Kitabı oku: «Rauhnacht»

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Max Pechmann

Rauhnacht

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog: 25. Dezember 1981

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Impressum neobooks

Prolog: 25. Dezember 1981

Tim Bardin öffnete die Augen. Die Leuchtziffern des Radioweckers zeigten wenige Minuten vor Vier. Der Wind heulte um das Haus. Das war es jedoch nicht, was ihn aus seinem Schlaf gerissen hatte. Ein anderes Geräusch drang an seine Ohren, ein Geräusch, das es um diese Uhrzeit überhaupt nicht geben durfte. Anna lag neben ihm und atmete gleichmäßig. In dem hereinfallenden Mondlicht wirkte seine Frau wie eine Figur aus Alabaster. Er hatte ihre Schönheit schon immer bewundert. Und seit ihrer Hochzeit vor sieben Jahren hatte sie davon kein bisschen eingebüßt.

Er rüttelte sie sanft an der Schulter.

Anna murmelte irgendetwas und drehte sich um.

„Anna“, sagte er. Seine Stimme klang um diese frühe Stunde überraschend laut.

Endlich wachte sie auf. „Was ist?“

„Draußen ist etwas.“

Anna drehte sich auf den Rücken und schaute ihn skeptisch an. „Es ist mitten in der Nacht. Was soll draußen schon sein?“

Tim warf die Bettdecke zurück und stand auf. „Das Läuten. Jemand läutet die Friedhofsglocke.“

Anna schaute auf die Anzeige des Radioweckers. „Es ist nicht einmal vier Uhr früh.“

Tim schlich ans Fenster. „Wir sollten die Kinder wecken.“

„Bist du jetzt völlig verrückt?“

Er blieb ihr die Antwort schuldig. Vorsichtig bewegte er den Vorhang einen Spalt zur Seite. Das weiße Mondlicht erhellte die Winterlandschaft wie eine Filmkulisse. Der Schnee bedeckte einfach alles. Die Straße, die zwischen seinem Haus und dem gegenüberliegenden Friedhof verlief, schlängelte sich einsam bis zum Ortseingang. Von den Bewohnern des Ortes schien bisher noch niemand den Klang der Totenglocke wahrgenommen zu haben.

Die dunklen Konturen des Friedhofs wirkten wie das Negativ einer bizarren Fotographie. Sein Augenmerk richtete sich auf die windschiefe Kapelle. Er konnte nicht erkennen, ob sich die Glocke in dem schmalen Turm bewegte, aber das Läuten musste dort seinen Ursprung haben.

„Siehst du etwas?“, fragte Anna.

Steinfiguren, Grabsteine und steinerne Kreuze warfen längliche Schatten auf dem glitzernden Schnee. Nichts regte sich. Aber aus welchem Grund ertönte die Glocke?

„Nichts.“

„Dann ist es bloß der Wind“, versuchte Anna, ihn zu beruhigen. Ihre Besonnenheit hatte schon immer im vollen Gegensatz zu seinen eigenen Charaktereigenschaften gestanden. Tim war derjenige, der leicht außer sich geriet. Auch dieses Mal hatte Anna wohl Recht.

Er wollte soeben den Vorhang zuziehen, als er auf der Friedhofsmauer einen seltsamen Schatten wahrnahm.

Eine Steinfigur, die er übersehen hatte?

Die Konturen besaßen Ähnlichkeiten mit einer Eule, die auf der Mauer hockte. Die Schwärze des Umhangs absorbierte das Mondlicht. An eine solche Figur konnte sich Tim beim besten Willen nicht erinnern. Vielleicht hatte Gustav, der Friedhofswärter, eine neue Statue aufgestellt. Möglich wäre es.

Sein Blick blieb an dem eigenartigen Ding haften. Irgendetwas stimmte daran nicht.

Plötzlich wusste er auch, warum.

Die Figur bewegte sich. Zuerst erzitterte der schwarze Umhang, so als erwecke eine kräftige Windböe ihn zum Leben. Dann richtete sich die Gestalt unerwartet auf. Die Kapuze rutschte von ihrem Kopf.

Tim öffnete seinen Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Das Blut in seinen Adern gefror zu Eis. Das bleiche Mondlicht beschien einen runzeligen Kopf, von dessen Schädel wirres, graues Haar abstand. Das Gesicht glich einer Fratze, deren verstörendes Aussehen durch eine Hakennase und spitze Zähne, die zwischen den Lippen herausragten, verstärkt wurden. Grünlich schimmernde Augen starrten direkt zu ihm empor.

