Kitabı oku: «Lanterne Rouge», sayfa 3

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KAPITEL 2
DER ÜBERLEBENDE

Bei der idealen Tour gelingt es nur einem einzigen Fahrer, die gesamte Strecke zu absolvieren.

Henri Desgrange

Zurück in den Tiefen der Bibliothek war ich eifrig bemüht, mich nicht den Reihen der Besucher anzuschließen, die hier ein Nickerchen abhielten, als ich plötzlich etwas Bemerkenswertes entdeckte: Bei der Lektüren eines Mikrofilms über die 13. Tour im Jahr 1919 stolperte ich über den Begriff lanterne rouge.

»Devilly ist bei unserer Tour de France nicht losgefahren«, schrieb Henri Desgrange ein oder zwei Tage nach dem Beginn des Rennens, »da er nicht genügend Reifen auftreiben konnte. Es ist eine Schande: Die ehemalige lanterne rouge hätte vielen Fahrern eine Lektion in Sachen Mut erteilen können.«

Georges Devilly war 1909 lanterne rouge gewesen, als er als isolé teilgenommen hatte – als Einzelfahrer, der nicht von einem Fahrradhersteller wie Clément, Peugeot oder Alcyon unterstützt wurde. Dies waren zur damaligen Zeit die Hauptsponsoren der professionellen Radsportler. Sie nutzten die Siege ihrer Fahrer für Werbezwecke und gewannen in Folge immer mehr Macht und Einfluss auf den Sport. Die Grenze zwischen Profis und Amateuren war jedoch unglaublich fließend. Keinen Sponsor zu haben, bedeutete nicht, ein schlechter Radfahrer zu sein. Der erste isolé des Jahres 1909 machte den sechsten Platz und gewann einen erheblichen Geldpreis.8 Georges war früher für Alcyon und Le Globe gefahren. Vielleicht lag es an einem momentanen Formtief, dass er an der Tour als isolé teilnahm (beim Rennen Paris–Brüssel war er erst eine Woche zuvor Drittletzter geworden) und den Wettkampf mit dem 55sten und letzten Platz9 abschloss. Isolés mussten für ihre gesam ten Reisekosten über die 14 Etappen selbst aufkommen. Das war eine Menge Geld für das Vorrecht, als Letzter durchs Ziel gehen zu können.

Ich hatte mir schon Gedanken über den Ursprung des Begriffs lanterne rouge gemacht. Französische Wörterbücher zum Radsportjargon datierten den Ausdruck auf das Jahr 1924, in dem der Journalist Albert Londres ihn in seinem berühmten Artikel Les Forçats de la Route (»Die Zwangsarbeiter der Strecke«) gebrauchte, aber er ist offensichtlich viel älter. Aus ein paar Gründen schloss ich, dass er im ersten Jahrzehnt der Tour geprägt worden war. Erstens: Wenn Desgrange Devilly im Jahr 1919 als lanterne rouge bezeichnete, musste dieses Beiwort schon vor dem Ersten Weltkrieg in Gebrauch gewesen sein. Das Rennen von 1924 war das erste seit 1919, und damit dieser Ausdruck die vierjährige Pause überlebt haben konnte, musste er im Sprachgebrauch der Radfahrer schon fest etabliert gewesen sein. Das musste jedoch nicht bedeuten, dass der Begriff schon 1909 geläufig gewesen war, denn George hätte diese Auszeichnung auch rückwirkend erhalten können. Zweitens: Ich lehne mich jetzt einmal ganz weit aus dem Fenster und behaupte, dass diese Bezeichnung erst mit der Tour ins Leben gerufen wurde und nicht vorher. Nicht nur die Sprache ist ein Hinweis; es gibt auch gute Gründe für die Annahme, dass der Kult um die lanterne rouge nicht bei einem Ein-Tages-Rennen entstanden ist. Lassen Sie mich das erklären: Bei einem üblichen Ein-Tages-Rennen ohne Handicaps stellen sich alle Teilnehmer ohne Rangfolge und offizielle Hierarchie am Start auf. Das Rennen beginnt, und alle rasen Richtung Ziel und versuchen dabei, den ersten Platz zu machen. Während der Fahrt nehmen viele verschiedene Personen die letzte Stelle ein. Erst mit dem Überqueren der Ziellinie wird die Klassifizierung sozusagen in Stein gemeißelt.

Wer als Erster eintrifft, ist der Sieger, wer als Letzter kommt, nimmt den letzten Platz ein. Damit ist das Rennen gelaufen. Wenn der Letztplatzierte am nächsten Tag wieder antritt, so ist das ein Neuanfang: Theoretisch ist er seinen Gegnern wieder gleichgestellt.

