Kitabı oku: «Alte Werte in neuer Zeit», sayfa 2
2. Eigentum und Gemeinwohl
Unsere Wirtschaftsordnung beruht auf Eigentum. Jeder kann Eigentum erwerben, keiner ist davon grundsätzlich ausgeschlossen. Dafür, dass es Eigentum gibt, werden sehr gute Gründe angeführt; ebenso für die Frage, dass Eigentum auch Grenzen haben muss. Beides ist wichtig für unsere weitere Argumentation. Deswegen schauen wir uns zunächst einmal den wichtigsten Grund dafür an, warum es Eigentum geben muss. Das wird ein wenig philosophisch, aber durchaus wichtig für unsere gegenwärtigen Debatten.
Eigentum ist in der klassischen Theorie des Liberalismus eng mit dem Begriff der Freiheit verbunden, und das ist richtig.6 Eigentum haben zu können bedeutet Freiheit; Eigentum verwehrt zu bekommen, ist der Inbegriff der Unfreiheit. Ganz grundlegend und deutlich ist dies, wenn man mit dem Eigentum am eigenen Körper beginnt. Eigentum am eigenen Körper bedeutet, dass man nicht verkauft werden kann; dass kein anderer als ich selbst Verfügungsgewalt über meinen Körper hat. Es bedeutet: Ich bin selbst der Herr über mein Leben, mit allen Konsequenzen: Kein Sklave, keine Ware, keine Sache, der man nach Belieben Leben und Freiheit nehmen kann. Deswegen sind die Wurzeln der Menschenrechte als Abwehrrechte gegen den Staat und als Anspruch des Eigentums am eigenen Körper auch eng miteinander verwandt. Ohne Eigentum also keine Menschenrechte, damit keine Bürgerrechte und keine Demokratie. Die Idee, dass der Mensch Würde hat, hängt eng zusammen mit der Idee, dass der Mensch sein Eigentum ist, sich also selbst gewissermaßen besitzt. Damit ist er autonom, zumindest im Grundansatz, und autonom bedeutet: Er setzt sich seine eigenen Gesetze des Handelns. Die letzte Instanz, die die Rechtmäßigkeit seines Handelns beurteilt und auf moralische Erwägungen bezieht (also nach Gut und Böse fragt), ist das Gewissen.
Wenn wir einen Moment innehalten und dieses Argument etwas genauer betrachten, dann fällt auf: Es hat weitreichende Konsequenzen für unser Zusammenleben. Die großen Denker des Liberalismus haben sogar gesagt: Der Staat entsteht nur, um diese Rechte zu schützen. Diese Rechte – Leben, Freiheit, Eigentum – sind vorstaatliche Rechte, die dem Menschen von Natur aus zukommen, also Naturrechte. Im Grundgesetz sind die Naturrechte zu einem vorstaatlichen Rechtsgrund verdichtet worden: Der Würde des Menschen. Der Mensch hat Würde bedeutet: Er ist kein Objekt, sondern Zweck in sich; er hat ein eigenes moralisches Universum in sich und kann, anders als ein Tier, sich in seinem Handeln auf diese moralischen Gründe beziehen und sich von bloßen Erwägungen von Lust und Unlust als Motivation des Handelns befreien. Der Mensch ist also mehr als ein Tier, das nach Instinkten handelt. Er kann auch nach moralischen Gründen handeln.