„Anna“, hauchte Tim.

Seine Frau stand endlich auf. Sie trat zu ihm ans Fenster. Kaum hatte sie das grässliche Wesen bemerkt, taumelte sie entsetzt zurück.

„Eine Lamia“, flüsterte Tim. „Hast du dich nicht an den Brauch gehalten?“

Anna funkelte ihn zornig an. „Natürlich habe ich das! Das Essen steht unten auf dem Küchentisch.“

Als er wieder aus dem Fenster schaute, packte ihn das schiere Grauen. Nun waren es zwei dieser Kreaturen. „Die Kinder! Wir müssen die Kinder in Sicherheit bringen!“

Er lief zur Kommode und öffnete die oberste Schublade. Anna verwahrte darin ihre Halstücher. Er hob ihr Lieblingstuch an. Darunter erschien der Lauf eines Revolvers. Schnell nahm er die Waffe und suchte zugleich nach der Schachtel, in welcher er die Silberpatronen aufbewahrte. Als er sie gefunden hatte, lud er damit den Revolver und steckte sich eine weitere Handvoll in die Hosentasche seines Pyjamas.

Eine Fensterscheibe klirrte.

Anna schrie auf und stürzte aus dem Zimmer. Tim folgte ihr, wobei er den Revolver entsicherte.

Das Zimmer, in dem Lisa und Thomas schliefen, lag am anderen Ende des Flurs.

Anna riss die Tür auf.

Ein eisiger Windhauch wehte ihr entgegen.

Thomas, ihr zweijähriger Sohn, kreischte, dass es in den Ohren schmerzte. Irgendetwas wirbelte auf sie zu. Ein kräftiger Schlag traf sie ins Gesicht. Sie stolperte zurück.

Tim kam sich vor wie in einem krankhaften Albtraum. Eines der Wesen, das zuvor noch an der Friedhofsmauer gelauert hatte, packte Thomas und zerrte ihn aus dem Bett.

Ein plötzlicher Gedanke hinderte ihn daran, etwas zu unternehmen.

Wo war Lisa?

Er konnte sie nirgendwo sehen. Stattdessen erblickte er die zweite Lamia. Sie ließ von seiner Frau ab und stürzte mit wehendem Gewand auf ihn zu. Reflexartig hob er den Revolver und schoss.

Die Kugel zerschmetterte ihren Schädel.

Sogleich zielte Tim auf die andere Hexe. Mit einem gackernden Kichern hielt sie ihm seinen Sohn entgegen. Thomas wimmerte. Auf einmal packte das Unwesen den kleinen Kopf und biss gierig in den Hals. Ein Knacken ertönte, als würde jemand einen Ast entzweibrechen. Thomas fiel wie eine Marionette aus ihren Händen.

Tim brüllte wie ein wild gewordener Stier. Er betätigte den Abzug und schoss die ganze Trommel leer. Bei jedem Treffer stolperte die Lamia weiter zurück. Der letzte Schuss schleuderte sie aus dem Fenster.

Tim eilte zu seinem Sohn. Um Gotteswillen!

Er schaute sich im Zimmer um. „Lisa?“

Keine Antwort.

Anna lag benommen am Boden. Blut rann aus ihrer Nase.

„Lisa? Wo bist du?“

Statt eines Lebenszeichens von ihr, vernahm Tim das gackernde Kichern weiterer Hexen. Es erinnerte an das unrhythmische Klappern von Kastagnetten. Der Boden knarrzte, als sich drei Lamien durch die Tür ins Zimmer schlichen. Zwei weitere hingen wie Fledermäuse vor dem Fenster.

Er wich zurück.

Mit zitternden Händen griff er in seine Hosentasche und holte eine Handvoll Silberpatronen heraus.

Die Albtraumwesen beobachteten ihn dabei. Ihr höhnisches Grinsen verhieß nichts Gutes.

Tim schwitzte, obwohl der eisige Wind durch das zersprungene Fenster blies. Er lud den Revolver. In seiner Aufregung fielen ihm zwei Patronen aus der Hand.

Das Gackern der Lamien wurde lauter.

Er wusste, dass sie nur die Vorhut waren von dem, was noch kommen würde.

Seine Frau kam langsam wieder zu sich.

