Phase der Menschheit nicht die Rolle gespielt hat, wie sie es heute tut. Für das Selbstverständnis des Menschen war sie nicht wichtig. Und offenbar auch nicht für die Kommunikation. Möglich, dass dafür Formen der nonverbalen Verständigung bis hin zu telepathischen Fähigkeiten bedeutsamer waren. In dieser magischen Phase waren die Menschen vor allem Lauschende. Nach innen und nach außen. Menschen haben sich nicht als Gegenüber zur Welt verstanden, sondern als eingebettet, als Einheit mit allem, was ist, auf gewisse Weise „eindimensional“. Dementsprechend, so Gebser, habe man sich mittels der basalen Vitalfunktionen, mittels Instinkt, Trieb und Gefühl orientiert, die für den Alltag maßgeblichen Organe seien daher die „Eingeweide“ und das Ohr gewesen.
Wachsende Möglichkeiten: Magie, Mythos, Ratio
In den Zeiten, in denen Mythen von Helden und Göttern erzählt wurden (die Jahrhunderte auch der großen religiösen Überlieferungen in der antiken Welt), um das Leben und die Welt zu deuten, war der Mensch völlig anders unterwegs. Er hat die Fähigkeit erlangt, sein eigenes Innenleben anzuschauen, indem er es zur Sprache bringt. Seelenleben wird als Mythos erzählbar. Damit wird es in den Zusammenhang mit dem Großen und Ganzen gestellt. Das Große deutet das Kleine und umgekehrt. Gebser nennt dieses Seinsverständnis „zweidimensional“, und so sind auch die meisten künstlerischen Darstellungen der Antike. Die wesentlichen Fähigkeiten des Menschen sind nun Imagination, Empfinden und das Gemüt, die zentralen Organe sind Herz und Mund, zuständig fürs Fühlen und Erzählen.
Die Entdeckung der Perspektive in der Malerei zu Beginn der Neuzeit markiert wieder ein neues Zeitalter des Geistes, das „rationale“ Zeitalter. Die neue „dreidimensionale“, rationale Lebenssicht löst die Menschen sowohl aus der magischen wie aus der mythischen Verbundenheit mit der Welt und Umwelt völlig heraus. Seither empfinden Menschen sich meist als Gegenüber zur Welt, sie sezieren und analysieren, sie werfen schließlich das Licht der Aufklärung auf alles, was ist, und sie leben mit der Maxime, der Verstand sei das allbeherrschende Instrument in dieser Welt. Bestimmend sind nun Reflexion, Abstraktion und Wille. Dementsprechend sind für Gebser die Organe der Neuzeit das Auge und das Gehirn.
Integral: digital?
Für seine eigene Zeit, für die erste Hälfte des 20.Jahrhunderts, erhoffte sich Jean Gebser einen neuen Geistessprung, den er „integral“ nannte, „vierdimensional“. Vorzeichen dafür meinte er schon zu erkennen. Als Sinnbild für dieses neue Lebensgefühl, das die vorauslaufenden Seinsweisen und Fähigkeiten des Menschen in sich positiv aufnehmen und „integrieren“ kann, fand Gebser das Gemälde seines Freundes Pablo Picasso „Der Strohhut“ aus dem Jahr 1938. Man sieht die Porträtierte zugleich im Profil und von vorne. Die Menschheitsaufgabe nach dem großen Zivilisationsbruch des Ersten und Zweiten Weltkriegs sowie des Holocausts sei nunmehr, auch die einseitig rationale Weltsicht zu überwinden. Denn diese macht in letzter Konsequenz selbst Menschen zu Objekten (was Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Folge Max Webers als „Dialektik der Aufklärung“ bezeichnet haben).
Überwunden werden soll diese einseitige Perspektive „integral“. Ganz so, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel es mit dem für seine Philosophie zentralen Begriff der „Aufhebung“ meinte, nämlich so, dass das Vorige, sollte es auch gegensätzlich sein, auf einer neuen Ebene in der Zusammenschau eine ganz neue Qualität erreicht. Gebsers Frage war daher, wie die frühere archaische bzw. magische, mythische und rationale Bewusstseinsstufe in einer neuen „aufgehoben“ sein könnte, so dass daraus etwas qualitativ Neues entsteht, ein neues Bewusstsein. So wie bei Picassos Bild mehrere Perspektiven sich in einer einzigen Ansicht überlagern, so sollte ein integrales Lebensgefühl mehrere Perspektiven des Seins in sich tragen und zu einem Ganzen zusammenbinden (der Begriff „integral“ wurde dann z. B. von Steve McIntosh und Ken Wilber aufgenommen und weitergeführt).
Gebser findet dafür nicht mehr ein Organ im Inneren des Menschen, für ihn ist der Konzentrationspunkt für das neue „Gewahrwerden“ der Scheitel. Sprich: Wir könnten über uns hinauswachsen.
Konzentration: Touchscreen
Vielleicht würde Jean Gebser heute auf den Touchscreen verweisen, um die Gleichzeitigkeit verschiedener Dinge, Zeiten, Denk-, Glaubens- und Fühlweisen in einem Symbolbild zu vereinen. Denn der Touchscreen ist in gewisser Weise vierdimensional. Er ist ein Bild, das gar nicht mehr ist, sondern nur noch darauf wartet, etwas zu werden. Pure Möglichkeit eben. Allerdings würde Gebser das Symbolbild, also das Produkt, nicht mit dem Leben selbst verwechseln. Wozu wir Handy-Menschen offenbar neigen – wir werden am Ende dieser Anatomie noch einmal darauf zurückkommen.