Aus der Würde des Menschen entspringen die Grundrechte: Freiheit, Gleichheit, Recht auf Leben und Eigentum und vieles mehr. Diese Rechte sind, wie schon gesagt, vorstaatlich. Der Staat wird lediglich gegründet, damit diese Rechte geschützt werden. So heißt es in aller Deutlichkeit in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, dass man für selbstverständlich halte, dass alle Menschen gleich geschaffen seien, dass sie der Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet habe, zu denen das Recht auf Leben, auf Freiheit und das Streben nach Glück gehörten und das Regierungen nur zu dem Zweck eingesetzt würden, diese Rechte zu schützen, und zwar im Konsens mit den Regierten. Der sich selbst gehörende Mensch begründet also Herrschaft damit, dass ein ganz bestimmtes Bild des Menschen geschützt wird. Die Regierung hat die Aufgabe, die Rechte der Menschen zu schützen und dort Abgrenzungen vorzunehmen, wo die Ausübung der Rechte des einen die Rechte des anderen verletzt. Denn eines ist auch klar: Rechte gelten nicht absolut, sondern enden dort, wo Rechte anderer betroffen sind.
Die Grundrechte gelten nicht nur im Verhältnis des Menschen zum Staat; das ist eine Selbstverständlichkeit, wenn man annimmt, dass der Staat gegründet worden ist, um die Grundrechte der Menschen zu schützen. Sie gelten vor allem im Verhältnis der Menschen untereinander. Das Problem im vorstaatlichen Zustand war ja nicht der Staat, sondern dass die Menschen untereinander in Streit und Zwist lagen, weil es keine Autorität gab, die Streit und Zwist endgültig auflösen und entscheiden konnte. So sah es zumindest Thomas Hobbes, der englische Philosoph. Wie eigentlich, so fragte er sich, leben Menschen ohne jede Herrschaft zusammen? Seine Antwort war düster. Ohne Regierung, ohne Herrschaft ist der Mensch des Menschen Wolf. Das Leben ist dann, so schreibt er in einer berühmten Passage, einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz. Das hatte viele Gründe, auch den ziemlich einleuchtenden, dass dort, wo es keine Regierung gibt, das Recht des Stärkeren herrscht. Dort, wo das Recht des Stärkeren herrscht, ist kein anderes Recht auf Dauer: Es gibt keine Garantie für Leben, Eigentum, Sicherheit, keine Garantie dafür, auch nur im Ansatz seines eigenen Glückes Schmied sein zu dürfen oder zu können. Dieses Recht gibt es nur für den Stärkeren, aber auch nur so lange, wie er nicht durch andere von dem Thron der Tyrannei verdrängt wird. Auch der Stärkere lebt in permanenter Furcht; unser Mitleid mag sich hier in Grenzen halten, dennoch: Ohne Regierung leben alle Menschen in permanenter Unsicherheit und Furcht.
Uns genügt es hier festzustellen: Dem Staat obliegt es, alle Beziehungen der Menschen untereinander dem Prinzip unterzuordnen, dass alle Menschen die gleiche Würde haben. Das hat Auswirkungen auf unser Verständnis der Unterschiedlichkeit des Menschen: Bei aller Unterschiedlichkeit von Herkunft, Geschlecht, Hautpigmentierung, sexueller Orientierung oder religiöser Überzeugung: All das spielt keine Rolle in der Frage der Würde des Menschen. Hier sind alle Menschen gleich an Würde. Dieses Prinzip hat natürlich auch unmittelbare Auswirkungen auf das Arbeitsleben. Arbeit, die den Menschen entwürdigt, muss verboten werden. Arbeit, die seine Rechte als Mensch verletzt, die seiner Gesundheit schaden, sein Leben gefährden, muss verboten werden. Arbeit, die dem Menschen keine Anerkennung als Mensch verschafft oder ungerecht entlohnt wird, muss reguliert werden. Der Staat hat die Aufgabe, Menschenrechte und Menschenwürde auch bei der Arbeit zu garantieren. Die Vertragsfreiheit der Menschen findet ihre Grenzen in der Menschenwürde und den Menschenrechten. Dazu aber mehr in den Kapiteln, die sich mit der Arbeit auseinandersetzen.