Vielleicht ist auch bei den besonders langen Rennen wie der Tour Paris–Brest–Paris der letzte Mann im Peloton schon als lanterne rouge bezeichnet worden. Aber nur bei einem Etappenrennen und nur nach Einführung einer Gesamtwertung konnte es vorkommen, dass ein Fahrer mehrere Tage hintereinander das Schlusslicht bildete. Wenn er als Letztplatzierter ins Bett geht, steht er auch als Letztplatzierter wieder auf, und wenn er sich am nächsten Tag auf sein Fahrrad schwingt, fährt er immer noch auf dem letzten Platz – möglicherweise fast einen ganzen Monat lang. Ich will nicht behaupten, dass die Gesamtwertung mit der Tour de France erfunden wurde, aber sie war meines Wissens das erste Etappenrennen der Welt und erregte in der lokalen, nationalen und internationalen Presse erhebliche Aufmerksamkeit. Nur unter diesen Umständen, so scheint es mir, konnte ein Kult um den Mann aufkommen, der den letzten Platz einnahm.

Nachdem ich die Erwähnung der lanterne im Zusammenhang mit Georges Devilly entdeckt hatte, durchstöberte ich viele der Vorkriegsausgaben von L'Auto, konnte das Zauberwort aber nicht mehr finden. Möglicherweise war es nicht die erste Erwähnung im Druck, aber ich bin mit 1919 sehr zufrieden: Es hat etwas von ausgleichender Gerechtigkeit, dass die rote Laterne im selben Jahr auftaucht, in dem auch (nach offiziellen Berichten) das Gelbe Trikot seinen Einstand gibt.

Damit war das »Wann« mehr oder weniger eingegrenzt. Viel interessanter aber ist das »Warum«. Nach allgemeiner Auffassung wurde die Vorstellung einer lanterne rouge von der Eisenbahn übernommen, bei der am letzten Waggon früher eine rote Laterne hing. Sie sollte Bahnwärtern versichern, dass sich unterwegs keine Waggons gelöst hatten und die Strecke hinter dem Zug frei war: Der Bremswagen mit dem schaukelnden roten Licht war wirklich der letzte Waggon. Eisenbahn- und Autoexperten auf beiden Seiten des Atlantiks haben diese Praxis bestätigt. Offensichtlich war es eine international übliche Vorgehensweise, deren Farbsystem dann auf andere Transportmedien übertragen wurde. Man möchte glauben, dass der Radsport seine Gebräuche eher aus dem Automobilbereich entlehnt hätte, doch angesichts der Entfernungen und Geschwindigkeiten und der Wahrscheinlichkeit von Zusammenstößen mit anderen Objekten (kein Ausweichen möglich!) war die Eisenbahn das erste Transportmittel, bei dem es nötig wurde, allgemeingültige Konventionen einzuführen. Außerdem wurde eine Beleuchtung bei Automobilen erst lange nach dem Ersten Weltkrieg verbindlich vorgeschrieben. Für den Ford T, der seit 1908 gebaut wurde, gab es zwar Öllampen am Heck, allerdings wurden sie erst um 1915 eingeführt. Rot war dank der Eisenbahn lange Zeit die übliche Farbe für die Rücklichter von Autos, allerdings wurde diese Konvention erst mit dem Wiener Übereinkommen für den Straßenverkehr im Jahre 1949 gesetzlich vorgeschrieben.

Rot signalisiert: Halt, nicht anfassen! Das ist ein Beispiel für Aposematismus – eine Warnfärbung, die Gefahr signalisiert, im Grunde genommen das Gegenteil einer Tarnfarbe. Rot hat die größte Wellenlänge im Spektrum des sichtbaren Lichts, weshalb es von Teilchen in der Luft weniger gestreut wird und sich bei Nebel auch auf größere Entfernungen besser ausmachen lässt. Diese Farbe ist schon immer verwendet worden, um Gefahr zu signalisieren. Beispiele dafür sind etwa der Rotschulterstärling, der sein Gefieder zeigt, um Angreifer abzuschrecken, die Korallenschlange und der Pfeilgiftfrosch. Das französische Standardwörterbuch Dictionnaire Le Robert definiert eine lanterne rouge als die Lampe am letzten Fahrzeug eines Konvois. Die Eisenbahn wird nicht ausdrücklich erwähnt, aber Güterzüge scheinen auch eher eine amerikanische als eine französische Idee zu sein. Will man der Darstellung in populären Medien glauben, war der Franzose des fin de siècle eher an Absinth, Kabarett und Madeleines interessiert. Der Robert verweist auch auf die roten Laternen der maisons closes – der Bordelle –, von denen der Begriff des »Rotlichtviertels« abgeleitet ist. Aber das ist eine falsche Spur (oder, um im Bild zu bleiben, ein »red herring«, wie es im Englischen heißt). Radrennfahrer der guten, alten Zeit führten tatsächlich Lampen mit. Graeme Fife, Autor von Büchern wie Tour de France: The History, the Legend, the Rides, erzählte mir von einer Zeichnung in einer Ausgabe der Illustrated London News vom Ende des 19. Jahrhunderts. Darauf sind die Mitglieder eines Clubs zu sehen, die auf einem Sammelsurium von verschiedenen Fahrradmodellen von einem Treffen zurückfahren. Mit den kugelförmigen und zylindrischen chinesischen Papierlaternen, die an Stangen an ihren Fahrrädern befestigt sind, wirken sie wie ein Sanktmartinszug.