„Bleib wo du bist, Anna!“

Ihre Bewegung lockte die Aufmerksamkeit der Lamien auf sich. Sie durften ihr nichts tun! Wo war Lisa, verflucht?

Nur vier Kugeln steckten in dem Revolver. Er hatte keine Zeit mehr, nach den anderen beiden zu suchen. Er musste seine Frau und seine Tochter vor diesen schrecklichen Kreaturen in Sicherheit bringen.

„Bleib ganz ruhig, Anna!“

Doch seine Frau hörte nicht auf ihn. Sie erhob sich unsicher. Als sie die Lamia, die sich ihr näherte, wahrnahm, zuckte sie schockiert zusammen.

Nicht!“, schrie Tim.

Doch es war zu spät. Die Hexe stürzte sich auf sie.

Tim feuerte aus seinem Revolver.

Zugleich lösten sich die übrigen Kreaturen aus ihrer abwartenden Starre.

Ein heller Schrei drang unter dem Bett hervor.

„Lisa!“

Und dann brach die Hölle los.

1

Ein schrilles Pfeifen hallte durch den Tunnel. Kurz darauf preschte der Zug aus der Dunkelheit in eine schneebedeckte Berglandschaft. Mehrere Krähen flatterten aufgeschreckt davon.

Titus beobachtete ihre Flucht über die dunklen Tannen hinauf in den graublauen Himmel. Die Wolken hingen tief. Er konnte nur hoffen, dass er sein Ziel noch erreichte, bevor es wieder schneite. Sein Freund hatte ihn bereits davor gewarnt, dass der Zug in den letzten beiden Dezemberwochen öfters im Schnee stecken blieb und die Passagiere dann keine andere Möglichkeit hatten, als in den Wagons auszuharren. Manchmal dauerte es nur wenige Stunden, manchmal eine ganze Nacht, bis die Schienen wieder frei waren und der Zug weiterfahren konnte.

Titus lehnte sich zurück und blickte auf seinen aufgeschlagenen Notizblock. Außer einem sinnlosen Gekritzel hatte er nichts zustande gebracht. Er hatte gehofft, die Zugfahrt dazu nutzen zu können, um ein paar Ideen aufzuschreiben, aber diese Hoffnung hatte sich inzwischen in Luft aufgelöst.

Das schrille Pfeifen kehrte wieder. Die Winterlandschaft wich einer weiteren Schwärze, als der Zug einen anderen Tunnel durchquerte.

Nächster Halt Tiefenfall.“

Außer ihm gab es nur drei andere Fahrgäste. Keiner reagierte auf die Durchsage. Titus war wohl oder übel der einzige, der in Tiefenfall ausstieg.

Bis vor kurzem hatte er überhaupt nicht gewusst, dass es einen Ort dieses Namens gab. Doch dann hatte ihn sein Freund Gregor Kranz angerufen und gemeint, ob er über Weihnachten und Neujahr nicht zu ihm kommen wolle. „Der Ort liegt mitten in den Alpen, es gibt keine lästigen Touristen und ein Tapetenwechsel wird dir sicherlich gut tun.“

Gregor hielt sich seit zwei Monaten in Tiefenfall auf. Er war Professor für Volkskunde und, wie er behauptete, auf die Spur eines seltsamen Brauchs gekommen, den es anscheinend nur in Tiefenfall gab. Um seine Forschungen ungestört betreiben zu können, hatte er sich das Wintersemester über frei genommen. Er hatte ein Haus gemietet. „So ziemlich alle Zimmer stehen dir zur Verfügung. Such dir das aus, wo du am besten schreiben kannst.“

Für einen Schriftsteller gab es nichts Schlimmeres als eine Schreibblockade. Brachte man keine Sätze mehr zusammen, begannen irgendwann unweigerlich die Depressionen. Darauf folgten der Alkohol und schließlich die Schrotflinte. Titus hatte die vorletzte Stufe bereits erreicht. Und alles nur, weil er sich abhängig von einer Muse gemacht hatte. Seitdem sie ihn grundlos verlassen hatte, hatte er kein Wort mehr auf Papier gebracht.

Gregor hatte gemeint, die Berglandschaft hätte bereits viele Künstler und Dichter inspiriert. Vielleicht war es so. Titus kannte jedenfalls keinen. Vielleicht aber verhalf ihm die neue Umgebung wenigstens zu einer neuen Idee. Daher hatte er zugesagt. Und aus demselben Grund klappte er nun sein Notizbuch zu und steckte es zurück in seine Laptoptasche. Als er aus dem Fenster blickte, sah er bereits den Bahnsteig von Tiefenfall auf sich zukommen.