Kommen wir zurück zu dem Begriff des Eigentums. Es war John Locke, der große englische Philosoph, der den Zusammenhang von Eigentum und Freiheit dann erweitert hat. Wenn ich als Eigentümer meines Körpers die dingliche Welt mit meiner Arbeit mische (also etwas bearbeite), entsteht ein Eigentumsanspruch. Kurz und gut: Arbeit begründet Eigentum. In einem zweiten Schritt weitet Locke die Argumentation dann aus: Durch Geld wird Eigentum gewissermaßen »haltbar« gemacht; darüber hinaus begründet Geld einen Wertmaßstab, der unterschiedliche Produkte aus der Arbeit in eine Relation bringt (teurer/billiger). Damit kann ich dann mein Eigentum verkaufen oder anderer Menschen Eigentum kaufen. Geld erleichtert die Transaktion. Das führt zu ganz eigenen Problemen, etwa dort, wo sich Geld als Mittel der Transaktion verselbständigt. Aber so elegant das Argument bei Locke war, Eigentum aus Tätigkeit des Menschen abzuleiten, der sich selbst gehört (also Eigentum an sich selbst hat), so bedeutet dies nicht, dass dieses Eigentum keine Grenzen hat, also Eigentum zu einem Recht wird, das andere Rechte aushebelt. Eigentum darf nicht dazu führen, dass anderen Menschen nichts mehr übrigbleibt und sie deswegen Schaden nehmen. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland findet sich hier eine kluge Formulierung: Danach verpflichtet Eigentum, und sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Es gibt also Eigentumsschranken. Diese ergeben sich allerdings nicht notwendig aus dem Argument von Locke, sondern aus einem sehr viel älteren Argument, das sich schon bei dem Kirchenvater Thomas von Aquin findet. Demnach hat Gott, nachdem er die Erde geschaffen hat, diese allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung gestellt. Da er den Menschen als soziales Wesen geschaffen hat, steht damit auch Eigentum unter dem Vorbehalt, die Sozialität des Menschen zu befördern. Oder, anders formuliert: Dem Menschen dabei zu helfen, sich in der Gemeinschaft selbst zu verwirklichen. Eigentum ist also ein Mittel zum Zweck, kein Zweck in sich. Deswegen kannte die Kirche immer auch das Notrecht. »Not kennt kein Gebot«, so lautet ein altes Sprichwort. In der Not ist alles gemeinsam; und deswegen verwendet Thomas von Aquin auch einigen Scharfsinn darauf nachzuweisen, dass jemand, der aus Not stiehlt, keinen Diebstahl begeht. Man würde sich wünschen, dass deutsche Gerichte sich dieses Grundsatzes entsinnen würden. Wer aber die Entwendung weggeworfener Lebensmittel (das so genannte »Containern«) als rechtswidrig ansieht, hat sich von der christlichen Auffassung des Eigentums weit entfernt.
Auch bei John Locke gibt es eine Einschränkung des Eigentums; das Eigentumsrecht gilt nicht absolut. Es muss, nachdem sich ein Mensch Eigentum geschaffen hat, immer noch genügend und ebenso Gutes für die anderen verbleiben. Der Erwerb des Eigentums der einen darf also nicht zu Lasten der Lebenschancen der anderen gehen. Das ist entweder eine Forderung der Gerechtigkeit und der Fairness oder aus der Idee geboren, dass der Mensch die Erde von Gott als Obereigentümer zum Gebrauch zugeteilt bekommen hat mit der Maßgabe, dass er dort arbeitet und handelt in sozialer Verantwortung – also unter der Maßgabe der Nächstenliebe. Damit ist Eigentum nicht ausgeschlossen, aber begrenzt auf bestimmte Zwecke.
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland heißt es, der Gebrauch des Eigentums soll gleichzeitig dem Wohle der Allgemeinheit dienen – also dem Gemeinwohl. Hier taucht der christliche Gedanke wieder auf, wonach Eigentum nie Selbstzweck ist. Diese soziale Bindung des Eigentums bedeutet auch: Der Staat darf regulieren im Sinne des Gemeinwohls. Er darf beispielsweise, um ein aktuelles Beispiel heraus zu greifen, zur Verwirklichung der Gleichberechtigung Quoten in Vorständen von Unternehmen vorschreiben. Das ist dann ein legitimer Eingriff in die Eigentumsrechte, wenn damit das Gemeinwohl befördert wird.