Auch die Profis nutzten Lampen, vorzugsweise Öllampen, da viele Rennen der ersten Stunde auch bei Dunkelheit fortgesetzt wurden, wenn sich die Fahrer auf schlechten Straßen abmühten, die verlangten Strecken zurückzulegen. Auch wenn die bildliche Vorstellung gebräuchlich war, ist es unwahrscheinlich, dass der Letzte bei der Tour de France jemals eine rote Laterne führte, unter anderem auch aus logistischen Gründen. Wenn die Tour zu Ende geht, wird dem Letzten jedoch oft eine symbolische Laterne überreicht, gewöhnlich auf der letzten Etappe, wenn nicht mehr genug Luft ist, um seine Platzierung zu verbessern. Fife hat mir auch ein Foto aus den 20er Jahren gezeigt, auf dem zwei Tour-Teilnehmer Seite an Seite radeln. Beide halten einen Stock, an dessen Ende eine Konservendosen-Laterne angebunden ist. Die beiden grinsen breit und ein wenig spitzbübisch, »wie zwei Jungs, die vom Kaulquappenfang nach Hause gehen«, um mit Fife zu sprechen. Diese Dose sieht wirklich wie eine symbolische Laterne aus, was die Vorstellung stützt, dass die lanterne rouge schon in der Frühzeit der Tour ein Preis war, der eine gewisse Selbstkritik und Selbstironie ausdrückte. Noch heute erhält der Letztplatzierte der Tour vor den Champs-Élysées oft eine symbolische Laterne, die entweder von den Pressefotografen oder seinem eigenen Fanclub gestiftet wird. Jedes Jahr tauchen auch einige gestellte Fotos des Fahrers mit der lanterne auf. Manchmal ist er dabei zu sehen, wie er hinter dem Peloton herfährt, sich umdreht und in die Kamera lächelt; manchmal wird ihm die Laterne von anderen Radfahrern überreicht; und manchmal steht er mit einem Fan auf den Champs-Élysées oder bei den Mannschaftsbussen. Diese Fotos zeichnen sich durch gestellte Posen und einen undefinierbaren Ausdruck im Blick des Fahrers aus. Es ist nicht gerade Scham, sondern das ganze Spektrum von amüsiert über verlegen und peinlich bis zu trotzig – das unangenehme Gefühl, bei der Feier des letzten Platzes auf Film festgehalten zu werden. Dafür habe ich nicht mit dem Radsport angefangen!

Aber immerhin sind diese Männer ans Ziel gekommen. Georges Devilly hat es getan, und zwar allein, ohne eine Mannschaft oder wenigstens den Besenwagen als Gesellschaft (der wurde erst 1910 eingeführt). Vielleicht wog er unterwegs ab, was ihn mehr kosten würde – weiterzumachen oder aufzugeben, am Zielort seine Sachen zu packen und sich geschlagen auf den Heimweg zu begeben. Ohne den Gummiengpass wäre er 1919 sogar erneut angetreten.