2

Der Zug hielt an dem Mittelbahnsteig, der wie eine eckige Betoninsel aus dem Schienenbett ragte. Das Namensschild, an dem das zweite L des Ortsnamens fehlte, klapperte im Wind. Auf dem Dach des Bahnsteigs türmte sich eine riesige Menge Schnee.

Das Licht der mit Fliegendreck verklebten Neonröhren vermischte sich mit der noch verbliebenen Helligkeit des Nachmittags.

Titus hatte Gregor seit fast drei Jahren nicht mehr gesehen. Für Treffen hatte einfach die Zeit gefehlt. Entweder war Gregor zu sehr beschäftigt oder Titus hatte mit einem Abgabetermin gehadert.

Gregor erwartete ihn mit einem breiten Grinsen. Er trug einen hässlich violetten Anorak. Sein Kopf bedeckte eine rote Wollmütze. Auf seiner Nase saß eine große, runde Brille. „Titus!“

Beide schüttelten sich die Hände.

„Meine Güte, Titus, du weißt gar nicht, wie schön es ist, dich endlich wieder zu sehen.“

„Du hättest sagen sollen, dass wir uns hier im Nirgendwo befinden.“

Gregor lachte auf. „Ganz der Alte, Titus. Ständig am Nörgeln. Genau das hat mir die ganzen Jahre über gefehlt.“

„Tja, auf jeden Fall gleicht es schon fast einem Wunder, dass wir uns überhaupt wieder treffen.“

Gregor stieß ihn gegen die Schulter. „Du sagst es, Titus. Und genau aus diesem Grund sollten wir feiern. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe eine Haushälterin. Sie kocht gerade das Abendessen.“

„Ich meine, bevor wir hier festfrieren, sollten wir sie aufsuchen.“

Gregor kicherte. „Deine trockene Art ist unübertrefflich, Titus. Meine Güte, es gibt so viel zu erzählen. Also, worauf warten wir noch? Nimm deinen Koffer und ab geht die Post.“

Der Zug, der etwa eine halbe Minute an dem Bahnsteig gehalten hatte, fuhr mit einem quietschenden Ruck wieder los. Das Stampfen des Triebwagens entfernte sich rasch. Nach wenigen Augenblicken verglühten auch die roten Rücklampen des letzten Wagons in der diesigen Ferne. Die ersten Schneeflocken fielen. Erst jetzt nahm Titus die schneidende Luft wahr. Er zog seinen braunen Schal fester, hob seinen Koffer an und folgte Gregor über den hölzernen Bahnübergang zu dem verlassenen Bahnhofsgebäude, dessen kaputte Fenster mit Pressspanplatten zugenagelt waren.

„Der wird schon seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt“, erklärte Gregor. „Wie ich dir schon sagte, Touristen gibt es hier nicht. Ein Kommen und Gehen suchst du hier vergeblich. Die Leute von Tiefenfall bleiben unter sich. Sie mögen keine Fremden. Das wirst du bald selbst merken.“

„Hinterwäldler“, bemerkte Titus. „Du hättest ganz einfach Hinterwäldler sagen sollen.“

Gregor deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. „Die Sicht eines Großstädters. Aber ich denke, dir wird es hier gefallen. Ich bin sogar davon überzeugt, dass du hier einen neuen Bestseller schaffen wirst.“

Titus Muskeln verkrampften sich bei dem Wort Schreiben. Eine ätzende Säure brannte in seiner Brust. Trotz der Kälte trat Schweiß auf seine Stirn.

Sie umrundeten das düstere Gebäude. Dahinter lag ein Parkplatz, auf dem nur ein einziges Auto stand. Ein schwarzer Geländewagen, auf dem sich das fahle Licht einer Straßenlaterne spiegelte.

„Ich nehme an, der gehört dir.“

Gregor schloss die Fahrertür auf. „Fast. Ich habe ihn gemietet.“

„Gemietet?“

Gregor nahm Titus den Koffer ab und verstaute ihn auf der Rückbank. „Allerdings. Von einer Autowerkstatt. Ich bin wie du mit dem Zug hierher gekommen. Die klassische Art zu reisen, wenn du so willst.“

Titus öffnete die Beifahrertür und stieg ein. „Und seit wann genau bist du in Tiefenfall?“

Gregor setzte sich hinter das Steuer. Nachdem er den Motor angelassen hatte, sagte er: „Seit Mitte Oktober. Ich ging jedes Mal zu Fuß in den Ort. Ein Spaziergang von etwa zehn Minuten. Aber ich dachte mir, ein Auto zu haben ist besser. Für den Notfall.“ Er fuhr los.