Fassen wir zusammen, weil es für die weitere Argumentation wichtig ist. Der Mensch hat Eigentum an sich selbst. Das bedeutet, er kann von anderen nicht zum Eigentum gemacht werden. Das schließt alle Formen der Arbeit aus, die auf Unfreiheit beruhen. Da der Mensch sein eigener Herr ist, hat er eine Zweckbestimmung in sich selbst: Die Entwicklung seiner Personalität. Das schließt alle Arbeit aus, die dieser Zweckbestimmung entgegensteht. Da der Mensch Eigentum erwerben kann, sind Leben und Freiheit zusätzlich gesichert. Das schließt – innerhalb der Grenzen legitimer Eigentumsbildung – aus, den Menschen an der Bildung eigenen Eigentums zu hindern; mehr noch, es ist ein Gebot der politischen Klugheit, Eigentumsbildung zu fördern, damit der Einzelne ein selbstbestimmtes Leben führen kann. Dies stärkt gleichzeitig die Formen freier und demokratischer Teilhabe in einem Gemeinwesen. Dieser Aspekt ist in zwei Bereichen besonders wichtig: Zum einen der Frage nach der Eigentumsbildung in der Arbeit, vor allem der Frage der Mitarbeiterbeteiligung. Zum anderen ist dieser Aspekt eminent wichtig bei der Möglichkeit, Wohneigentum zu erwerben. Der Einzelne hat hier systematisch Vorrang vor juristischen Personen bei der Frage, wie mit dem knappen Gut des Bodens umzugehen ist (dazu das Kapitel über Wohneigentum). Schließlich und letztlich: Die Erde ist uns gemeinschaftlich anvertraut. Deswegen ist der Begriff des Gemeinwohls auch universal zu sehen. Wenn die Bedingungen meines eigenen Wohlstands aus den Bedingungen der Armut und Unterentwicklung anderswo resultieren, ist dieser Wohlstand ungerecht. Wenn mein Wohlstand dazu führt, dass anderswo Armut und Unterentwicklung entsteht oder Ausbeutungsverhältnisse, dann habe ich die Verpflichtung, für Abhilfe zu sorgen. Dass eine solche Selbstverständlichkeit im Zusammenhang mit dem Lieferkettengesetz auch noch ernsthaft bestritten wird, kann nur durch eine völlige Vergessenheit des Christlichen erklärt werden. Aber die Forderungen des Gemeinwohls gehen weit über die Sorgfaltsverpflichtungen aus dem Lieferkettengesetz hinaus; wir werden dies im Kapitel über Umwelt und Schöpfung näher betrachten. Dass dies auch Auswirkungen auf die Frage hat, wie wir mit Flüchtlingen umgehen müssen, ergibt sich beinahe von selbst.7 Flüchtlinge sind Menschen, die nicht aus Langeweile aus ihren Ländern fliehen, sondern aus Not. Es ist eine Not, die häufig auch von den westlichen Industriestaaten mit verursacht worden ist, sei es durch ausbeuterische Wirtschaftsstrukturen oder durch Umweltzerstörung. Kein Wunder, dass viele Flüchtlinge sich dorthin wenden, wo sie die Ursache ihres Unglücks vermuten. Auch das ist ein Grund dafür, warum gerade die Kirchen den Abschottungsextremisten entschieden entgegengetreten sind. Und das ist auch gut so. Wohlstand auf Kosten anderer lässt sich auf Dauer nicht durch Grenzen sichern.