Devilly und Desgrange hatten mich auf einen langen Umweg geschickt, auf eine Eisenbahnfahrt, zu den Ford-Werken in Michigan, in das zwielichtige Pariser Nachtleben und das Naturkundemuseum. Dabei hatte ich die Tour von 1919 wegen einer Geschichte außerordentlicher Ausdauer recherchiert, bei der ein unwahrscheinlicher Sieger der französischen Nation das Gefühl gab, als hätte sie den Großen Krieg unversehrt überstanden. Also kehrte ich zu dem Jahr zurück, in dem halb Europa die Kosten des Krieges in Form von zerstörten Dörfern und Städten, verwüsteten Feldern, Straßen und Eisenbahnlinien zählte. In Frankreich herrschte eine gequälte und niedergedrückte Stimmung. Fast 2,5 Millionen waren entweder ums Leben gekommen oder als Invaliden heimgekehrt. Unter ihnen waren auch frühere Tourgewinner: Octave Lapize und Lucien Petit-Breton waren tot, desgleichen François Faber, der Luxemburger, der 1909 seiner Konkurrenz davongefahren war. Der Rest des Pelotons war ausgedünnt und hatte sich zerstreut. Außerdem waren die Männer nicht ausreichend in Form. Es war schon schwierig, sie an die Startlinie zu bekommen.

Es gab jedoch eine starke öffentliche Nachfrage nach der Tour, einem nationalen Symbol, zur Unterhaltung und zur moralischen Stärkung. »Die Tour ist aus der Asche wiedergeboren«, schrieb Henri Desgrange Anfang 1919. Die Erfüllung dieses Versprechens erwies sich als nicht einfach, und die Tour war auch nicht das einzige Rennen, das in diesem Jahr in Schwierigkeiten geriet. Im Januar, weniger als drei Monate nach dem Waffenstillstand, hatte die Zeitung Le Petit Journal versucht, L'Auto mit einem neuen Rennen zuvorzukommen, dem Circuit des Champs de Bataille (dem »Schlachtfelder-Rundrennen«), das im April stattfinden sollte. Die Organisatoren hatten eine Route abgesteckt, die über Straßburg, Luxemburg, Brüssel, Amiens, Bar-le-Duc und Belfort führte, und dabei die Warnungen der lokalen Presse ignoriert, dass die Straßen dort, im Kernland der Verwüstungen an den Grenzen zu Belgien und Deutschland, unbrauchbar waren. Sie hatten sogar argumentiert, dass gerade der fürchterliche Zustand der Region den Besuch lohnte: Ein solches Rennen wäre ein Symbol der Solidarität, der Wiederherstellung und Hoffnung und ein Willkommensgruß an einige ehemals deutsche Provinzen, die nun wieder zu Frankreich gehörten. In der Woche vor dem Circuit wurde die Tour Paris–Roubaix abgehalten, doch die Bedingungen waren so schlecht, dass es nur fünf von 40 Begleitfahrzeugen gelang, das Niemandsland auf dem Weg nach Roubaix zu überwinden. Auch der Circuit des Champs de Bataille hatte eine furchtbare Ausfallquote. Schnee, Schneeregen und Hagel verschlimmerten den ohnehin miserablen Straßenzustand noch, und schließlich kamen nur »13 heldenhafte Überlebende« (wie eine Zeitung sie titulierte) ans Ziel.

Desgrange wischte all diese Schwierigkeiten hinweg und plante eine anspruchsvolle 5560-Kilometer-Route, die durch die Schweiz und in die neutrale Zone, dann durch die frisch eroberte Region Elsass-Lothringen und die Schlachtfelder von der Somme nach Dünkirchen führte. Es war bis heute die längste Tour. Die Strecke sollte in 14 Etappen durchlaufen werden, und das Rennen sollte der Welt – und auch Frankreich selbst – zeigen, dass das Land wieder auf festen Beinen stand.

Sofort stieß er auf logistische Probleme. Neben dem furchtbaren Zustand der Straßen behinderten auch Kontrollpunkte und militärische Bürokratie den Verlauf des Rennens, und die Fahrer hatten die strikte Anweisung erhalten, ihre Pässe mitzuführen. Die Herausforderungen waren nicht auf die Strecke beschränkt: Der Reifenmangel, dem sich Georges Devilly10 gegenübersah, war nur einer der vielen wirtschaftlichen Engpässe, die Desgranges Aufgabe erschwerten. Desgrange nahm sie persönlich, als ob es sich nicht um vielschichtige geopolitische Zusammenhänge und eine weltweite Tragödie von großem Ausmaß handelte, sondern um eine Vendetta gegen ihn und sein Rennen. In L'Auto äußert er sich ungewöhnlich niedergeschlagen über seine Verantwortung:

Seit unsere Zeitung die Tour de France organisiert, ist mir diese Herausforderung noch nie so schwierig, ja, furchteinflößend vorgekommen wie in diesem Jahr. Vor dem Krieg erschien der Start jeder unserer »Tours« wie der Anbruch eines wunderbaren Monats voller herausragender Leistungen und großem Mut. Dieses Jahr habe ich den Eindruck, als sei die teure Leinwand von Strolchen beschmutzt, die mit Dreck um sich werfen. Einige Einzelheiten machen meinen Standpunkt wahrscheinlich klarer: Wir hatten für jede Etappe einen Vorrat an neuen Reifen vorgesehen, aber ich habe keine gefunden, obwohl ich bei allen Türen angeklopft habe. Die Lebenshaltungskosten, eine weitere Hinterlassenschaft des Krieges, rufen Streiks in den Fabriken hervor. Wie soll es unseren Fahrern ergehen? Wir haben vorgehabt, sie auf jeder Etappe zweimal mit Nahrung zu versorgen, aber uns fehlt Zucker – wieder der Krieg! –, und die erforderliche Menge, die wir in Antwerpen bestellt haben, wurde gestern an der Grenze aufgehalten (obwohl es keine Einfuhrbeschränkungen gibt).

Das Klagelied setzt sich mit ausgebuchten oder geschlossenen Hotels und Zweifeln über die motorisierten Vorreiter der Tour fort: »Mit unserer Motorradgarde haben wir beispiellose Schwierigkeiten. Im Krieg – und jetzt schon wieder! – wurden alle Motorräder requiriert.«

Auch die Fahrradbranche war in Schwierigkeiten. Viele Fabriken in Frankreich hatten während des Krieges ihre Produktion umgestellt, waren bei Kämpfen zerstört worden und verfügten nicht über genügend Rohstoffe. Den Fahrradherstellern ging es so schlecht, dass sie es sich nicht leisten konnten, eigene Mannschaften aufzustellen. Stattdessen schlossen sie sich zusammen, um ein gemeinsames Team zu sponsern, La Sportive. Trotz mangelhafter Mittel ließ diese Mannschaft das Konzept des professionellen Radsports wieder auferstehen und half dabei, die Tour 1919 überhaupt durchführbar zu machen. Desgrange wusste, dass er die Hilfe der Hersteller brauchte. Er hatte ein Händchen für werbewirksame Veranstaltungen und wusste, dass die Hersteller Geld mitbringen und der Tour eine Publicity verleihen würden, die für das Rennen lebenswichtig waren. Andererseits war es ihm zuwider, welche Kontrolle die Hersteller über ihre Fahrer ausübten und wie die Fahrer in ihren Händen zu Stars aufstiegen, denn beides minderte seinen eigenen diktatorischen Einfluss auf das Rennen. Unter dem Deckmäntelchen von Zweckmäßigkeit und Nachkriegs-Sparsamkeit fand er eine Gelegenheit, um einen Teil seiner Macht zurückzugewinnen. Nachdem sich La Sportive für das Rennen verpflichtet hatte, verkündete er in L'Auto, dass er während des Rennens keinerlei Werbung für Hersteller machen wollte, die hinter der Mannschaft steckten, oder für die Mannschaft als Ganzes. »Bei der Tour de France 1919 geht es um die einzelnen Fahrer«, sagte er. Für La Sportive war das ein schlechtes Geschäft, denn die Sponsoren konnten ihren Fahrern nur am Anfang oder Ende der Etappen helfen. Da nicht viel Farbe zur Verfügung stand, konnten sie sie nicht einmal in bunte Kleidung stecken. Mehr als trostloses Grau war nicht drin.

Außerdem hatte Desgrange eine Abneigung gegen die von den Herstellern eingeführte Idee, Mannschaften fahren zu lassen. Seiner Ansicht nach verwässerten sie damit den reinen Wettkampfgedanken. Die Hersteller hatten schnell herausgefunden, dass mehrere von ihnen bezahlte Fahrer zusammenarbeiten konnten, um für einen von ihnen das Beste herauszuholen. Es war Desgrange, der 1911 den Begriff domestique – wörtlich ein »Hausangestellter« wie ein Diener oder ein Hausmädchen – für Radfahrer prägte, die für andere arbeiteten, und er meinte dies als eine Beleidigung. Angesichts der jetzigen Schwäche der Hersteller und des Mangels an Ressourcen konnte er die Mannschaftstaktiken aushebeln. Im Rennen von 1919 sah er eine Abkehr »von der bedauerlichen Ungerechtigkeit der Vergangenheit, die es einigen erlaubte, als große Stars an der Tour teilzunehmen, während andere dazu verdammt waren, als Bettler mitzufahren«, wie er schrieb. »Theoretisch hat der unbedeutendste, benachteiligtste Radfahrer, der am stärksten isolierte Einzelfahrer, wenn er nur die entsprechenden Qualitäten mitbringt, die gleiche Chance wie die Fürsten der Pedale, die Stars der Straße.«