„An was für eine Art Notfall dachtest du denn?“

Gregor lenkte den Wagen vom Parkplatz auf eine schmale Straße. Der Schnee knirschte unter den Reifen. „Der Ort ist klein. Für den Fall, dass ich eine Luftveränderung brauche.“

Die Straße führte in einer langen Kurve zum Ortseingang. Im Licht der Straßenlaternen schälten sich alte Fachwerkhäuser aus der zunehmenden Dunkelheit. Mit dem Schnee auf ihren Dächern glichen sie Lebkuchenhäusern mit einer gehörigen Portion Zuckerguss. Aus der Mitte des Ortes ragte ein spitzer Kirchturm in die Höhe. Titus hatte keine Ahnung von Architektur, aber der Turm vermittelte den Eindruck tiefsten Mittelalters.

Die Straße am Ortseingang wirkte verlassen. Gregor lenkte den Wagen bei einer Kreuzung nach links.

Titus riss erstaunt die Augen auf. Die Scheinwerfer erfassten eine Gruppe Männer, die große Baumstämme auf ihren Schultern transportierten. „Was geschieht denn hier?“

Gregor zuckte mit den Schultern. „Die Leute haben vor drei Tagen damit angefangen. Sie tragen diese Stämme ans nördliche Ende von Tiefenfall. Anscheinend errichten sie dort eine Art Palisade.“

„Und sonst haben die keine Probleme?“

Als sie die Gruppe überholten, erkannte Titus skeptische Blicke, die versuchten, die Insassen des Fahrzeugs auszumachen. Die Männer trugen dicke Daunenjacken, manche von ihnen auch dunkle Wollmäntel. Ihren Gesichtern haftete eine Ernsthaftigkeit an, die beinahe ins Sakrale reichte. Titus fühlte sich wie bei der Teilnahme an einer seltsamen Prozession. Das Ganze hatte etwas Unheimliches an sich. Er erkannte, dass die Stämme an beiden Enden zugespitzt waren. Das rindenlose, glatte Holz verlieh ihnen eine gewisse Nacktheit. Titus zählte neun Männer. Jeweils drei von ihnen schleppten einen Stamm.

Als sich Titus wieder nach vorne drehte, fragte er: „Zählt diese Eigenart zu dem geheimnisvollen Brauchtum, das es nur in diesem Ort geben soll?“

Gregor zog seine Mundwinkel auseinander, was wirkte, als immitiere er eine Kröte. „Ich weiß es nicht. Die Leute reden mit mir nicht darüber. Nicht einmal der Pfarrer.“

„Und deine Haushälterin?“

„Die erst recht nicht. Eine abergläubische Frau. Ich will es einmal so ausdrücken. Seit der ersten Dezemberwoche verspüre ich in diesem Ort eine gewisse Unruhe. Das energische Schweigen der Bewohner von Tiefenfall bestärkt mich darin, dass irgendetwas vorgeht.“

„Dass etwas vorgeht, haben wir ja soeben wohl oder übel gesehen.“

Gregor nickte nachdenklich.

Den Rest der Strecke legten sie schweigend zurück.

3

Das Haus, in dem Gregor wohnte, stand etwas außerhalb von Tiefenfall. Es handelte sich um ein Fachwerkhaus aus dem 18. Jahrhundert. Aus dem Schornstein qualmte Rauch, der von dem Wind davon geweht wurde. Das behagliche Aussehen des Gebäudes stand im vollen Gegensatz zu dem gegenüberliegenden Ort. Ein von einer verwachsenen Hecke eingerahmter Friedhof. In der Dämmerung erkannte Titus Steinkreuze und Grabsteine sowie eine alte Kapelle, deren windschiefe Konstruktion die Kälte des beginnenden Abends einzusaugen schien.