3. Arbeit
Mein Freund Ralf ist sauer. Er arbeitet bei einer Firma im ländlichen Raum. Wir kennen uns seit unserer Jugendzeit. Er hat dort vor vier Jahren angefangen und sich zunächst über die Arbeitsbedingungen gewundert. Unbezahlte Überstunden, wenig Arbeitsschutz, Leiharbeiter, die dort zu schlechten Konditionen eingesetzt werden. Auf Beschwerden reagiert die Unternehmensleitung kurz angebunden. Wenn es Dir nicht passt, dann kannst Du ja gehen, heißt es. Gewerkschaftliche Bindung gleich Null; die Gewerkschaft hat noch nie einen Fuß in den Betrieb setzen können. Einen Betriebsrat gibt es nicht. Ralf beschließt: Ich spreche mal mit ein paar Kollegen, die das auch kritisch sehen. Schnell ist die Idee geboren: Wir können doch einen Betriebsrat gründen? Ja, warum eigentlich nicht? Das Verfahren dazu kann man im Internet leicht abfragen. Das Betriebsverfassungsgesetz ist die rechtliche Grundlage. Und eigentlich ist es einem Unternehmen verboten, die Gründung eines Betriebsrates zu verhindern, wenn die rechtlichen Voraussetzungen dafür vorliegen. Eigentlich.
Die Unternehmensleitung hat davon Wind bekommen, dass die Gründung eines Betriebsrates bevorsteht. Die Initiatoren werden einzeln zum Gespräch gebeten und unter Druck gesetzt. Es wird auch Geld geboten. Sie ziehen ihre Unterstützung zurück. Bis auf Ralf. Der wird wenige Wochen später unter einem Vorwand entlassen. Er findet zwar wieder einen neuen Job, aber Ärger und Verunsicherung sitzen tief. Alle Praktiken, die er in der Firma erfahren hat, sind verboten und teilweise strafbar. Aber: Wo kein Kläger, da kein Richter. Und in der strukturschwachen Region, aus der er kommt, ist man froh um jeden Arbeitsplatz.
Ein zweites Beispiel. Andrei Amariei hat von 2015 bis 2019 bei der Firma Tönnies gearbeitet.8 Zu Beginn habe er sieben Wochen ohne einen freien Tag gearbeitet; aber auch andere Arbeiter, so berichtet er der Süddeutschen Zeitung, hätten drei Wochen ohne einen freien Tag gearbeitet. Häufig sei der Lohn manipuliert worden, natürlich zugunsten des Arbeitgebers. Die Zeiterfassung wurde manipuliert, die Reinigung des Arbeitsplatzes durch die Mitarbeiter nicht als Arbeitszeit anerkannt. Als Amariei die Firmenunterkunft verließ, sei ihm trotzdem das Geld für die Unterkunft von seinem Lohn abgezogen worden. Wer glaubt, solche verbrecherischen Praktiken gebe es nur in der Fleischindustrie, der irrt. Auch mein Freund Ralf kann ähnliches berichten, sicherlich nicht so krass, aber mit ähnlicher Grundstruktur: Verstöße gegen den Arbeitsschutz, die Arbeitszeitregelungen, die ausgemachte Entlohnung. Man fühlt sich an die übelsten Zeiten des Kapitalismus im 19. Jahrhundert erinnert. Tönnies hat übrigens, bei mehr als 7000 Mitarbeitern, keinen Betriebsrat.
Sind das Einzelfälle? Das hängt ein wenig davon ab, wen man fragt. Tatsache ist allerdings: Solche Missstände finden häufig im Dunkeln statt, sie werden nicht öffentlich. Die Gewerkschaften können nur über Fälle berichten, die ihnen gemeldet werden. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die beispielsweise prüft, ob der Mindestlohn bezahlt wird und ob die Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden, kann nur über die Fälle berichten, die sie selbst untersucht hat. Mit anderen Worten: Es gibt diese Fälle, und die Dunkelziffer der nicht entdeckten Fälle ist vermutlich hoch.