Dies war eine Demokratisierung auf autokratische Weise, wie es Desgranges Wesen entsprach. Er war immer auf der Seite des kleinen Mannes, sofern er diesem kleinen Mann das Leben so schwer wie möglich machen konnte. Unter den vielen, vielen Vorschriften hieß es beispielsweise, dass kein Fahrer einem anderen etwas zu essen oder zu trinken, einen Ersatzreifen oder ein Trikot geben oder ihn in seinem Windschatten fahren lassen durfte. Die offiziellen ravitaillements (Verpflegungszonen) standen allen offen, es gab keine musettes (Verpflegungsbeutel) – zu teuer –, und außerhalb der Verpflegungsstationen durfte niemand etwas essen oder trinken, das er nicht selbst gekauft hatte. Ausgenommen davon war nur Wasser aus Pferdetränken, Quellen und öffentlichen Wasserhähnen. Die wenigen Reifen, die es gab, durften während des Rennens nur von offiziellen Mitarbeitern verteilt werden. Desgrange wollte die Tour wirklich so hart wie möglich machen. Die Fahrer sollten in ihrem Elend allein bleiben, heldenhaft allein. Nur ein Mann und sein Fahrrad, vorzugsweise im Regen. Bergauf. Mit einer gebrochenen Speiche und am besten mit einem Wolf. Es war eine geradezu nietzscheanische Vorstellung von Ertüchtigung: Bei der idealen Tour gelingt es nur einem einzigen Fahrer, die gesamte Strecke zu absolvieren.

Die von 1919 sollte ein harter Überlebenskampf werden.

Nachdem er mit dem Krieg, den Herstellern und jeder Art von Güte und Mitgefühl abgerechnet hatte, war Desgrange bereit, das Rennen zu starten. (Er hatte sich 1917 im Alter von 52 Jahren übrigens freiwillig gemeldet und war erst kürzlich aus dem Kriegsdienst entlassen worden.) Gegen die Mitglieder von La Sportive, die »A-Fahrer«, traten die nicht gesponserten Fahrer mit der nicht unbedingt leistungsorientierten Bezeichnung »B« an, die im Grunde genommen den isolés der Vorkriegsjahre entsprachen. Es waren offizielle Preise nur für B-Fahrer ausgelobt, um sie zur Teilnahme zu ermutigen, und ihnen wurde eine Entschädigung von 20 Franc täglich geleistet, doppelt so viel, wie die A-Fahrer bekamen.

Zuerst schrieben sich hauptsächlich B-Fahrer ein, was vielleicht an dem Durcheinander der Sponsorenvereinbarungen für die A-Fahrer lag. Allerdings meldeten sich schließlich alle verbliebenen großen Namen des Radsports und alle aufstrebenden Jungstars an: Odiel Defraye, Eugène Christophe, Firmin Lambot sowie die Brüder Francis und Henri Pélissier, die später die Tour 1924 als Protest gegen Desgranges Despotismus verlassen sollten. Weniger umjubelt war ein gewisser Jules Nempon aus Calais, der sich auch erst kurz vor Toresschluss einschrieb. Vor dem Krieg hatte er sich schon bei einigen kleineren Rennen gut geschlagen und bei den Touren Paris–Le Mans und Paris–Beaugency Plätze unter den ersten Zehn erreicht. Bis zum Ende seiner Karriere sollte er insgesamt zehn Mal bei der Tour de France antreten. Dennoch wurde er zur Kategorie B eingeteilt, was trotz seiner bisherigen Leistungen nicht ungewöhnlich war: Aufgrund des Krieges war die Rennsportkarriere aller Teilnehmer sehr bruchstückhaft.

Am Tag vor dem Beginn des Rennens zeigt die Titelseite von L'Auto ein Gruppenfoto der Tourkandidaten. Genau in der Mitte ist Jules zu sehen, eine Figur wie aus einem Roman von Charles Dickens. Sein Gesicht ist schmal und wird von einer großen, flachen Mütze überschattet, ein kleiner Schnurrbart prangt über seinem schiefen Lächeln, und um seinen Mund ist ein leichter nagetierhafter Zug. Sein Blick hat etwas Melancholisches an sich. Er ist 29 Jahre alt, wiegt 61 kg und fährt ein Rad mit einer »5 m 50 cm«-Übersetzung.11