Das Tor der Garage, die an das Gebäude angebaut war, öffnete sich automatisch. Gregor fuhr den Wagen hinein und schaltete den Motor aus. „Willkommen daheim.“

Hinter ihnen rollte das Tor wieder herunter. „Hier hast du es auf jeden Fall ruhig.“

Gregor öffnete die Tür. „Du meinst wegen des Friedhofs? Ja, dort drüben macht bestimmt niemand Radau.“

Titus stieg aus und nahm seinen Koffer von der Rückbank. „Ein ganzes Haus nur für dich allein. Hat es die ganze Zeit über leer gestanden?“

„Soweit ich weiß, hat hier seit langem niemand mehr gewohnt.“ Gregor zuckte mit den Achseln. „Kein Wunder. Wie gesagt, in diesen Ort verirrt sich niemand.“

„Und von den Bewohnern des Ortes zog niemand hierher?“

Gregor trat an die Tür, die in das Haus führte. „Willst du in der Garage übernachten? Das Haus stand leer. Es interessiert mich nicht, wer oder ob jemand vor mir hier gelebt hat. Das Gebäude ist hervorragend für meine Arbeit. Wenn du dich mit der Geschichte des Hauses auseinandersetzen willst, dann findest du vielleicht etwas darüber in der Bibliothek.“

„Bibliothek?“

Gregor trat durch die geöffnete Tür in die Diele. „Hier im Erdgeschoss. Eine durchaus ansehnliche Büchersammlung.“

Titus folgte ihm. Er kam in einen weitläufigen Eingangsbereich, in dem eine Holztreppe hinauf in das Obergeschoss führte. Mehrere Türen öffneten sich in angrenzende Zimmer.

An einer der Wände hing ein großes Gemälde. Es zeigte eine düstere Berglandschaft, bedeckt von einem dichten Wald. Im Hintergrund erkannte Titus so etwas wie eine dunkle Gewitterwolke. Erst bei genauerem Hinsehen stellte er fest, dass die Wolke aus einer Unzahl dunkler, schemenhafter Teufelsfratzen bestand. Nicht gerade ein typischer Beitrag zur Landschaftsmalerei.

Es roch nach frisch zubereitetem Essen. Titus’ Magen knurrte. Seit er seine Reise früh am Morgen begonnen hatte, hatte er lediglich ein belegtes Brötchen und einen Becher Kaffee zu sich genommen.

„Ich zeige dir kurz dein Zimmer“, sagte Gregor. „Danach genehmigen wir uns ein großartiges Essen.“ Er geleitete Titus über die Treppe ins Obergeschoss.

Das Zimmer, in dem Titus übernachten sollte, war großräumig und besaß zudem ein eigenes Bad. Titus stellte den Koffer ab und legte seine Laptoptasche auf den Schreibtisch. Eine Glastür ging hinaus auf einen Balkon. Die Möbel entsprachen dem geläufigen Landhausstil.

„Gib es ruhig zu, du hast etwas anderes erwartet“, meinte Gregor.

„Was hätte ich erwarten sollen? Es ist schön hier.“

„Ich lasse dich für einen Moment alleine“, erwiderte Gregor. „Treffen wir uns unten wieder.“

Nachdem sein Freund gegangen war, schaltete Titus das Licht aus und trat ans Fenster. Natürlich. Es zeigte in Richtung Friedhof. Von hier aus sah er einzelne Grabkerzen leuchten. Er ließ seinen Blick durch die Ferne schweifen. Tiefenfall lag in einem Tal. Die hohen, zerklüfteten Berge umgaben den Ort wie die Mauern einer gewaltigen Festung. Das restliche Licht des Tages zeichnete sich als orangerote Flecken auf ihren Spitzen ab. Titus benutzte die Toilette und wusch sich Hände.und Gesicht. Er fühlte sich schwer wie Blei. Er war das Reisen nicht gewöhnt. Aus dem Erdgeschoss hörte er Gregor mit einer Frau sprechen. Wohl oder übel handelte es sich dabei um seine abergläubische Haushälterin. Titus blieb noch einen Moment in dem Zimmer stehen, bevor er hinaus in den Flur trat und im Erdgeschoss nach dem Esszimmer suchte.

„Da bist du ja schon!“, rief Gregor ihm zu. Er stand vor einem großen Kamin und schürte das Feuer. Funken stoben empor.

Die Mitte des Raumes nahm ein ovaler Tisch ein, der für zwei Personen gedeckt war. Es gab eine weiße Porzellanschüssel mit Suppe und einen Teller, auf dem ein dampfender Rinderbraten Titus’ Appetit anregte. Dazu gab es Kartoffeln und Rotkraut.