Einen Hinweis darauf gibt eine bundesweite Kontrollaktion der Finanzkontrolle Schwarzarbeit im Februar 2019 in der Branche der Kurier-, Express- und Paketdienstleister. Etwas über 12.000 Fahrer aus dem In- und Ausland wurden nach ihren Arbeitsverhältnissen befragt, in etwas über 350 Fällen auch unmittelbar Geschäftsunterlagen der Unternehmen überprüft. Ergebnis waren 25 unmittelbare Strafverfahren wegen Vorenthaltung von Sozialversicherungsbeiträgen, knapp 50 Bußgeldverfahren wegen Verstößen gegen sozialversicherungspflichtige Meldepflichten oder ausländerrechtliche Bestimmungen und über 2100 Fälle, in denen es Anhaltspunkte für Verstöße gab, die weitere Prüfungen bei den Unternehmen notwendig machten, um den Sachverhalt zu klären. Mit anderen Worten: Bei der Stichprobe war ein Sechstel der Fälle als tendenziell kritisch anzusehen.9
Ähnliches gilt für den Mindestlohn. Bei einer ersten bundesweiten Überprüfung im Jahr 2018 stellte der Zoll in jedem zehnten Betrieb Unregelmäßigkeiten fest.10 Im Jahr 2019 prüfte der Zoll insgesamt mehr als 55.000 Arbeitgeber und leitete aus den Überprüfungen rund 115.000 Strafverfahren und 31.300 Ordnungswidrigkeitsverfahren ein. Aus den abgeschlossenen Strafverfahren ergab sich eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1891 Jahren und Geldstrafen in Höhe von 36,6 Millionen Euro.11 Man sieht: Verstöße gegen arbeitsrechtliche, sozialversicherungsrechtliche und andere Vorschriften sind im Arbeitsleben kein Einzelfall, sondern traurige Realität für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Vorschriften zum Arbeitsschutz und zur Einhaltung von Arbeitszeiten haben zwei Funktionen: Sie schützen die Schwachen und schaffen gleichzeitig eine gleiche Ausgangsposition im Wettbewerb der Unternehmen. Niemand darf im Wettbewerb beispielsweise dadurch Vorteile haben, dass er am Arbeitsschutz spart oder den Lohn drückt. Es gibt Mindeststandards, an die sich alle halten müssen. Erst dadurch entsteht ein fairer Wettbewerb. Mit anderen Worten: Der Wettbewerb ist geregelt und erstreckt sich nicht auf alle Aspekte der Unternehmenstätigkeit. Er findet seine Grenzen in der Würde des Menschen, in ihrem Schutz und ihrer fairen Behandlung, auch und gerade in der Entlohnung. Wäre dem nicht so, dann wäre Wettbewerb nichts anderes als das Überleben der Stärksten auf Kosten der Schwachen. Dann wären wir nicht weit weg von Sklavenarbeit oder Zuständen wie in England im 19. Jahrhundert. Das ist aber mit einer demokratischen Gesellschaft, die sich den Schutz der Würde des Menschen auf die Fahnen geschrieben hat, unvereinbar.
Gleiches gilt für die Vorschriften zum Mindestlohn. Da eine Lohnuntergrenze in vielen Bereichen tariflich nicht mehr festgelegt werden konnte, musste ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden. Der Mindestlohn war Ausdruck der Schwäche der Sozialpartner, nicht ihrer Stärke. Aber ein Mindestlohn muss natürlich auch kontrolliert werden: Wenn mehr als die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit geleistet wird, verdient ein Arbeitnehmer weniger als den Mindestlohn. Missbrauchsmöglichkeiten gibt es genügend, auch, weil das Mindestlohngesetz sehr laxe Bedingungen für den Nachweis der geleisteten Arbeitsstunden enthält. Eine handschriftliche Dokumentation der Arbeitsstunden kann leicht manipuliert werden, und wenn der Arbeitgeber undokumentierte Arbeitsstunden anordnet, greift jegliche Kontrolle ins Leere. Sicherlich, man kann sich beschweren und den Fall der Gewerkschaft oder der Finanzkontrolle Schwarzarbeit zur Kenntnis bringen. Die wenigsten aber tun dies, sei es, dass sie ihre Rechte nicht kennen, nicht um den richtigen Ansprechpartner wissen oder schlicht Angst um ihren Job haben.