Insgesamt schrieben sich 130 Fahrer ein, aber nur 69 traten an der Startlinie an, was größtenteils am Reifenmangel lag. Von diesen 69 wiederum schafften es nur 68, von dem feierlichen Start auf der Place de la Concorde in einem Stück zum scharfen Start (départ réel) in Argenteuil zu kommen: Francis Pélissier stürzte während des neutralisierten Starts und brachte zwei Stunden damit zu, sein Rad zu reparieren. Seine Hoffnungen waren schon zunichtegemacht, bevor er auch nur einen Kilometer zurückgelegt hatte. Damit war er sicherlich der Hauptkandidat für die Prämie von 15 Francs, die ehemalige Soldaten in Sainte-Adresse, knapp außerhalb des Etappenziels Le Havre, dem Pechvogel des ersten Tages in Aussicht stellten. Gerade die Soldaten zeigten viel Mitgefühl für die Härten, die die Teilnehmer durchmachten, was möglicherweise daran lag, dass ein Großteil der Radfahrer an ihrer Seite gekämpft hatte. Die Kriegsteilnehmer unter den Radfahrern hatten keine Zeit gehabt, sich nach den fünf Jahren, in denen sie nicht Rad gefahren waren, in Form zu bringen, und es war keine neue Generation junger Radler nachgerückt. All dies trug zu der hohen Ausfallrate bei.

26 Fahrer gaben auf, bevor sie Le Havre erreichten – 18 davon waren B-Fahrer, und insgesamt war dies mehr als ein Drittel des Gesamtfelds. Unter ihnen befand sich sogar der zweimalige Toursieger Philippe Thys, der aufgrund einer Krankheit kurz vor Le Havre aufgeben musste. Jean Rossius, ein belgischer Landsmann, hatte Mitleid mit ihm und ihm etwas zu essen gegeben, wofür er 30 Strafminuten erhielt und damit seinen Vorsprung im Rennen verlor. Jules dagegen war entschlossen, weiterzumachen. Er kam als 20ster am Etappenziel an, ziemlich am Ende des Feldes. Allerdings war er der Erste von allen B-Fahrern.

Während der dreitägigen Fahrt entlang der Nordküste von Paris über Le Havre und Cherbourg nach Brest stürmte Gegenwind auf die Fahrer ein. Unter dem Eindruck, die ganze Welt habe sich gegen sie verschworen, gaben die gefeierten Gebrüder Pélissier in Brest im strömenden Regen auf. Auf dieser Etappe bildete Henri Leclerc das Schlusslicht. Er kam erst gegen Mitternacht ans Ziel und verbrachte seinen ganzen Ruhetag im Bett. Auf 200 der 412 km der nächsten Etappe blieb Nempon spielend in der Spitzengruppe, weshalb ein Korrespondent ihn zu einem todsicheren Tipp für die Kategorie B erklärte und begeistert ausrief: »Meiner Treu, ich gewahrte ihn in hervorragender Kondition!« Nempon ging jedoch schließlich als Letzer ins Ziel, zuvor war er allerdings drei Stunden lang Alois Verstraeten voraus gewesen, seinem nächsten Rivalen der Kategorie B.

Am Fuß der Pyrenäen, die die Fahrer nach zwei endlos langen Etappen entlang der Atlantikküste erreichten, hatten das furchtbare Wetter und der unmögliche Straßenzustand das Feld auf nur noch 25 Mann ausgedünnt, ein Drittel derjenigen, die in Paris aufgebrochen waren. Géo Lefèvre erklärte dies zur »schönsten Tour de France, die ich je gesehen habe«. Seine Reportagen waren anzüglich und sadistisch, und er übertrieb bewusst die Dramen, die sich auf der Straße abspielten. Viele der klassischen Bilder von Leid, Ausdauer und Entschlossenheit, die unser Bild der Tour prägen, nahmen mit der Berichterstattung über diese Tour ihren Anfang – die hohlwangigen Gesichter, die schweißüberströmten Brauen, die angespannten Muskel und der Ausdruck von tiefster Erschütterung –, um die Taten der »Giganten der Straße« noch heldenhafter erscheinen zu lassen. Lefèvres Sadismus war jedoch nicht ohne Bewunderung und sogar ein gewisses Mitleid. Wie Christopher S. Thompson, der Autor von The Tour de France: a Cultural History, es formulierte, entwickelte sich um diese extrem harten Touren ein »Überlebenskult«. Wer wie Nempon eine gewisse Selbstgenügsamkeit und Leidensfähigkeit bewies, wurde gefeiert, welchen Platz er auch immer einnahm. Man jubelte diesen Menschen wegen ihrer Haltung, ihrer Würde und ihrer Entschlossenheit angesichts der strapaziösen Herausforderungen zu.