Menschen sind Möglichkeitstiere, und so ein Ding, das alles werden kann, entspricht unserem Geist ausgezeichnet. Menschen steht, wohl noch einmal anders als allen anderen Lebewesen dieses Planeten, im umfassenden Sinn die Welt offen, sie sind nicht auf eine spezielle ökologische Nische beschränkt, und selbst dort, wo sie Begrenzung erfahren, können sie auch die durch Vorstellung und Phantasie, Sprache und Geschichten überwinden. Die Moderne brachte es uns vollends zu Bewusstsein. Jean-Jacques Rousseau hat mit Blick auf die Entwicklung der Persönlichkeit, aber auch auf die Rolle des Menschen in der Gesellschaft betont: Der Mensch ist in einem sehr grundlegenden Sinne als Individuum frei. Und er ist dabei immer im Werden.26 So wie der Touchscreen immer im Werden ist. Wir haben Möglichkeiten. Wir rechnen mit allem Möglichen. Dann und wann rechnen wir sogar mit dem Unmöglichen.
Das Smartphone mit der digitalen Maschine dahinter ist also wie gemacht dafür, unseren Sinn für Möglichkeiten noch einmal wachsen zu lassen.
Instant-Tiefe: Schockgefrostete Möglichkeit
Nun liegt also vor uns eine glänzende Oberfläche voller Möglichkeiten. Darauf wartend, dass wir sie aktivieren. Die Frage ist nun, wie ist die Tiefe beschaffen, in die wir mit den Fingerspitzen hineintauchen können? Wo sind ihre Möglichkeiten bereichernd und wo tun sie nur so, echte Möglichkeiten für uns zu sein, ohne dass wir den Unterschied bemerken? Das wäre dann ja ein klassischer Illtum!
Drauftippen. Schauen. Staunen. Weiterklicken. Was passiert? Was tut sich auf? Das, was uns hinterm, unterm, im oder durchs Display erwartet, ist eine Art Instant-Tiefe. Schockgefrostete Möglichkeit. Sofort löslich. In kürzester Zeit zum Genuss bereit. Dort drin erscheint uns alles als eine Art Konzentrat. Als eine Reduktion aufs Wesentliche. Will ich mit jemandem sprechen, konzentriere ich mich auf die Stimme. Mein Gegenüber erlebe ich im Gegenzug nur auf die Sprache reduziert. Schreibe ich am Smartphone mit jemandem, konzentriere ich mich auf ein paar wesentliche Worte (schon die Rechtschreibung spielt oft keine Rolle). Ich reduziere die Kommunikation mit meinem Gegenüber – oder mit einer ganzen Gruppe – daher auf wenige Sätze. Meine dazugehörigen Stimmungen konzentriere ich auf die vorhandene Auswahl von derzeit maximal 722 verfügbaren Emojis. Informiere ich mich, wo etwas in meiner Stadt oder Gemeinde zu finden ist, wartet – instant und in grober Auflösung – ein Stadtkonzentrat auf mich, der digitale Stadtplan. Und so weiter. Die Möglichkeiten sind also, obwohl auf den ersten Blick unendlich, trotzdem begrenzt. Weil das Digitale an sich reduzierte Wirklichkeit ist.27
Wenn ich das Smartphone als reines Kommunikations- oder Informationswerkzeug verstehe, ermöglicht es, praktisch, schnell und „konzentriert“ etwas zu organisieren. Ich kann Nachrichten in eine größere Distanz verschicken, weiter, als ich rufen kann, oder gleich für eine ganze Gruppe. Ich kann Termine unterwegs ausmachen und dadurch an ungewöhnlichen Orten meinen Alltag planen. Ich kann einfach und unkompliziert Bilder aus dem Urlaub verschicken, ohne erst eine Postkarte und eine Briefmarke kaufen zu müssen. Ich kann mich auf vielfältige Weise anderen mitteilen. Auf diese Art benutzt, ermöglicht das Handy vor allem einen simplen Kontakt, wo er ohne es nicht oder nur schwer möglich wäre. Dann entspricht auch die Instant-Tiefe genau dem, was ich will. Sie reicht aus, um zu organisieren und Informationen zu verschicken.
Das wichtigste Werkzeug für viele Flüchtlinge ist ihr Smartphone, weil es erlaubt, mit den Liebsten in Kontakt zu bleiben, deren Stimme zu hören, die neuesten Bilder zu sehen oder zu wissen, ob der andere überhaupt noch am Leben ist. Wie wohltuend, praktisch und genial ist es, mit einem lieben Menschen per Instant-Messaging-Dienst verbunden zu sein, wenn er im Krankenhaus liegt. Wie einfach ist es, ihn per WhatsApp oder Threema teilhaben zu lassen – am Alltag, am Leben, an guten Gedanken, und das täglich, öfter noch, als man ihn besuchen könnte! Wie einfach und schnell kann ich Familienmitglieder und Freunde (oder im Extremfall auch die halbe Welt) an einem Eindruck, einer Meinung, einem Missstand, einer Idee oder aber auch nur einer wichtigen Absprache teilhaben lassen!
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