Erschwerend kommt hinzu, dass die unterschiedlichen Schutzbestimmungen für die Arbeitnehmer von unterschiedlichen Stellen kontrolliert werden. Die Gewerbeaufsicht etwa ist Angelegenheit der Länder. Sie prüft die Einhaltung von Arbeitsschutzbestimmungen sowie Umwelt- und Verbraucherschutz. Die Überprüfung der Einhaltung des Mindestlohnes ist Angelegenheit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die dem Zoll untersteht; dieser ist eine Bundesangelegenheit. Diese Behörde überprüft nicht nur den Mindestlohn, sondern geht auch illegaler Beschäftigung nach. Daneben gibt es noch die Prüfdienste der Sozialversicherungen, Berufsgenossenschaften und Arbeitsschutzbehörden – eine verwirrende Vielzahl an Zuständigkeiten.
Das liegt zum einen daran, dass die Anzahl der Gesetzestexte zum Schutz von Arbeitnehmern unübersichtlich ist. Seit Jahren wird ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch gefordert. Warum sollte das nicht möglich sein, nachdem man auch die Sozialgesetzgebung einheitlich geordnet hat, in mittlerweile 14 Büchern?12 Es würde vor allem den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern helfen. Sie müssten dann nicht ihre Rechte aus den unterschiedlichsten Gesetzen zusammensuchen, sondern könnten ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch zur Hand nehmen. Man spricht von bis zu dreißig unterschiedlichen Rechtsquellen, die das Arbeitsrecht regeln. Das ist unübersichtlich und verschleiert Rechte von Arbeitnehmern. Insofern ist richtig: Die CDU muss sich zu einem einheitlichen Arbeitsgesetzbuch bekennen und diese Forderung auch im nächsten Koalitionsvertrag verankern. Das schafft Klarheit.
Neben der verstreuten Rechtsmaterie gibt es einen zweiten systematischen Fehler im deutschen Arbeitsrecht: die Rechtsdurchsetzung. Nehmen wir ein einfaches Beispiel. In einem Unternehmen wird festgestellt: Das Unternehmen hat für Arbeitnehmer nicht den Mindestlohn gezahlt. Dafür kann dem Unternehmen ein Bußgeld auferlegt werden. Das bedeutet aber nicht, dass damit automatisch die Arbeitnehmer die ihnen zustehenden Zahlungen rückwirkend erhalten. Nein, diese müssen in einem zivilrechtlichen Prozess eingeklagt werden. Gleiches gilt für zu wenig gezahlte Sozialabgaben. Das deutsche Recht geht davon aus, dass dies Gegenstand privater Rechtsverfolgung ist. Mit anderen Worten: Die Sozialversicherungen können nicht für den Geschädigten klagen; das muss er selbst übernehmen. Schlimmer noch: Nach vier Jahren verjähren die Ansprüche, der zu Unrecht einbehaltene Sozialversicherungsbetrag wird also gewissermaßen »ersessen«. Wenn Vorsatz im Spiel ist, verjähren die Ansprüche allerdings erst nach dreißig Jahren.
Nun ist eines klar: Kaum ein Arbeitnehmer wird, bei Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses, gegen seinen Arbeitgeber klagen. Die Fiktion, beide Parteien, Arbeitsgeber wie Arbeitnehmer, seien also gleich vor dem Recht, ist genau das: Eine Fiktion. Deswegen besteht hier Handlungsbedarf sowohl im präventiven wie im rechtsdurchsetzenden Bereich.