Während der nächsten beiden Etappen ließ Nempon nach, während Verstraeten sich erholte, sodass für Jules die Gefahr bestand, überholt zu werden. Vor der Tour hatte L'Auto ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den französischen Schwergewichten in Aussicht gestellt – mit Eugène Christophe, Jean Alavoine und den Pélissiers gegen Firmin Lambot, Émile Masson und die Buysse-Brüder – und nun entpuppte sich das Ganze als Sturm im Wasserglas. Es waren nur noch 17 Teilnehmer übrig. »Der kleine Fahrer aus Calais scheint zu ermattet zu sein, um sich den zahlreichen Schwierigkeiten zu stellen, die seiner noch harren«, schrieb Lefèvre.

In den Pyrenäen begann Nempon wieder zu kämpfen. Die erste Etappe von Bayonne nach Luchon enthielt einige der berühmtesten Anstiege der Tour: Aubisque, Tourmalet, Aspin und Peyresourde. 1919 gab es in den höheren Regionen dieser Berge kaum mehr als Trampelpfade. »Unsere Männer fluchen auf den endlosen Anstiegen über die ›Sträflingsarbeit‹, halten die Hände fest am Lenker und treten kräftig in die Pedale. Am blauen Horizont an der Spitze des Col erscheinen sie als Schattenrisse, ihre Körper vornübergebeugt«, schrieb Desgrange, »und dann tauchten sie, so schien es, ins Nichts ab. In der Zeit, die wir brauchten, um zum Gipfel zu gelangen, waren sie bereits zu winzigen Punkten geschrumpft, die auf der weißen Straße zum Golf unter uns hinabrollten.« Nempon flog förmlich über die Berge und überquerte den Portet d'Aspet und den Col de Port in der führenden Dreiergruppe. Obwohl er stürzte und mehrmals einen Platten hatte, nahm sein Selbstvertrauen wieder zu. Verstraeten dagegen stürzte nach einem Start um 2 Uhr nachts in der Dunkelheit. Arg mitgenommen und blutig geschlagen humpelte er weiter.

Hinter den Pyrenäen brach für Verstraeten die Welt zusammen, als das Gerücht aufkam, er hätte in der Normandie den Zug genommen. Ein Tag verging, ohne dass weitere Indizien dafür ans Licht gekommen wären, aber dann wurde Verstraeten disqualifiziert, nachdem er dabei gesehen wurde, wie er sich in der Nähe von Montpellier an der Schulter eines Motorradfahrers festhielt. Desgrange untersuchte die Vorfälle. Für die Eisenbahngeschichte fand er keinerlei Beweise, aber der Zwischenfall mit dem Motorrad schien unbestreitbar zu sein. Allerdings hörte man im belgischen Lager Protestgemurmel. »Die wollten ihn aus der Kategorie B ausschließen, weil er zu gut fuhr«, behauptete der belgische Manager Karel Steyaert.

Nach Verstraetens Ausscheiden war Jules der einzige nicht gesponserte Fahrer – »der Letzte der Römer« –, und die Berichterstattung über ihn wurde täglich ausgiebiger und herzlicher, selbst als sich die Fahrer immer mehr Abschürfungen, Hämorrhoiden, Ausschläge und Schwellungen zuzogen. Die Organisatoren erkannten die Publikumswirksamkeit eines einzigen Überlebenden und schenkten Jules besondere Beachtung. Vor den Alpen war Jules die Nr. 12 von 13 Fahrern, einen Platz vor dem Schlusslicht Paul Duboc, einem Apfelhändler aus der Normandie. Allerdings hatte sich Duboc eine Zeitstrafe eingehandelt, weil er ein unzulässiges Getränk angenommen hatte. Ohne sie hätte er eine halbe Stunde vor Nempon gelegen. Beide überstanden die Alpen. Danach gelangte das kleine Peloton auf die Kopfsteinpflaster des nördlichen Frankreich, in die neutrale Zone und auf die ehemaligen Schlachtfelder. Jules hielt durch, und endlich hatten die rescapés – ein Begriff, der in jener Zeit häufig verwendet wurde und »Überlebende« bedeutet – nur noch die 340 km von Dünkirchen zurück nach Paris vor sich. Diese Etappe führte durch Nempons Heimatstadt Calais. Auf den Straßen rund um Calais wurde ihm ein gewaltiger Empfang bereitet, und Henri Desgrange persönlich begleitete ihn durch diese Etappe.12 Historiker berichten, dass er ihm vom offiziellen Auto des Rennleiters aus fast den ganzen Weg von Dünkirchen zum Parc des Princes applaudierte. Es war in vieler Hinsicht ein Triumph.

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