Gregor zeigte auf die Speisen. „Lisa hat bereits alles vorbereitet.“

„Lisa?“

„Meine Haushälterin.“

„Ist sie noch in der Küche?“

„Sie ist soeben nach Hause“, erklärte Gregor und trat an den Tisch. „Seit gestern will sie nicht länger als bis kurz nach Sonnenuntergang bleiben. Frag mich nicht, aus welchem Grund.“

„Hängt wahrscheinlich mit ihrem Aberglauben zusammen“, bot Titus eine Erklärung an.

„Da kannst du Recht haben. Aber was soll’s. Setz dich lieber. So wie du aussiehst, kannst du sicherlich eine Menge vertragen.“

Titus nahm sich von der Suppe. „Das kannst du laut sagen. Ich habe einen Bärenhunger.“

Gregor lächelte. „Das hört sich schon einmal gut an. Vielleicht vertreibt das Essen ja deine trüben Gedanken.“

Titus stockte in seiner Bewegung. „Merkt man mir das so sehr an?“

„Anmerken? Man braucht nicht einmal Licht dazu. Hör einmal auf deinen ältesten und besten Freund. Deine Muse war nicht die einzige Frau auf diesem Planeten.“

„Das sagt einer, der seit Jahren mit seiner Mutter zusammen lebt und noch nie eine Freundin gehabt hat.“

Gregor schmunzelte. „Oh, da kennst du nur die halbe Wahrheit.“

„Halbe Wahrheit? Sollte innerhalb der Zeit, in der wir uns nicht gesehen haben, ein Wunder geschehen sein?“

Gregor lachte auf. „Wunder? Nicht wirklich. Eine meiner Studentinnen, Titus. Sie ist jetzt meine Assistentin.“

Titus probierte die Suppe. Gut war kein Ausdruck. Sie schmeckte göttlich. Eine Kürbissuppe wie sie nicht besser hätte sein können. „Ich kann mir denken, aus welchem Grund.“

„Jetzt wirst du geschmacklos, Titus. Sie hat das Zeug zu einer hervorragenden Wissenschaftlerin.“

„Und ist zufällig auch gut im Bett.“

Gregor rückte verlegen seine Brille zurecht. „Ihre Brüste, Titus …“

„Jetzt fängst du damit an. Und wieso ist sie nicht mit hierher gekommen?“

„Sie kommt morgen.“

Titus schaute von seiner Suppe auf. „Ich dachte, ich sei dein einziger Gast.“

„In Ordnung, ich hätte es dir schon früher sagen sollen. In deiner Lage war es sicher unfein. Aber ich brauche sie hier bei mir.“

„Als Betthäschen oder als intellektuelle Unterstützung?“

„Es gibt zu viele Dinge zu untersuchen. Alleine werde ich nicht damit fertig.“

Titus löffelte seinen Teller aus. „Ich brauche Ruhe. Eine fremde Person …“

Gregor seufzte. „Streiten wir nicht, Titus. Sie kommt morgen und damit basta. Sie wird dich nicht stören. Theresa ist ein äußerst sanftmütiger Mensch.“

„Theresa heißt die Gute?“

„Theresa Chambers.“

„Engländerin?“

„Sie kommt aus den USA. Spricht aber hervorragend deutsch.“

Titus stellte den Suppenteller zur Seite. „Ich werde mir Mühe geben.“

„Mühe? Bei was?“

„Freundlich zu sein. Und jetzt schneide mir etwas von dem Braten ab. Am besten gleich zwei Scheiben. Lisa kocht hervorragend.“

Nach dem Essen holte Gregor die Kanne Kaffee, die auf der Kommode gestanden hatte. „Die gute Fee hat an alles gedacht. Setzen wir uns damit vor den Kamin. Du schaust übrigens müde aus.“

Titus unterdrückte ein Gähnen. „Die Fahrt war nicht gerade kurz.“ Er setzte sich in einen der beiden Lehnstühle, die Gregor vor den Kamin gerückt hatte.