Verstöße gegen Arbeitsrecht, Mindestlohn oder Sozialversicherungspflicht sind dort häufiger, wo es weder eine tarifvertragliche Bindung des Arbeitgebers gibt noch eine Form betrieblicher Mitbestimmung etwa durch einen Betriebsrat. Hier kann der Gesetzgeber einiges tun, um die Tarifbindung zu steigern und Formen der Mitbestimmung zu stärken. Das widerspricht nicht der negativen Koalitionsfreiheit, bringt aber eine Wertentscheidung des Gesetzgebers zum Ausdruck. Ganz in diesem Sinn hat der Koalitionsvertrag von 2018 festgehalten, dass für tarifgebundene Unternehmen »Experimentierräume« geöffnet werden für die Flexibilisierung von Arbeitszeit. Und in der Legislaturperiode davor wurde vereinbart, dass tarifgebundene Unternehmen andere Möglichkeiten erhalten bei der Dauer der Beschäftigung von Zeitarbeitern. Diesen Tarifvorbehalt gilt es auszubauen. Tarifbindung muss ein Kriterium sein für den Zuschlag zu öffentlichen Aufträgen ebenso wir für jegliche Exportförderung durch die öffentliche Hand. Dadurch wird eine Wertung des Gesetzgebers deutlich: Dass tarifgebundene Unternehmen denjenigen vorzuziehen sind, die keinen Tarifvertrag anwenden.
Zweitens müssen Gewerkschaften und Sozialversicherungsträger über ein Verbandsklagerecht die Möglichkeit erhalten, für den einzelnen Arbeitnehmer tätig werden zu können; nur so lässt sich die strukturelle Ungleichheit im Arbeitsverhältnis durchbrechen. Das Arbeitsrecht geht immer noch ein wenig von der Fiktion aus, Arbeitgeber und Arbeitnehmer seien auf gleicher Augenhöhe. Das ist natürlich nicht so, denn der Arbeitgeber sitzt am längeren Hebel. Deswegen braucht der Arbeitnehmer einen Ausgleich, etwa über ein Verbandsklagerecht. Gemeinsam ist man stärker.
Drittens sollte der Bund die Einrichtung von Arbeitskammern nach dem Vorbild des Saarlands in den Bundesländern ermutigen. Arbeitskammern sind neutrale Beratungsstellen, die vor allem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in allen arbeitsrechtlichen Fragen beraten können. Dies ergänzt die gewerkschaftliche Beratungstätigkeit vor allem dort, wo Gewerkschaften wenig oder gar nicht vertreten sind. Darüber hinaus hat eine Kammer einen stärker offiziellen Anstrich als eine Gewerkschaft und wird eher als Beratungsgremium wahrgenommen, das mit der Beratung nicht eigene Interessen (etwa der Werbung neuer Mitglieder) verbindet.
Schließlich sollte sich der Bund darüber Gedanken machen, wie die Vielzahl der Aufsichtsbehörden einheitlicher im Sinne des Schutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusammengefasst werden können. Der Vorschlag, eine eigene Arbeitsinspektion zu errichten13, ist sicherlich erwägenswert, wird aber aufgrund der unterschiedlichen Zuständigkeiten im föderalen System eher schwierig umzusetzen sein.
In der Arbeit entfaltet sich der Mensch; Arbeit ist sinnstiftend. Das gilt nicht nur für Lohnarbeit, aber hier ist der Mensch durch die ungleichen Machstrukturen verwundbar, verletzlich. Hier geht es um seine Menschenwürde und seine persönliche Lebensgestaltung, aber auch um Fragen des Gemeinwohls. Profit ist legitim, nicht aber auf Kosten der Gerechtigkeit. Deswegen müssen Praktiken, wie sie meinem Freund Ralf oder Andrei Amariei widerfahren sind, unterbunden werden, auch mit den Mitteln des Strafrechts. Und die rechtliche Ahndung darf nicht davon abhängen, dass sich ein Arbeitnehmer einmal traut, sich zu wehren.
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