Gregor legte Holz nach, bevor er in dem anderen Stuhl Platz nahm. Er betrachtete gedankenverloren die tanzenden Flammen. Schließlich richtete er seine Augen auf Titus. „Über sie hast du mir so gut wie gar nichts erzählt.“

Titus verkrampfte sich. Er beobachtete die Spiegelung der Flammen auf der Kaffeeoberfläche, während er sagte: „Was soll ich dir über sie erzählen? Sie inspirierte mich. In dem Zeitraum, in dem wir zusammen waren, schrieb ich zwei meiner besten Romane. Seit sie weg ist, bringe ich absolut nichts mehr zustande.“

„Sie ist einfach auf und davon?“

Titus nickte. „Ohne Grund. Ich wachte eines Morgens auf und sie war nicht mehr da. Keine Nachricht, kein Anruf, keine Email.“

„Eindeutig ein billiges Flittchen, das sich von seinen Liebhabern aushalten lässt.“

„Du musst es ja wissen.“

Gregor schenkte sich Kaffee nach. „So hört sich das für mich an. Du solltest ihr nicht nachtrauern.“

„Elvira Mohn war wie eine Droge.“

Gregor horchte auf. „Sagtest du soeben Mohn?“

„Ihr Nachname. Wieso?“

Sein Freund runzelte die Stirn. „Nur so. Ich kenne einen Wissenschaftler mit diesem Namen. Er ist … Wir sind das, was man schlechthin als Rivalen bezeichnet. Er zieht meine Artikel durch den Dreck und ich seine. Mohn versucht alles, um dahinter zu kommen, an was ich gerade forsche.“

Titus zuckte mit den Achseln. „Und wenn schon. Was hat er davon, wenn er es herausfindet?“

Gregor hob seinen Zeigefinger. „Eine ganze Menge, Titus. Er würde versuchen, mir Konkurrenz zu machen, indem er schnell irgendwelche Artikel über meine Forschungen veröffentlicht. Damit würde er meine Arbeit zunichte machen. Um es auf den Punkt zu bringen, er ist das, was man gemeinhin als Arschloch bezeichnet.“

„Und was ist so besonders an deiner derzeitigen Forschung? Ich meine, außer Männer dabei zu beobachten, wie sie Holzstämme durch den Ort schleppen.“

Gregor zog seine Mundwinkel auseinander und runzelte die Stirn. „Ich bin in einem alten Dokument auf eine sonderbare Spur gestoßen. Es handelt sich dabei um den Brief eines Gelehrten namens Theophilus Gotthelf aus dem 18. Jahrhundert. Auf seinen ausgedehnten Reisen durch Europa kam er eines Tages nach Tiefenfall. In seinem Brief erwähnt er eine rätselhafte Tradition, die im Zusammenhang mit etwas steht, dass im Volksmund als Wilde Jagd bekannt ist.“

Titus reichte ihm seine leere Tasse, damit Gregor sie nachfüllte. „So, so. Auch wenn dieser Begriff im Volksmund so heißt, habe ich trotzdem keine Ahnung, was es damit auf sich hat.“

Gregor griff nach der Kanne, die neben ihm auf einem Rauchertischchen stand. Während er nachschenkte, erklärte er: „Die Wilde Jagd ist reiner Aberglaube. Es soll sich dabei um ein Heer aus Monstern, Dämonen und Untoten handeln, die zwischen Weihnachten und Neujahr die Nächte unsicher machen. Diese Vorstellung ist in den Alpen nicht gerade unbekannt. Aber hier in Tiefenfall scheint sie eine ganz andere Dimension angenommen zu haben.“

„Das alles erwähnte er in dem Brief?“

„Er erwähnte eigentlich nur, dass er das Haus des Pfarrers besucht habe. Dieser besaß eine eigene Waffenkammer, die voll gestellt war mit Musketen, Schwertern, Sprengstoff und weiß der Teufel was noch. Gotthelf erstaunte diese Ansammlung von Waffen bei einem Pfarrer natürlich. Daher wollte er wissen, was das zu bedeuten habe. Der Pfarrer zögerte ein wenig. Er gab schließlich preis, dass Tiefenfall gelegentlich heimgesucht werde. Auf die Frage, wer oder was diesen Ort heimsuche, antwortete der Pfarrer lakonisch: ‚Die Wilde Jagd’.“

Titus nippte an seiner Tasse. „Ich nehme an, dieser Theophilus Gotthelf hielt den Pfarrer für unzurechnungsfähig?“

„Das weiß ich nicht. Mehr hat der gute Mann nicht notiert. Es gibt nur diese eine Stelle in seinen unzähligen Briefen. Keine ähnlichen Bemerkungen in seinen Tagebüchern. Nichts. Verwunderlich, nicht wahr?“

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